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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


„Kind, lebe ich denn nicht auch in der Welt?“ – Er deutete nach dem anstoßenden Salon.

„Ob aber auch unter Menschen, die Dir wirklich und wahrhaftig aus Deiner Seelenfinsterniß empor helfen könnten?“

Er lachte hart auf. „Das freilich nicht! Die wohl zu allerletzt! Aber man kann sich auch mit verschlossener Seele hier und da zerstreuen. Freilich, der Katzenjammer kommt nachher mit doppeltem Elend und stürzt die arme Seele um so tiefer in ihren grausamen Zwiespalt zurück.“

„Nun, so würde ich mich dem nicht aussetzen, Papa!“ sagte sie und sah mit ernstem Blick zu ihm auf.

Ein spöttischer Zug ging durch sein dunkles Gesicht, während er ihr mit der Hand über das Haar strich. „Meine kleine Weise, Du sprichst, wie Du’s verstehst – wenn das so leicht wäre! ... Du bist ‚durch Katakomben und Pyramiden gekrochen‘ und hast in Troja und Olympia an der Hand des Onkels dem Leben und Sein der alten Welt nachgespürt, aber vom modernen Leben weißt Du blutwenig. Mit dem eigenen Selbstgefühl wird jetzt Keiner fertig, der etwas gelten will; dazu gehört auch etwas Sonnenschein, der aus den höchsten Kreisen kommt.“

Er zuckte die Achseln.

„Das ist mir freilich uuverständlich,“ sagte sie, und das Blut stieg ihr in das Gesicht. „Aber ich weiß doch mehr vom modernen Leben, als Du denkst, Papa. Der Onkel in Berlin duldet nichts Zweifelhaftes, im Dunklen Kriechendes in seinem Hause, da kommen nur helle Köpfe zusammen, und es wird frisch und frei vom Herzen weggesprochen. Sieh, und da sagte kürzlich Einer: ‚Ach ja, sie nennen es: den Klassenhaß schüren, wenn wir uns unserer Haut wehren und gegen die drohende Niederdrückung kämpfen! Meine Seele ist rein von Haß – mögen Jene doch steigen, so hoch sie wollen, ich sehe neidlos zu, sie müssen sich nur nicht dabei auf unsere Leiber stellen wollen. Aber das ist’s eben – mit ihrem Steigen wachsen ihnen Kraft und Lust, uns niederzutreten. Allein selbst darum hasse ich nicht: ich trage der Vergangenheit Rechnung. Die Abneigung, dem Bürgerthum Vorschub zu leisten, oder vielmehr das Streben, es nicht stark werden zu lassen, liegt ihnen traditionsgemäß im Blute. Dagegen fühle ich Grimm, unbezwinglichen Grimm gegen die feilen Fahnenflüchtigen aus unseren Reihen, die liebedienerisch und um des persönlichen Vortheils willen das eigene Fleisch und Blut bekämpfen und um so fanatischer wüthen, als sie sich sagen müssen, daß sie der ehrlich Gebliebene verachtet.‘ So sagte Doktor –“

„Auch nur Einer, dem die Trauben zu sauer sind,“ fiel der Kommerzienrath mit lächelndem Hohn ein, „eine Motte, die sich die Flügel nicht verbrennen konnte, einfach, weil sie dem Licht noch nicht nahe kommen durfte! Der schwenkt auch noch einmal, meine liebe Grete! Wir sind eben Kinder unserer Zeit und keine Spartaner ... Und wenn es zehnmal nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, und wenn die Speichelleckerei in gröbster, abstoßendster Weise zu Tage liegt, die Welt bewundert trotz alledem das dekorirte Knopfloch und nennt den Liebediener ehrfurchtsvoll bei dem neuen Titel, den er sich erschlichen hat ... Zu jenen Servilen gehöre ich nun allerdings nicht – ich will nichts haben, und zu schwenken brauchte ich auch nie, denn ich habe niemals den Beruf in mir gefühlt, mich wie ein Gladiator dem Herkömmlichen entgegenzustellen und mit volksbeglückenden Tiraden mich lächerlich zu machen. Das ist Verstandessache; die unbezwingliche Scheu aber, das unwillkürliche Beugen vor dem, was man in jenen hohen Regionen sagt und urtheilt, liegt mir im Blute. Es ist stärker als ich – ich kann nicht dafür, ich kann nicht darüber hinaus, mit dem besten Willen, mit aller Kraft nicht!“

Er ließ das junge Mädchen plötzlich allein stehen in dem Fensterbogen und schritt in fast wildem Tempo auf und ab. „Ja, wer plötzlich Alles – Charakteranlage und Erziehungsresultate – abschütteln und wie auf einsamer Insel, ungesehen, sich so zeigen dürfte, wie es ihm in tiefster Seele aussieht, wie er fühlt und leidet, ja der –!“ er brach mit einer leidenschaftlichen Geberde ab.

Die Energie und Bestimmtheit dieses Mädchens hatte ihn offenbar für einen Moment vergesseu lassen, daß es seine junge Tochter war, vor deren Ohr sein Schmerz laut wurde.

„Geh jetzt hinunter, mein Kind!“ sagte er sich bezwingend. „Du wirst müde und hungrig sein – ich fürchte, es hat Dir noch Niemand Etwas angeboten. Nun, von dem Abhub der Tafel sollst Du auch nichts essen. Tante Sophie wird Dir schon drunten einen gemüthlichen Theetisch herrichten, und bei ihr bist Du ja auch am liebsten. Hast auch Recht, Gretel – das ist Gold, lauteres Gold, und ich lasse mich nicht irremachen, so oft man auch versucht, es zu verdächtigen ... Was für eine heiße Hand Du hast, Kind! Und wie Dir Dein sonst so blasses Gesichtchen glüht! Ja, siehst Du, kleine, tapfere Bürgerin, die Politik –“

„‚Die Politik‘? Ach Papa, ich bin ja nur ein Mädchen, ein kleines, dummes – was geht mich die Politik an? Ich erzähle ja nur nach!“ Sie lächelte schelmisch. „Du wirst doch um Gotteswillen nicht denken, daß die Grete den Männern ins Handwerk patschen will? Gott soll mich behüten! Aber ich meine,“ fuhr sie ernst fort, „hier handle es sich ja nur um allgemein Menschliches, um Recht und Unrecht, um moralische Kraft und Feigheit, um wahren Stolz und Niedertracht ... Und wäre Deine Schilderung wirklich die Signatur unserer Zeit und bliebe maßgebend für immer, ei, da möchte man doch lieber gleich eine Mumie von Memphis oder Theben sein und vor Jahrtausenden gelebt haben! Aber das ist nicht wahr!“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „‚Wir leben trotz alledem in einer großen Zeit, wenn wir auch inmitten einer gewaltigen Brandung ringen müssen,‘ sagt Onkel Theobald immer. ‚Das Gute und Echte wird schon obenauf kommen, und die widerlichen Blasen, die der Kampf jetzt auf die Oberfläche treibt, werden nicht ewig glitzern und die Schwachen blenden.‘ ... Und Du solltest nicht zeigen, wie Du fühlst? Aus Menschenfurcht Dich verschließen? Du, ein unabhängiger Mann, solltest nicht nach Deiner Façon ruhig und zufrieden werden dürfen? Was helfen Dir Gnaden- und Gunstbeweise von außen, wenn Du innerlich darbst und entbehrst –“

Er zog sie plötzlich unter die Hängelampe, bog ihren Kopf zurück und sah ihr mit düsterdrohendem Blick tief in die Augen, die offen und furchtlos zu ihm aufblickten. „Ist das Hellseherei, oder schleicht man mir nach? ... Nein, meine Gretel ist ehrlich und wahrhaftig geblieben! Da giebt’s kein Falsch!“ Und er schlang seinen Arm wieder um ihre Gestalt. „Mein braves Mädchen! Ich glaube, Du wärst die Einzige in der Familie, die zu mir hielte, wenn mich die Welt in Bann und Acht erklärte –“

„Natürlich, Papa, dann erst recht!“

„Würdest mir helfen eine unselige Schwäche zu überwinden?“

„Ganz selbstverständlich, mit aller meiner Kraft, Papa! Probire es nur mit mir! Ich habe Kourage für Zwei. Hier meine Hand zu Schutz und Trutz!“ Ein schönes Lächeln, halb schalkhaft, halb ernst, flog um ihre Lippen.

Er küßte sie auf die Stirn, und wenige Augenblicke nachher trat sie wieder in den Salon.

Tante Sophie war nicht mehr da. Sie war mit ihrem Silberkorb hinuntergegangen und machte jedenfalls schleunigst den Theetisch zurecht. Der Bediente löschte eben den Kronleuchter aus, und Reinhold nahm das Konfekt, Stück um Stück, von den Krystallschalen und legte es, pünktlich sortirt, „zum Wegschließen“ in verschiedene Glasbehälter. Die Frau Amtsräthin aber saß behaglich zwischen Plüschpolstern hinter einem Sophatisch – weil es oben durch fortgesetztes Lüften schauerlich kühl, hier unten aber noch so köstlich warm und mollig sei, wie sie sagte – und legte ihre allabendliche Patience. Großmama und Bruder hatten somit nicht viel Zeit für die Heimgekehrte, und das „Gutenacht“ Beider klang recht zerstreut und obenhin.

Das junge Mädcheu vermißte nichts, gar nichts! Sie war froh, so leichten Kaufs für heute davonzukommen – hier oben war sie fertig. ... Nur als sie draußen durch den dämmerigen Flursaal schritt, da stand Einer im Fenster und sah anscheinend in den Hof hinunter – der Herr Landrath! – An ihn hatte sie auch nicht mehr gedacht, Kopf und Herz waren ihr übervoll von der räthselhaften Art und Weise, wie sie ihren Vater eben gesehen. Für ihr klares, entschiedenes Denken und Fühlen war ein solch düster geheimnißvoller Seelenzwiespalt etwas ganz Verwunderliches – solch eine Männerseele in ihrem Widerstreite mochte wohl schwer zu verstehen sein ... Ob den dort, den kühlgewordenen, in Amt und Würden stehenden Mann nun doch auch

vielleicht für einen Moment die Erinnerung packte und ihn hinüber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_108.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2020)