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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

seiner religiös-poetischen Empfindung.[1] Am ergiebigsten war die Weimarsche Periode auf dem Gebiete der Orgelkomposition. Nicht nur eine große Zahl seiner einzig schönen Choralvorspiele entstand in diesem Abschnitt, sondern auch die Mehrzahl der berühmten Koncertstücke. So in den ersten Jahren die durch Liszt’s Uebertragung allgemein bekannte D-mo11-Toccata, in der letzten Zeit seines Aufenthalts der kolossale „Passacaglio“ in C-moll.

Eine chronologische Durchsicht dieser Arbeiten läßt uns deutlich erkennen, wie Bach sich mehr und mehr von den niederländischen und norddeutschen Vorbildern frei macht. Das phantastische, zügellose und keck virtuose Element tritt zurück zu Gunsten einer konsequenten und erschöpfenden Gedankenentwickelung, bei welcher der Reichthum der Phantasie und die Frische und Eigenthümlichkeit des Temperamentes gleichwohl nicht verkürzt erscheinen. Einen großen Antheil an dieser Umwandlung dürfen wir der italienischen Musik zuschreiben, deren nähere Bekanntschaft Bach zuerst in Weimar machte. In den Klavierübertragungen Vivaldi’scher Violinkoncerte, in der oft genannten Fuge über ein Thema von Legrenzi, in der Canzone D-moll (Frescobaldi nachgebildet) und in ähnlichen Arbeiten hat Bach die direkten Früchte dieser italienischen Studien niedergelegt. Bisweilen stehen diese Uebertragungen und Bearbeitungen zu den Originalvorlagen in einem Verhältniß wie die aufgegangene Ernte zu den Saatkörnern. Der besondere Liebling Bach’s war Albinoni, ein angenehmer, herzhafter venetianischer Dilettant.

Von Weimar aus verbreitete sich auch zuerst Bach’s Ruf als Orgelspieler. Häufige Kunstreisen, die er in der Regel im Herbst unternahm, trugen dazu das Ihrige bei. Einmal, in Kassel, riß er durch ein bloßes Pedalsolo den Prinzen Friedrich, den nachmaligen König von Schweden, zu solchem Enthusiasmus hin, daß dieser seinen Brillantring vom Finger zog und ihn an die Hand Bach’s steckte. Besonderes Aufsehen erregte er im Jahre 1717 in Dresden durch seinen Sieg über den französischen Klavier- und Orgelspieler Marchand. Dieses bewunderte und verhätschelte Schoßkind aller damaligen Virtuosenanbeter hatte unsern Sebastian Bach zu einem Wettspiel aufgefordert. Marchand verließ aber am Abend vor dem Gefecht in heimlicher Flucht das Feld, nachdem er Bach privatim gehört. Der Ruf von Bach’s Spielkunst stieg seitdem ins Mythische und lebt noch heute bis in die abgelegenen Punkte des sächsischen Landes hinein in Anekdoten fort, deren Abenteuerlichkeit die bekannten Paganini-Fabeln beinahe erreicht. Im Gefolge des Virtuosen wurde auch der Komponist Bach bekannt. Hier und da brachte er außer seinen Orgelkompositionen eine Kantate zur Aufführung, so 1716 in Leipzig bei Gelegenheit seines ersten Besuchs in der Stadt seines späteren Wirkens.

Die wachsende Berühmtheit vergrößerte in Weimar den Kreis seiner Schüler. Bach ist der einzige unter unseren großen deutschen Komponisten, welcher sich dauernd und systematisch der Ausbildung junger Talente unterzog. Aus der Weimarschen Zeit ist keiner dieser Schüler zu einer größeren Bedeutung gelangt, aber unter seinen zahlreichen Leipziger Schülern haben sich mehrere eine bleibende Stelle in der Musikgeschichte errungen; so S. F. Agricola, der Berliner Hofkapellmeister und Opernkomponist, Bach’s Schwiegersohn Altnikol, J. F. Doles, sein Nachfolger im Amt, G. A. Homilius, der Kantor an der Dresdner Kreuzschule, der Theoretiker J. P. Kirnberger und die Orgelkomponisten J. C. Kittel und J. L. Krebs.

Im Jahre 1714 war Bach in Weimar zum Koncertmeister ernannt worden. Als aber im Jahre 1716 der Posten des Kapellmeisters frei wurde, überging man ihn. Dies veranlaßte Bach, im Jahre 1717 einem Rufe des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen als dessen Kapellmeister zu folgen. Die fünf Jahre, welche Bach in Köthen verlebte, wurden ihm durch sein persönliches Verhältniß zu dem jugendlichen Fürsten angenehm, welcher den großen Künstler als einen Freund behandelte. Musikalisch bildeten sie, wie Spitta sagt, ein Stillleben. Wenn Bach, wie es häufig geschah, den Fürsten auf dessen Reisen begleitete, kam er oft ganz von aller Musik ab und sehnte sich nach einem Instrument. In einer solchen Lage soll er den ersten Theil des „Wohltemperirten Klaviers“ komponirt haben. Als er im Sommer 1720 mit dem Fürsten von Karlsbad zurückkehrte, fand er die treue Gattin nicht mehr. Sie war in seiner Abwesenheit erkrankt und gestorben, ohne daß er das Geringste davon erfahren.

Der eigentliche Dienst Bach’s beschränkte sich in Köthen auf Kammermusik. Demgemäß entstanden hier die sechs Sonaten für Violine und Klavier, die Sonaten und Suiten für Sologeige (unter ihnen die berühmte Ciaconna), die Suiten für Cello, die Flötensonaten, die Violinkoncerte und die berühmten sechs Brandenburgischen Koncerte für Orchester; vielleicht auch die Orchestersuiten in C-dur und H-moll. Außerdem für Klavier die zwei- und die dreistimmigen Inventionen und die „französischen“ Suiten, so genannt, weil sie in ihren knappen Formen dem französischen Stile folgten.

Im Jahre 1723 verließ Bach Köthen, um das Kantorat an der Thomasschule in Leipzig anzutreten. Der Entschluß, „aus einem Kapellmeister ein Kantor zu werden“, scheint ihm nicht leicht geworden zu sein. Schließlich gaben aber die Rücksicht auf die Ausbildung seiner Söhne und die Sehnsucht nach einer vielseitigeren musikalischen Thätigkeit den Ausschlag. In seiner Leipziger Stellung verblieb Bach bis ans Lebensende; im Ganzen wenig befriedigt und oft schwer verstimmt. Chor und Orchester, mit denen er zu arbeiten hatte, waren in mangelhaftem Zustande; seine nächsten Vorgesetzten waren dem mit Schmiegsamkeit wenig begabten, stolzen Künstler nicht hold; wiederholt kam es zu offenen Differenzen.

Nur der Rektor Geßner, welcher leider nicht lange an der Schule blieb, wußte die Bedeutung Bach’s zu würdigen. In einer Anmerkung seiner Quinctilianausgabe macht er die für einen Philologen jener Zeit fast ketzerische Glosse, daß Amphion und Orpheus zusammen immer noch keinen Bach geben. Einigermaßen mögen ihn die Beweise von Anerkennung entschädigt haben, welche von außen kamen, Bach erhielt den Titel eines sächsisch-weißenfelsischen Kapellmeisters, sein eigener Kurfürst war ihm wohlgewogen. Auch die gewohnten Kunstreisen setzte Bach von Leipzig aus fort. Häufig besuchte er Dresden, seitdem sein Sohn Friedemann dort lebte, hörte die italienische Oper an und verkehrte mit dem Ehepaar Hasse und anderen Künstlern der Residenz.

Einen seiner letzten Triumphe bildete der Ausflug nach Potsdam im Jahre 1747. Friedrich der Große, in dessen Diensten Bach’s zweiter Sohn, Philipp Emanuel, stand, empfing ihn mit wahrer Herzlichkeit, sodaß der alte Meister hochbeglückt heimkehrte. Ein schönes Fugenthema, welches der König selbst zum Phantasiren gegeben, arbeitete Bach zu Hause kunstvoll aus und dedicirte die Arbeit dem hohen Gönner unter dem Titel „Das musikalische Opfer“.

Was aber Bach mehr als Alles vor der Verbitterung schützen mußte, mit welcher ihn die Widerwärtigkeiten der amtlichen Stellung bedrohten, war sein glückliches Familienleben und sein fruchtbarer Genius. Seine zweite Frau, die er noch in Köthen geheirathet, war eine tüchtige Sängerin und nahm an den Arbeiten des Mannes ein inniges, verständnißvolles Interesse; so weit das möglich, half sie ihm zuweilen. In demselben Briefe, in welchem er seinem Freunde Erdmann in Danzig die Leipziger „Fatalitäten“ schildert und die Absicht fortzugehen ausspricht, erzählt er auch von seiner glücklichen Häuslichkeit: „Insgesammt aber sind sie – sc. die Kinder – gebohrne Musici und kann versichern, daß schon ein Concert vocaliter und instrumentaliter mit meiner Familie formiren kann, zumahle da meine itzige Frau gar einen saubren Soprano singet und auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschlägt.“ Für die Kinder und die Schüler hat Bach viele Klavier- und Orgelwerke geschrieben, deren hoher Kunstwerth uns ihren nächsten pädagogischen Zweck ganz vergessen läßt. Auch die beiden Koncerte für 3 Klaviere in D-moll und G-Dur verdanken dem Familienverhältniß ihren Ursprung; Bach spielte sie mit den beiden ältesten Söhnen.

Ganz erstaunlich, ja unbegreiflich ist die Fruchtbarkeit, welche Bach als Komponist in seiner Leipziger Zeit entwickelte: gegen 300 große Kirchenkantaten! Das ist eine Fülle von Noten, die schon als bloße Schreiberarbeit imponiren kann. Der zehnte Theil davon würde genügen, um Bach das Lob eines fleißigen Komponisten zu sichern. Aber wie hoch stehen sie über dem Begriff der nur fleißigen Arbeiten mit ihren tiefsinnigen und großartigen Kombinationen, mit der Gewalt, Innigkeit und Feinheit der Empfindung, mit dem Reichthum und der Originalität der Ideen, welche diese Formen erfüllen! Und das Meiste davon muß aus freier Hand hingestellt sein, fertig aus dem Kopf aufs Papier gebracht. Denn zu Vorarbeiten, zum Tüfteln und Herumtragen hätte die Zeit nicht gelangt. Der Zustand der Autographe bestätigt diese Annahme:

  1. Die verbreitete Annahme, daß Bach die bekannte Kantate „Ein’ feste Burg“ zur zweihundertjährigen Jubelfeier der Reformation 1717 in Weimar komponirt habe, beruht auf einem Irrthum.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_195.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2024)