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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Ohne die Augen zu heben, glitt sie an den Sprechenden vorüber und trat in das Zimmer, wo der Papa sich aufzuhalten pflegte. Ja, da lag er auf dem Ruhebett – sein schönes Gesicht hob sich in tiefer Blässe von dem dunkelrothen Polster – ein friedlich Schlafender, dem die jähe, schmerzlos hinraffende Hand alle dunklen Räthsel von der Stirn gestreift hatte! Zu seinen Füßen saß der Großpapa, den weißen Kopf in den Händen vergraben.

Der alte Mann sah auf, als die Enkelin in stummem Schmerz an dem Ruhebett niedersank – ihm war es nicht verwunderlich, sie „so derangirt“ auf eigenen Füßen ankommen zu sehen, er kannte seine Gretel. Schweigend, mit sanfter Hand zog er sie an sich, und da, an seiner treuen Brust, brachen endlich die wohlthätigen Thränen unaufhaltsam hervor …


16.

Im Flursaal, zwischen der Thür des großen Salons und dem gegenüberliegenden mittleren Fenster, war der traditionelle Platz, wo Alle, die im Leben den Namen Lamprecht getragen, noch einmal in glanzvoller, wenn auch stummer Abschiedsrolle erschienen, ehe sie das feuchte Mauergewölbe draußen auf dem stillen Platz vor dem Thore bezogen. Hier hatte auch die böse Frau Judith gelegen, einen lächelnden Glanz auf dem zornmüthigen Gesicht – hatte sie doch ihren verzweifelten Kampf mit dem Tode, nach dem bindenden, ihrem Eheherrn mühsam abgerungenen Eid, sofort willig aufgegeben und ihren hageren, unschönen Leib zur ewigen Ruhe ausgestreckt.

Und hier, unter den fremdländischen, blühenden Gewächsen, die den silberbeschlagenen Sarg der reichen Frau umstanden, sollte Herr Justus Lamprecht die schöne Dore zum erstenmal gesehen haben … Sie war die verwaiste Tochter eines fernen Geschäftsfreundes gewesen, welcher Herrn Justus testamentarisch zu ihrem Vormund ernannt hatte. Und da sollte eines Abends eine Reisekutsche vor dem Lamprecht’schen Hause gehalten haben, und weil keine Menschenseele sich um das Fuhrwerk gekümmert hatte, wohl aber erschrecklich viel Leute in das Haus und die glänzend helle Treppe hinaufgeströmt waren, da sollte das angekommene fremde Mädchen aus dem Wagen geschlüpft und mit den Leuten gegangen sein, bis sie droben mit erschreckten Augen vor der todten Frau gestanden. Das war ihr erster Einzug im Hause ihres zukünftigen Ehemannes gewesen – „ein ganz schlechtes Zeichen“, und auch schon um deßwillen hatte es dann später so kommen müssen, daß sie schon nach wenigen Jahren auf derselben Stelle eingebahrt gelegen, wie ein schönes Wachsbild, mit ihrem todten Engelchen im Arm, und im strengen, blumenlosen Winter doch mit kostbaren, weithergeholten Blumen förmlich überschüttet; und die weiße Seide ihres Sterbekleides war über den Sarg hinaus geflossen und hatte wie Schnee ellenlang die Dielen des Flursaales bedeckt. Das erzählten sich die Leute heute noch …

Seitdem hatte noch manches stille Antlitz an dieser Stelle die letzten geflüsterten Richtersprüche über sich ergehen lassen müssen; Väter und Söhne, Mütter Und Töchter, Alle hatten auf dieser Station gerastet, und in Abwechselung mit den greisenhaften, lebensmüden Auswanderern des Hauses hatte auch manche vorzeitig in der Jugendblüthe hingestreckte, schöne Mannesgestalt da gelegen. Aber einen Todten wie den letztverstorbenen Lamprecht hatte der Flursaal noch nicht beherbergt. Alte Mütterchen, die unter dem Strom von Schaulustigen auch mühsam die Treppe hinaufgeklettert waren, wußten das ganz genau zu sagen; sie hatten ihr ganzes, langes Leben hindurch nicht ein einziges Mal gefehlt, wenn in Lamprecht’s Hause der Trauersaal hergerichtet war. Und sie hatten Recht mit ihrer Behauptung – lag doch dieser herrliche, reckenhafte Mann da, als werde und müsse er jeden Augenblick verwundert über sein seltsames Bett aufspringen, die Blumen abschütteln, den Schlaf aus den Gliedern recken und die Neugierigen mit seinen feurigen Augen spöttisch anstrahlen! … Und Andere, die Männer, die zusammen zischelten, hatten auch Recht, wenn sie meinten, die letzte mächtige Säule des alten Hauses sei mit ihm gebrochen – was nun werden solle? Die Schattengestalt, die da lang und schlotterig, den dünnen Hals in einen steifen Halskragen gezwängt und die dürren Finger in stetem Frösteln an einander reibend, hin- und herglitt, sie war so jämmerlich anzusehen neben dem gewaltigen Todten, daß, man mit diesem Erben unmöglich rechnen konnte.

Man hatte gefürchtet, der Schreck über die plötzlich hereinbrechende Katastrophe werde auch für ihn verhängnißvoll werden; aber er war eigentlich gar nicht sehr erschrocken gewesen; er hatte weit mehr erstaunt und konsternirt ausgesehen und war am ersten Tage wie im Traume umhergegangen. Nachher hatte die Kühlheit seines Wesens die Leute im Komptoir noch eisiger angeweht, als bisher, und bei dieser Fassung und Objektivität war es auch Niemand verwunderlich gewesen, daß er schon am zweiten Tag probirt hatte, wie es sich auf dem verwaisten Schreibstuhl des Heimgegangenen sitze.

Die Trauerfeierlichkeiten waren vorüber. Der größte Theil der Versammelten hatte sich entfernt; nur da und dort zögerten noch Einzelne, die sich nicht satt sehen konnten an diesem „letzten Mal“ in seiner Pracht und Herrlichkeit. Die hervorragenden Theilnehmer an dem Einsegnungsakt, die Geistlichkeit, die Damen vom Prinzenhofe, der stellvertretende Adjutant des Herzogs und die nächsten Freunde des Hauses verweilten noch im großen Salon, wo sich auch die Angehörigen des Verstorbenen versammelt hatten. Nur die Tochter des Hauses fehlte. Sie hatte sich hinter die schwarztuchene, das mittlere Fenster mit ihrem reichen Faltenwurf verhüllende Draperie zurückgezogen. Wie verwundet war sie in diese dunkle Ecke geflüchtet. Mußte es sein, dieses Ceremoniell, diese grausame Schaustellung des Todten und der schmerzvollen Trauer der Ueberlebenden? Hier oben, wo ihr war, als töne der plötzlich abgerissene Accord eines Menschenlebens in seinen letzten Schwingungen fort, wo sie meinte, der Flügelschlag der geschiedenen Seele müsse mit rückwirkender Kraft nachzittern in dem ehemaligen irdischen Heim, hier hatten die Tapezirer tagsüber gepocht und gehämmert, und unermüdlich waren Tragbahren voll Orangerie treppauf geschleppt worden. Und mußte es sein, daß sich eine Schar fremder Gesichter um den Sarg drängte, während der Geistliche innige ergreifende Abschiedsworte sprach? Aber je mehr, desto größer die Ehre für die Familie! Mit jedem neuen Wagen, der donnernd drunten vorgefahren, war die zierliche Gestalt der die Honneurs machenden Großmama förmlich gewachsen … Und was für gedankenlose Redensarten gingen von Mund zu Mund! Ein plötzlich dazwischen tretender Fremder hätte meinen müssen, der Verstorbene sei zeitlebens ein elender Krüppel, ein in jeder Hinsicht darbender, verkümmerter Mensch gewesen, weil ihm ja „die ewige Ruhe, die Heimberufung aus dieser Welt so zu gönnen war“.

„Ihm ist wohl!“ In allen Varianten wurde es gesagt; aber keiner dieser Schönredner wußte, daß gerade in seinen letzten Lebensstunden eine geheimnißvolle Mission sein ganzes Denken und Wollen durchdrungen und ihn zur Ausführung unwiderstehlich gedrängt hatte.

Er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß der Tod mit ihm reite, als er sein Haus verlassen. Draußen in der Fabrik war er der ruhigste unter den durch die Verwüstungen beunruhigten Leuten gewesen. Er hatte überall die Schäden besichtigt und seine Befehle gegeben; dann war er heimwärts geritten – und da hatte es ihn gepackt. Vom Schwindel überfallen, war er vom Pferde gestiegen und hatte noch Kraft genug gefunden, das feurige Thier festzubinden und sich auf den weichen, buntbestreuten Moosboden hinzustrecken. Wer aber konnte wissen, welche Schrecken das plötzlich hereinbrechende Todesgefühl hinter der jetzt so glatten, kalten Stirn kreißen gemacht? Fortgerissen, ohne erfüllt zu haben, „was ein Ende nehmen sollte und mußte“ – kam wirklich ein so völliges Vergessen über die entführte Seele, daß „ihr wohl“ war, wie alle diese Leute wissen wollten? –

Die letzten der noch im Flursaal anwesenden Leute waren gegangen, und es war so feierlich still geworden, daß man über das gedämpfte Stimmengemurmel im Salon hinweg das vereinzelte Knistern der herabbrennenden Wachskerzen hören konnte … Da kam der Maler Lenz aus dem tiefen, dunkelnden Hintergrunde des Flursaales, er mochte wohl während der ganzen Ceremonie unbeachtet dort gestanden haben. Der alte Mann war nicht allein, sein kleiner Enkel ging mit ihm und schritt auf das Geheiß des Großvaters unverweilt nach dem schwarzbeschlagenen, um einige Stufen erhöhten Podium, auf welchem der Sarg stand. Der Kleine war eben im Begriff, den Fuß auf die erste Stufe zu setzen, als Reinhold wie toll aus dem Salon geschossen kam.

„Da hinauf kannst Du nicht, Kind!“ stieß er kurzathmig mit unterdrückter Stimme, aber sichtlich empört hervor und zog den Knaben am Arme zurück.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_191.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2024)