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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 5.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


6.

In dem tiefen Thorwege des alten Packhauses war es bereits stockdunkel. Herr Lenz tappte vorsichtig mit seiner Last vorwärts und schlug endlich eine Thür linker Hand geräuschvoll zurück. Gleich darauf fiel ein Lichtschein von oben über die dahinterliegende steile Treppe herab.

„Ernst?!“ rief eine Frauenstimme angstvoll fragend herunter.

„Ja, ich bin’s mit Haut und Haar, heil und gesund! Hannchen! Guten Abend auch, liebster Schatz!“

„Nun, Gott sei Lob und Dank, daß Du da bist! Aber liebster, bester Mann, wo hast Du denn gesteckt?“

„Verlaufen hatte ich mich!“ sagte er im langsamen Hinaufsteigen. „Dieser verflixt schöne Thüringer Wald lockt wie ein Irrlicht – immer ein Punkt prächtiger als der andere. Da läuft man weiter und weiter und denkt nicht an den Nachhauseweg. Entsetzlich müde Beine bringe ich heim; aber das Skizzenbuch ist auch voll, Mütterchen.“

Damit tauchte er über dem Treppengeländer auf, und seine Frau, die mit der Lampe in der Hand oben stand, prallte zurück.

„Ja, gelt, was ich da mitbringe, Hannchen? I nun, das habe ich drunten im Thorweg aufgelesen!“ sagte er, auf der obersten Stufe stehenbleibend, mit halb lächelndem, halb besorgtem Gesichtsausdruck. Er versuchte, den Kopf zu wenden und das Kind auf seinem Arme bei Licht zu besehen; allein es hatte die Arme krampfhaft fest um seinen Hals geschlungen, und das Gesichtchen, von dem wirr hereinfallenden Haar fast verdeckt, drückte sich an seine Wange.

Frau Lenz stellte die Lampe schleunigst auf den Vorsaaltisch. „Gieb mir das Kind, Ernst!“ sagte sie mit ängstlicher Hast und reichte nach dem kleinen Mädchen. „Mit Deinen armen, müden Beinen darfst Du keinen Schritt mehr thun – Gretchen aber muß auf der Stelle fort! Man sucht sie seit vielen Stunden. Gott, ist das ein Aufruhr drüben im Vorderhause! Alles rennt durcheinander, und die alte Barbe heult in ihrer Küche, daß es bis zu uns über den Hof herschallt … Komm her, Engelchen!“ lockte sie mit sanfter, zärtlicher Stimme. „Ich trage Dich hinüber!“

„Nein, nein!“ wehrte die Kleine angstvoll ab und klammerte sich noch fester an ihren Träger. Wenn drüben Alles durcheinander rannte, da war auch die Großmama unten, und so wild und wirr es ihr auch durch den schmerzenden Kopf sauste, über den Empfang von Seiten der alten Dame war sie sich doch vollkommen klar. „Nein, nicht hinübertragen!“ wiederholte sie mit fliegendem Athem. „Tante Sophie soll kommen!“

„Auch recht, Herzchen! Dann holen wir die Tante Sophie,“ beschwichtigte Herr Lenz.

„Ganz wie das Kindchen will!“ bestätigte seine Frau, die besorgt auf die heisere, nach Athem ringende Kinderstimme horchte und mit rascher Hand und prüfendem Blick den Haarwust aus dem entstellten


Großmutters Zeitvertreib. 0Nach dem Gemälde von A. Hessl.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 073. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_073.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)