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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

des Packhauses auf die Straße hinausschlüpfte. Es war keine Menschenseele im Hof; auch Blanka Lenz hatte den offenen Gang wieder verlassen. Und draußen war es auch menschenleer; die Leute saßen noch nicht vor den Hausthüren, dazu war der Abend noch nicht weit genug vorgeschritten; nur ein paar kleine barfüßige Jungen ließen auf dem Kanal, der schmalen, seichten Wasserader, welche die Straße in der Mitte durchschnitt, Papierschiffchen schwimmen. „Die haben’s gut!“ dachte die Kleine und marschirte über das Brückchen in die benachbarte Gasse; dann kam man zu einem Durchbruch der Stadtmauer, und von da lief ein Fußweg durch die Felder und eine niedere Anhöhe hinauf nach Dambach. Er machte zwar einen ziemlich weiten Bogen und war einsam; aber sie kannte ihn und schlug ihn auch jetzt ein – über der belebteren Chaussee wirbelten ja bei jedem Windhauch erstickende Staubwolken, die sie heute Nachmittag beim Hereinfahren wie mit Mehl überpudert hatten ...

Ach ja, heute Nachmittag, da war noch Alles gut gewesen! Sie hätte aufschreien mögen vor Lust, als die Böcke mit ihr aus dem Dambacher Hofthor gestürmt waren, der Großpapa hatte gelacht und Hurrah hinterdrein geschrieen, und die Dorfkinder, ihre getreuen Spielkameraden, waren ein Stück mitgelaufen und die Jungen hatten untereinander gesagt: „Sapperlot, die kann’s aber!“ ... Nun kam sie wieder, um sich beim Großpapa zu verkriechen. Ach, wenn er sie doch ganz und gar draußen behielte! Sie wäre ja um Alles gern in die Dorfschule gegangen ... Dahinaus kam auch die Großmama niemals – sie sagte immer, sie könne den Fabriklärm nicht vertragen, und darauf meinte der Großpapa allemal lachend; und er bliebe draußen, weil er ihren Papagei nicht schreien hören könne.

Während dieses Durcheinander in dem aufgeregten Hirn des Kindes kreiste, trabten die kleinen Füße im schleunigsten Tempo vorwärts. Ein langes Stück Weges ging es durch wogende Getreidefelder, und da wurde es dem kleinen Mädchen doch ein wenig beklommen zu Muthe – seit sie mit Tante Sophie zum letzten Mal hier gegangen, waren die grünen, jetzt schon zu mattem Gelb bleichenden Wände auf beiden Wegseiten so himmelhoch gewachsen. Nur immer eine kurze Strecke der vielfach gewundenen Pfadlinie vor sich, war das winzige Menschenkind gleichsam eingeschachtelt im Kornfelde, und der Käfer, der seine blauglänzenden Flügel ausspannte und leise surrend aufflog, die buntglockige Winde, die sich an den Halmen emporhalf, um droben Umschau zu halten, sie hatten es besser ... Und zu Häupten des Kindes wisperte es; ein seidiges Rieseln wie wenn schleifendes Gewand ganz leise daherkäme, machte es bänglich in die Höhe blicken; aber „Bange machen gilt nicht, und es geht Alles in der Welt mit natürlichen Dingen zu!“ sagte Tante Sophie immer, und drum konnte es auch kein mit leisen Sohlen aus der wogenden Halmfläche einherwandelndes Wesen sein – es war nur der Abendwind, der drüber hinging und die nickenden Aehren aneinander rieb.

Und nun hörte ja auch die enge Gasse endlich auf; der Weg ging über Kartoffel- und Rübenäcker, dann über zertretenen Graswuchs die Anhöhe hinauf, die ein Laubwäldchen, das sogenannte Dambacher Hölzchen, krönte: dahinter lag das Dorf. Wohl war es noch hell genug, daß das Kind die großen Erdbeerbüsche mit ihren weißen Blüthensternen und glührothen Früchten zwischen den Stämmen am Waldsaum sehen konnte; aber diesmal gab es weder Zeit noch Lust zum Pflücken und Naschen; in athemlosem Lauf war es bergauf gegangen – das kleine Herz hämmerte in der Brust, und der Kopf glühte und war so seltsam schwer, als sei Blei in Stirn und Schläfen ... Nun, in Großpapas Stube war es kühl; da stand das große Sofa mit den weichen Federkissen, auf welchem er stets sein Nachmittagsschläfchen hielt, und da ruhte auch das Kind immer, wenn es sich müde gelaufen hatte. Nur noch das Siückchen Weg hinter dem Dorfe – dann war ja Alles gut! –

Der weite Fabrikhof lag schweigend und menschenleer da, die Arbeiter hatten längst Feierabend gemacht, und durch den anstoßenden Garten mit seinen schönen Anlagen und dem schmucken, klaren Teich, in welchem sich der Pavillon spiegelte, ging auch kein anderes Leben, als das leise Rauschen der mächtigen Baumwipfel, unter denen es bereits stark dämmerte. Nicht einmal Friedel, Großpapas Hühnerhund, bellte und kam auf das Kind zugesprungen – die Schwelle, auf welcher er immer faullenzte, war leer, die Thüre war auch zu, ja, sie erwies sich sogar als fest verschlossen, und auf ein mehrmaliges Klingeln rührte und regte sich nichts drinnen.

In rathlosem Schrecken stand die Kleine vor dem stillen Hause – der Großpapa war gar nicht da! das wäre ihr doch nie und nimmer eingefallen – es war ja so selbstverständlich gewesen, daß er zu Hause sein mußte, wenn sie kam ... Sie umging das Haus von allen Seiten; hätte eines der Fenster in der niederen Erdgeschoßwohnung offen gestanden, sie wäre, was sie schon oft im Uebermuth gethan, hinaufgeklettert und über die Brüstung ins Innere gesprungen, allein vor allen Scheiben lagen die Rollläden – da war nichts zu machen.

Das Weinen war ihr nahe, aber noch verschluckte sie tapfer die Thränen. Der Großpapa war wohl nur zum Faktor gegangen, und der wohnte ja gleich da drüben in der Fabrik. Aber im Hofe sagte ihr eine junge Stallmagd, Faktors seien mit der zurückkehrenden „Herrschaftskutsche“ nach der Stadt zu einem Polterabend gefahren; den Herrn Amtsrath aber habe sie schon vor einigen Stunden fortreiten sehen, es sei heute Kegelkränzchen beim Oberamtmann in Hermsleben – das war ein ziemlich entfernt gelegenes Gut.

Lieber Gott im Himmel – was sollte nun solch ein armes, weithergelaufenes Kind anfangen! – In der ersten Verzweiflung lief die Kleine wieder vor das Hofthor, während die Magd in den Stall zurückkehrte. Aber schon nach wenigen Schritten wurde Halt gemacht – nach Hermsleben konnte man doch unmöglich laufen, das war ja viel, viel zu weit! Nein, das ging absolut nicht, da war es besser, auf den Großpapa zu warten – er kam vielleicht bald wieder!

Damit lief das kleine Mädchen nach dem Pavillon zurück und setzte sich geduldig auf die Schwelle der Hausthür. Das that den müdegelaufenen Beinchen gut, und auch die tiefe Ruhe und Stille ringsum war eine Wohlthat nach dem aufregenden Marsch. Wenn nur das dumme Hämmern in Stirn und Schläfen nicht gewesen wäre, aber jetzt, wo sie sich in die Thürecke schmiegte, machte es sich doppelt fühlbar ... Und nun gingen auch noch allerhand beängstigende Vorstellungen durch den schmerzenden Kopf. Zu Hause war die Zeit des Abendessens längst vorüber, und sie hatte bei Tische gefehlt. Man suchte ganz gewiß überall nach ihr, und bei dem Gedanken, daß sich Tante Sophie um sie ängstigen könne, that ihr das kleine Herz bitter weh. Aber wenn es nur um Gotteswillen Niemand einfiel, sie hier in Dambach zu suchen, ehe der Großpapa zurück war! Ganz entsetzt fuhr sie empor, und ihre Augen forschten nach einem Versteck, in welchem sie sich nöthigenfalls verkriechen konnte. Denn nun, wo sie heimlich davongelaufen war, blieb gar kein Zweifel, daß man sie gleich morgen fortbrachte – dafür sorgte schon die Großmama, diese unerbittliche Großmama, die so ungerecht sein konnte. Wenn Holdchen täppischer Weise hinfiel, dann wurde „das wilde Mädchen“ ausgezankt, weinte er aus Eigensinn so hatte ihn gewiß „das ungezogene Ding, die Grete“ gereizt – daß doch solch eine Großmutter niemals wußte, wie lieb man sein Brüderchen hatte und Alles, ja den Bissen vom Munde, ach wie gern, hingab, nur damit es lachen und fröhlich sein sollte! .... Ach ja, die in der oberen Etage, sie waren Alle nicht gut gegen die Grete! Und fast noch schlimmer als die Großmama war dieser Mosje Herbert, den sie durchaus Onkel nennen sollte – ein schöner Onkel, der keinen Bart hatte und noch gerade so, wie sie auch, über den Schularbeiten schwitzen mußte! Ihr fehle die Ruthe, hatte er heute Nachmittag gesagt, und die Finger, die er ihr vor Aerger beinahe zerdrückt hatte, thaten noch weh ... Wie der sich freuen würde, wenn sie die Grete morgen wirklich in den Wagen zerrten und ohne Gnade in „den Vogelbauer“ schleppten! Aber das geschah ja nicht – Gott behüte! Sie wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, sie wollte schreien, daß die Leute auf dem Markte zusammenliefen! ... Ach, wenn doch nur endlich der Großpapa käme! –

Aber es blieb todtenstill im Garten; auch drüben auf der Chaussee hatte das vereinzelte Rollen und Aechzen der Wagenräder aufgehört. Das Schweigen der Nacht begann, wenn sie auch selbst noch zögerte, zu kommen. Es war ja ein goldener Tag heute gewesen, und wie noch der heiße Sonnenathem schwer über der Erde brütete, so schien sich auch ein Rest der funkelnden Tagesglorie in den Lüften festzuhalten und nicht erlöschen zu wollen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_058.jpg&oldid=- (Version vom 7.5.2022)