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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

ihm wohl mit wundervoller Lebendigkeit von den Geschichten des trojanischen Krieges, die er in der Klasse gelernt hatte: der hellenischen Vorwelt „silberne Gestalten“ umfingen da die jugendlichen Seelen. Doch auch die Geister einer großen nationalen Vergangenheit weben über den frischen Wiesen, den wogenden Kornfeldern der Güldenen Aue, über dem raschen tiefen Strom, der sie durchzieht, über den prächtigen Laubwäldern, die das Gelände ihrer Berge krönen: sie umschwebten den Knaben, wenn er auf oder, wie man dort sagt, in dem „Berge“ stand (denn es war ehemals ein Weinberg), unter dem uralten Birnbaum, der seit tausend Jahren, hieß es, seitdem die christliche Gesittung hier gepflanzt ward, seine schweren Fruchtzweige über diesen Abhang breitete. Das sind die Gefilde, die Wälder, wo nach der Ueberlieferung König Heinrich der Sachse am liebsten geweilt und gejagt hat. Flußaufwärts sucht das Auge jenes Ritteburg, auf dessen Feldern wohl der König die Magyaren schlug; dort im Pfarrhause hat die Wiege von Ranke’s Vater gestanden. Weiterhin, in mäßiger Entfernung, wölbt sich der thurmgekrönte Gipfel des Kyffhäuser. Im Osten aber, eine gute Stunde unterhalb Wiehe, erinnert wieder Memlebens schöne Ruine an die Todesstunde des Sachsenkönigs. Die Schatten des Begründers unseres alten Reiches und seines glänzendsten Helden walten über diesem Thale.

Auch auf der Pforte umgaben den Knaben, der hier zum Jüngling heranreifte, die begrenzten Verhältnisse des heimathlichen Lebens. Die Anstalt zeigte noch ganz den Charakter, der ihr eingepflanzt war, humanistischer Schulung und konfessionell gebundener Religiosität: die Lehrer, an ihrer Spitze der gestrenge Rektor Ilgen, sämmtlich Theologen und gewiegte Lateiner; einer unter ihnen trug gar noch Zopf und Perücke: Hausordnung und Unterricht in klösterlicher Gemeinsamkeit straff geregelt. Aber in den engen Formen pulsirte doch wieder jugendlich frisches Leben, gezügelt nur durch die pflichtstrengen Vorschriften, angespornt durch die wetteifernde Gemeinschaft des Umgangs und der Arbeit, und durch das eifrigste Studium des klassischen Alterthums mit Idealität und Schönheitssinn erfüllt. Die großen Weltbegebenheiten berührten freilich nur mit leichtem Wellenschlage die klösterlichen Mauern. Selbst als der sächsische Boden unter den ersten Schlägen der großen Erhebung erdröhnte und der Sturm hart an der Gemarkung des Klosters vorüberzog, konnten sich die Jünglinge schwer von dem inneren Widerstreit lösen, in den sie die Haltung ihres Landesherrn bringen mußte, der auch damals noch sein Geschick mit dem Napoleon’s verknüpft hatte. Erst die Leipziger Schlacht nahm von den jugendlichen Gemüthern den Bann, unter dem ihr nationales Empfinden gehalten war.

So wirkte denn auch auf der Universität vor allem der Geist des Alterthums auf Ranke ein. Hatte er aber in Pforta sich besonders mit den griechischen Tragikern beschäftigt, so zog ihn in Leipzig unter Gottfried Hermann’s Leitung vornehmlich Thukydides an. Es war, wie er sagt, der erste große Historiker, durch den er in der Tiefe ergriffen wurde; mit äußerstem Fleiße habe er in seiner kleinen Stube in der Hainstraße sich der Lektüre desselben hingegeben. Nächst ihm habe er Niebuhr’s Schriften mit nicht geringerem Eifer zu studiren begonnen. Eine andere Richtung habe ihn bald darauf zu den Werken Luther’s geführt, durch die er keinen geringen Impuls erhalten habe. Der antike und der zeitgenössische, kritische Historiker also, welche mit staatsmännischem Blick und in einer klassischen Form die Geschichte von Hellas und von Rom schrieben, und Thüringens größter Sohn, der deutsche Reformator, der auf dem ewigen Grunde des Evangelium die Scheidung des Weltlichen und Geistlichen vollzog, „der das große Gespräch begann, das die seitdem verflossenen Jahrhunderte daher auf dem deutschen Boden stattgefunden hat“ – das sind die drei Geister, denen Ranke die Grundelemente verdankt, aus denen sich seine historischen Studien auferbaut haben. Nach ihnen nennt er als Vierten Fichte, den sittlich-kühnen Denker, dessen religiös-ethische und national-politische Ideen, wie sie an Luther erinnern, so auch mit Ranke’s Auffassung sich innerlich nah berühren.

Wie hätte aber Ranke, von diesen Heroen der Klarheit und der Kraft geleitet, sich in den phantastischen Nebeln der Romantik verlieren mögen, welche damals Kunst und Leben, Litteratur und Politik mit strebender Unruhe erfüllte! Daß er sie begriffen hat, dafür zeugen seine Werke; Niemand hat ihren Geist in Vergangenheit und Gegenwart wärmer, glänzender, wahrer geschildert. Aber sie vermochte ihn nicht mehr zu übermannen. Da sie in der Vollkraft ihrer berauschenden Blüthe stand, trat er ihr klaren Auges, mit der überlegenen Objektivität des Historikers entgegen. Gerade in den Jahren ihrer Herrschaft, eben in Frankfurt schrieb er jenes erste Werk, welches in Kritik und Auffassung bereits den vollen Stempel seines Geistes trägt, die „Geschichte der romanischen und germanischen Völker“.

In dem Titel ist schon der Grundbegriff, in dem alle Werke Ranke’s gedacht sind: die Einheit der romanischen und germanischen Nationen, im Gegensatz zu den bisher vorherrschenden Anschauungen einer allgemeinen Christenheit, der Einheit Europas, endlich auch der analogsten einer lateinischen Christenheit; denn zu dieser gehören auch slavische, lettische, magyarische Stämme, welche eine eigenthümliche und besondere Natur haben. In der Völkerwanderung ward jene Einheit begründet, in dem Zusammentreffen der nationalen, staatlichen und kirchlichen Kräfte, welche auf dem Boden des westlichen, des lateinischen Imperium lebten. In dem Kreise dieser Völker wuchs fort, was sich von den Kulturelementen der alten Welt durch jene Jahrhunderte der Stürme hindurch gerettet hatte; sie haben in der päpstlichen und der kaiserlichen Gewalt, in ihren kirchlich-politischen Kolonisationen, in allen Formen ihrer staatlichen, geselligen und kirchlichen Organisation, in allen Aeußerungen ihres künstlerischen und litterarischen Geistes gemeinsam die mittleren Jahrhunderte erfüllt und gestaltet. Die fremden Nationen an den Grenzen werden abgewehrt oder unterworfen und assimilirt, aber auch dann sind sie nur nebengeordnete, dienende Glieder: Träger der welthistorischen Entwickelung bleiben die sechs Nationalitäten, in welchen die romanischen und germanischen Elemente unter dem Vorwalten des einen oder des andern gemischt sind, eine in Kampf und Verkehr unablässig bewegte, hin- und herfluthende, schließlich doch fortschreitende Gemeinschaft. Indem Ranke in der Einleitung jenes Buches diese Einheit durch die Geschichte des Mittelalters hin verfolgte, faßte er als besondere Aufgabe nur die Epoche ihrer Zertrennung ins Auge, welche das neue Weltalter bedingte: die Ausbildung des spanisch-habsburgischen und des französischen Machtsystems sowie die Spaltung durch die Reformation war das Thema; der erste Gang dieser Entwicklung, bis 1535, sollte betrachtet werden; was zunächst erschien, umschloß die 20 Jahre von 1494 bis 1514, „gleichsam den Vordergrund der neueren Geschichte“.

Das Buch blieb in dieser Form Fragment und hat daher in dem Kreise der Ranke’schen Werke eine Stellung für sich. In Kraft und Fülle der Anschauung, in der lebensvollen Darstellung steht es einzig da; eine Gestalt z. B. wie Savonarola ist mit einer Schärfe der Linien und einer Leuchtkraft der Farben geschildert, welche unmittelbar an den künstlerischen Konfrater des feurigen Prädikanten, an Fra Bartolomeo erinnert. Doch fehlt es nicht in Sprache und Gruppirung an Elementen der Gährung, welche besonders durch die litterarischen Vorbilder und die Materialien der Forschung bedingt waren; mit deren Erweiterung, mit der wachsenden Erkenntniß mußten sie sich abklären; der Grundbegriff selbst gestaltete sich unter dem vergrößerten Gesichtskreise umfassender. Den Uebergang bemerken wir nach Form und Inhalt in dem zweiten Buch, „Die Osmanen und die spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert“, das als erste Abtheilung eines umfassenderen Werkes, „Fürsten und Völker von Südeuropa“ in der gleichen Epoche, 1827 zur Ausgabe kam; wie es denn auch bereits aus archivalischen Quellen geschöpft ist. Die „Geschichte der Päpste“ sodann, noch als Ausführung jenes Gesammttitels gedacht, nach der Rückkehr von der epochemachenden italienischen Reise (1831) vollendet, zeigt das volle Gepräge der Meisterschaft. Staunend bemerken wir, daß Ranke in dieser Höhezeit seines Schaffens, in den Jahren, wo er die „Historisch-politische Zeitschrift“ herausgab (1832 bis 1836), seine Lebensarbeit in ihrem vollen Umfange erfaßt und vorgezeichnet hat.

Das Fragment über die „großen Mächte“, welches den zweiten Band jenes Unternehmens eröffnete, enthält, wenn wir von der Weltgeschichte absehen, über deren Vollendung ein wahrhaft göttliches Geschick zu wachen scheint, das Programm aller späteren Werke, ja mehr als dies, einzelne Gedanken darin harren noch heute der Ausführung. In Verbindung gebracht mit den Grundlinien der früheren Arbeiten, steht in diesem Aufsatz die Entwickelung der europäischen Großmächte, des Systems und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_230.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2024)