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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Die Schlaguhr auf dem Thürmchen des Fabrikgebäudes schnurrte Viertelstunde auf Viertelstunde ab. Die neunte Stunde war schon vorüber, und nun war wohl das Schlimmste überstanden. In der Stadt ging der Großpapa stets um zehn Uhr zu Bette – er hielt es sehr streng mit der Pünktlichkeit und kam gewiß bald nach Dambach zurück … Ach ja, und wenn sie ihn dann von Hermsleben herangaloppiren hörte, da wollte sie ihm entgegenlaufen und neben dem Pferd hertraben; dann sah er doch wenigstens auf „seine wilde Hummel“ herunter, und da konnte ihr Niemand Etwas anhaben – Niemand!

Und es jagte in der That plötzlich ein Reiter daher – aber die Kleine lief nicht nach dem Thore; sie horchte einen Augenblick mit starrem Entsetzen auf das Getrappel der flüchtigen Pferdehufe, dann sprang sie mit einem wilden Satze aus der Thürecke, rannte um den Teich und kroch in das fast undurchdringliche Gebüsch, welches sich zwischen die entgegengesetzte Seite des Teiches und das den Garten vom Fabrikhofe trennende Eisengitter drängte. Der Reiter kam von der Stadt her – es war der Papa, der sie suchte.

Sie wühlte sich tief in den dornigen Busch; das weiße Kleid mit den Heidelbeerflecken erhielt nun auch der Risse genug, und die Füße versanken im Morast; trotzdem kauerte sie auf dem nassen Boden nieder und schmiegte sich so eng zusammen, als wolle sie ihren schmalen Körper auf ein Nichts reduciren. Mit zurückgehaltenem Athem, und die aneinanderschlagenden Zähne fest zusammenbeißend, hörte sie zu, wie der Papa im Hofe mit der aus einem Fenster herabsehenden Magd sprach. Das Mädchen sagte ihm, daß das Kind vor ihren Augen umgekehrt und nach der Stadt zurück sei, sie habe es aus dem Thore fortlaufen sehen.

Trotz dieser Versicherung ritt Herr Lamprecht in den Garten herein. Margarete hörte seitwärts hinter dem Gebüsch das wilde Schnauben Lucifers – der Papa mußte einen scharfen Ritt gemacht haben – dann kam der Reiter in ihren Gesichtskreis. Er umritt den Pavillon und konnte vom Pferde aus den nicht großen Garten mit seinen Rasenplätzen und Gruppen von Ahorn- und Akazienbäumen recht wohl übersehen. – „Grete!“ rief er in alle dunkelnden Ecken hinein. Jedes andere Ohr hätte aus diesem Schrei nichts als die namenlose Vaterangst zu hören vermocht; für die Kleine aber, die regungslos im Gebüsch hockte und mit fast wildem Blick jede Bewegung des Reiters verfolgte, war der Mann dort auf dem Pferde in diesem Moment derselbe, der heute Nachmittag, im dunklen Gange über sie gebeugt, nicht gewußt hatte, ob er sie erwürgen oder zertreten solle. Und jetzt, wo er, ganz nahe, am Teichufer hielt und die Augen hinschweifen ließ über das seichte Gewässer, welches so blank und krystallklar dalag, daß man selbst in der Dämmerung den weißen Sand auf dem Grunde schimmern sah, jetzt, wo ihm diese Augen unter den starken, schwarzen Brauen glühten, wie immer, wenn er „furchtbar böse“ war, überkam das kleine Mädchen ein unbeschreibliches, ein förmlich lähmendes Furchtgefühl – ohne Athem, wie versteinert kauerte es im Gestrüpp, es hätte sich eher mit dem Fuß in das Wasser stoßen lassen, als daß ihm auch nur ein antwortender Laut entschlüpft wäre.

Herr Lamprecht wandte sein Pferd und ritt wieder hinaus. Es mochte wohl der Knecht des Faktors sein, der eben mit schlürfenden Schritten über den Hof herkam und dem Reiter die Gitterthüre öffnete. Herr Lamprecht sprach mit ihm und seine Stimme klang so heiser und matt, als verlechze ihm die Kehle. Er fragte nach dem Ausbleiben seines Schwiegervaters, und der Mann sagte ihm, daß der alte Herr aus dem Kegelkränzchen selten vor zwei Uhr Nachts zurückkäme. Was noch weiter gesprochen wurde, war nicht zu verstehen. Herr Lamprecht ritt über den Hof, zum Thore hinaus und der Mann schien ihn zu begleiten; aber nicht über die Chaussee, durch die Felder wurde der Rückweg nach der Stadt eingeschlagen.

Die kleine Entlaufene war wieder allein. Nun die seelische Erstarrung von ihr wich, wurde sie sich des schmerzhaften Druckes bewußt, den die zusammenstrebenden Zweige auf ihren eingezwängten Körper ausübten. Die Bodennässe drang empfindlich durch die dünnen Zeugstiefelchen, und der Busch wimmelte von Mücken, die ihr das Gesicht und die entblößten Arme blutdürstig umsummten. Mühsam richtete sie sich auf und hob die tiefeingesunkenen Füße aus dem Morast, der ihr schwer an den Sohlen kleben blieb. Jetzt brach sie in ein leises, trostloses Jammern aus – der böse Busch wollte sie nicht wieder fortlassen! Sie sollte dableiben in dem entsetzlichen Moderdunst, den sie durch ihr Eindringen aufgerührt; gefangen wie ein armer, kleiner Spatz in dem harten, zähen Geschlinge der Zweige, sollte sie warten, bis der Großpapa käme! Ach, und er kam ja nicht vor zwei Uhr Nachts! Fünf lange Stunden sollte sie sich wehren gegen die Mückenwolke, die ihr immer näher auf den Leib rückte, so oft sie auch danach schlug! Und Frösche und Kröten gab’s hier auch genug – Reinhold wollte sogar einmal gesehen haben, daß eine lange, bunte Schlange aus dem Busch gekrochen sei – sie schüttelte sich vor Grauen und fühlte es förmlich lebendig werden um und unter ihren Füßen – alle Kraft zusammennehmend, arbeitete sie sich wie toll durch die unheimliche Wildniß, bis die letzten starkstämmigen Ausläufer rauschend und knackend hinter ihr zusammenschlugen.

Es war eine jämmerlich zugerichtete kleine Gestalt, die nach dem Pavillon zurück mehr taumelte als ging. Den Hut hatten ihr schon beim Eindringen die oberen Aeste weggerissen – mochte er hängen bleiben! Auch das total zerfetzte Kleid wurde nicht beachtet; nur die in eine Schlammkruste gehüllten Füße, die bei jedem Schritt über die breite, weiße Sandsteinstufe vor der Hausthür pechschwarze Abdrücke hinterließen, waren ein erschreckender Anblick.

Am Himmel trat ein funkelnder Stern nach dem anderen hervor – die in die Thürecke gedrückte Kleine bemerkte es nicht. Wenn sie die schweren Lider hob, dann sah sie nur, daß das Dunkel drunten den letzten schwachen Schimmer des Teichspiegels verschlang – die Rasenplätze lagen schwarz unter den Bäumen, allerhand vorbeischwirrendes Nachtgesindel machte sich bemerklich, Käuzchen schrieen, und vom Dachboden des Pavillons kamen die räuberischen Fledermäuse. Wie im Traume hörte sie vereinzeltes Hundegebell vom Dorfe her, und die Thurmuhr hatte wieder zwei Viertelstunden angezeigt … Noch viele, viele solcher Viertelstunden mußten von dort oben herunterrasseln, bis es zwei Uhr war – ach, wie schrecklich! – Die Nässe an den Füßen jagte ihr ein Frösteln nach dem andern über den Leib und die an die harte Thürbekleidung gelehnte Stirn glühte und schmerzte heftig … Ach, nur einmal, nur für ein paar Minuten den schweren Kopf in ein weiches Kissen drücken und einen Schluck Wasser aus dem kühlen Hofbrunnen zu Hause trinken dürfen – das mußte wohlthun! Tante Sophie goß immer ein wenig Himbeersaft in das Glas, wenn man über Kopfweh klagte, und für solche Mückenstiche, wie sie jetzt auf den Armen und Wangen brannten, hatte sie eine lindernde Salbe – ach ja, es war gut sein bei Tante Sophie! Ein unbezähmbares Sehnsuchtsgefühl nach der treuen Pflegerin wallte plötzlich in der Kleinen auf.

Sie schloß die Augen wieder und träumte sich in die Schlafstube daheim. Die Fenster gingen auf den stillen Hof, und das Brunnenplätschern klang leise und ununterbrochen herein – es war von jeher das einlullende Wiegenlied der beiden Kinder gewesen. Sie lag im weißen, weichen Bett, und Tante Sophie kühlte ihr das brennende Gesicht und die zerstochenen Arme, bis sie einschlief … Ja, schlafen, heimgehen und schlafen – das war’s! Das war’s, was sie mit einem Ruck emportrieb und durch den Garten und über den Hof hinaus auf den Feldweg taumeln machte! Sie hörte nicht mehr, daß die Uhr schlug, als sie das Hofthor verließ – das ängstliche Zählen der Viertelstunden war vorüber; sie dachte auch nicht an die Wegstrecke, die vor ihr lag, sie sah nur das Ziel, die weite, kühle Schlafstube, in der sie den glühenden Körper mit seinen pochenden Pulsen ausstrecken durfte, sie hörte Tante Sophiens gute Stimme und sah die Hände, die sie auf den Schoß heben und ihr die schwere, nasse Last von den Füßen streifen würden – was dann kam anderen Tages, daran dachte sie auch nicht mehr . .

Und die steifen Beinchen wurden gelenker mit der Bewegung.

In immer wilderem Lauf ging es hinter dem schweigenden Dorfe weg. Dann trat das Wäldchen hervor – eine dunkle Masse, die nicht ahnen ließ, daß sie aus Millionen säuselnder Blätter und Blättchen zusammengewoben sei. Vorbei ging es auch hier in achtloser Hast, und nur einmal prallte die kleine Laufende seitwärts – weißes Gewand schwebte durch das Dickicht. Ach, es waren ja die Birken mit ihren hellen Stämmen, sie standen nur nicht fest, sie waren so sonderbar wackelig, und der kleine Stern, der gleich darauf drüben über dem Thale auftauchte –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_059.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2019)