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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

No. 6.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Frau mit den Karfunkelsteinen.

Roman von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Die jüngere Schwester der Frau Amtsräthin war an einen Universitäts-Professor verheiratet, dessen Name einen weithingeltenden Klang hatte. Er war Historiker und Archäolog, und da ihm bedeutende Mittel zur Verfügung standen, so reiste er viel, um für seine wissenschaftlichen Werke aus den Quellen selbst zu schöpfen, und dabei war ihm seine Frau ein treuer Kamerad - Kinder hatten sie nicht. Nach langem Aufenthalt in Italien und Griechenland waren sie nun auch wieder einmal in die Heimath zurückgekehrt, und die Frau Amtsräthin hatte sich glücklich geschätzt, die Durchreisenden auf einige Tage beherbergen zu können, denn sie war sehr stolz aus den Ruhm ihres Schwagers.

Am ersten Tage war der „unmanierliche Backfisch“, die Grete, für die zürnende Großmama nicht zu finden gewesen - wer mochte denn auch einem hochnothpeinlichen Verhör so geradeswegs in die Hände laufen? Der famose gelehrte Großonkel in Berlin hatte dem Mädchen von jeher einen gelinden Schauder über die Haut gejagt. Das war so Einer, der die unglücklichen Schulkinder einfing, sie zwischen seine Kniee klemmte und examinirte, bis sie vor Angst schwitzten. Gesehen hatte sie ihn nie; aber er war selbstverständlich lang und steif wie ein Stock, lachte nie und sah mit strengen stechenden Augen durch große, runde Brillengläser. Am zweiten Morgen aber hatte sie sich im Flursaal, der offenen Salonthür schräg gegenüber, hinter dem Büffet verkrochen – Professors frühstückten beim Papa. Und sie hatte große Augen gemacht; denn der schöne alte Herr konnte lachen, wirklich so recht aus Herzensgrunde lachen. Er hatte einen herrlichen, weißen, bis auf die Brust herabwallenden Vollbart und dazu prächtige helle Augen ohne Brillengläser. Und wie ein Junger hatte er das Glas mit dem funkelnden Goldwein gehoben und einen schalkhaften Toast ausgebracht. Dann hatte er von den Schliemann’schen Ausgrabungen auf dem Berge Hissarlik erzählt, und sehr verwunderlich war es dabei gewesen, daß seine Frau, die Großtante mit dem glattgescheitelten, vollen Grauhaar über dem klugen Gesicht, auch drein gesprochen, und zwar ganz mit demselben Verständniß wie der große Gelehrte. Ja, eine weite, wunderherrliche Welt voll alter, versunkener und nun wieder erstehender Geheimnisse hatte sich da aufgethan, und die lauschende junge Unwissende hinter dem Büffet hatte sich allmählich aus ihrer kauernden Stellung aufgerichtet; dann war es gewesen, als schleiche ein leiser, nachtwandelnder Fuß über den Flursaal her, bis das langaufgeschossene Mädchen unsicheren Blickes, in fluchtbereiter Haltung, aber in athemlosem Hören die verschränkten Hände auf die Brust gepreßt, unter der Salonthür erschienen war ...


Hessisches Bauernmädchen. 0Nach dem Gemälde von Joseph Lieck.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_089.jpg&oldid=- (Version vom 22.3.2024)