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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

seiner Glieder, so wie Ranke es später ausgeführt hat, in voller Deutlichkeit vor Augen: das Frankreich Ludwig’s XIV., katholisch und national, monarchisch centralisirt und doch feudalistisch geartet, uniform und stets doch voller Gährung, nach Glanz und Herrschaft begierig; ihm gegenüber das protestantisch-nationale, germannisch-maritime England in dem gewaltigen Ringen seiner beiden aristokratischen Parteien, die doch immer einen durch das nationale Interesse und die populäre Tendenz bestimmten, legal umschriebenen Kreis innehalten, in deren politischem Wettstreite erst der Strom der englischen Nationalkraft weltgestaltend hervortritt; Oesterreich sodann, wirthschaftlich und national so vielgestaltig und doch religiös wie politisch so stabil, katholisch-deutsch, wohlbewaffnet, voll unversiegbarer Lebenskräfte; Rußland, wie eine Naturgewalt plötzlich und furchtbar sich erhebend: die griechisch-slavische Macht, jetzt erst europäisch; Preußen endlich, in dem die deutsch-protestantischen Ueberlieferungen einen späten Anhalt und Ausdruck fanden, nachdem Schweden zusammengebrochen war. Wir lesen da bereits, was alle folgenden Bände ausführlich beweisen, wie modern diese vier letzten Mächte sind, nicht blos der Staat Peter’s des Großen und die norddeutsche Großmacht, sondern auch das parlamentarische Großbritannien und die scheinbar älteste, legitimste Monarchie, das erst durch die Eroberung Ungarns konstituirte Oesterreich: ihre Ausbildung ist die Summe der hundert Jahre von der „glorreichen“ bis zum Ausbruch der großen Revolution, das Resultat die Verdrängung Frankreichs von der Stellung, die es bis 1688 errungen hatte. Und unter dem Einfluß dieser Kraftgruppirung zeigen nun auch die Litteraturen, die religiösen und philosophischen Systeme, die rechtlichen und politischen Theorien, die ganze Sitten- und Empfindungswelt, alles, was man Kultur des 18. Jahrhunderts nennt, ihre zersetzenden wie ihre positiven Tendenzen! Ausführungen, welche aber keineswegs in so blassen Linien der Abstraktion gegeben werden, sondern mit der Fülle des Details, plastischer Anschauung, schärfster persönlicher Zeichnung. Auch über die Revolutionsepoche selbst ergreift Ranke das Wort; und was er in seinen späteren Werken darüber ausgeführt hat, originale bahnbrechende Gedanken, über den explosiven Charakter der Bewegung, die Nothwendigkeit ihres Kampfes mit den umgebenden Mächten, des Zusammenbruches der mechanisirten Staatsgebilde des Kontinentes unter dem Stoß jener eisernen, in vulkanischen Gluthen geschmiedeten Gewalt – das Alles stellt er hier auf wenigen Seiten augenscheinlich dar. Die Stärke Frankreichs beruhte in der nationalen Einheit, in der Centralisation aller Kräfte, die es in der Zertrümmerung selbst durchführte. So konnte es für Europa – und damit tritt die Abhandlung schließlich in unser eigenes Jahrhundert – keine Rettung geben, ehe es „dieser Forderung der Weltgeschicke Genüge zu leisten, die schlummernden Geister der Nationen zu selbstbewußter Thätigkeit aufzuwecken begann“. Das ist die Aufgabe, in deren Lösung wir noch begriffen sind.

Kein Historiker, kein Politiker auch sollte es versäumen, diese Abhandlung, und zugleich die letzte jenes Bandes, das „Politische Gespräch“, wieder und wieder zu lesen. Beide enthalten die Summe der neueren Geschichte und damit auch die Grundlage, auf der alle Politik sich bewegen wird. Alles aber ruht auf dem obersten Begriff der romanisch-germanischen Nationen und der Verkörperung ihres Wesens in dem System ihrer Staaten.

Gerade daß Ranke als Staatsmann schreibt, hat man ihm gern zum Vorwurf gemacht. Daraus leite sich sein Talent ab in der Entwirrung diplomatischer Truggewebe, überhaupt die Meisterschaft in der Behandlung aller auswärtigen Politik, aber auch ein Mangel an Verständniß populärer Strömungen, der inneren Entwickelung, Empfindungskälte gegenüber den sittlichen Forderungen, welche der strebende, reifende, fortschreitende Volksgeist an die Regierung stelle: Vorwürfe, welche, wie man sieht, dem Begriff des Staates den der Regierung unterstellen und dann einen Unterschied konstruiren zwischen Staat und Volk, Regierung und Regierte jedoch einander so entgegen setzen, daß diese als die Regulatoren der ersteren in Bezug auf die sittlichen Ziele und Mittel des staatlichen Lebens erscheinen. Das aber ist nicht, was Ranke meint. So wenig wie allerdings nach seiner politischen Ueberzeugung die Regierung eine leere Form, der kraftlose „Indifferenzpunkt“ im Gewoge der Parteien und ihrer Theorien sein soll, sondern eine lebenerfüllte Macht, „eine Wesenheit, ein Selbst“, eben so wenig ist ihm der Staat ein von der Nationalität lösbares Gebilde, Produkt allgemeiner Theorien, hergeleitet aus der philosophirenden Konstruktion eines Vertrages, sondern ein Lebendiges, Innerlich-Wachsendes, eine machtvolle Gemeinschaft, „moralische Energie“, enger gemeinhin als die Nation, aber ruhend auf ihrem Grunde, so lange noch Leben darin ist. Wie sollte eine solche Individualität nicht auch nach äußerer Entfaltung streben! Da aber begegnet sie im ganzen Umkreis anderen Gebilden, analog und doch wieder eigenthümlich geartet, Modifikationen der Nationalität, lebensvoll, strebend wie sie selbst. So müssen denn alle mit einander ringen. „Denn der Kampf,“ sagt ‚Heraklit‘ „ist der Vater aller Dinge.“ Dennoch aber bleiben sie eben in ihm, in Aktion und Reaktion eine lebendige Gemeinschaft. Denn sie stehen gemeinsam unter den Abwandlungen der großen Verhältnisse, als ein Abglanz des Ewigen überschattet von dem gewaltigen Schicksal, das in ihrem Dasein an dem lebendigen Kleide der Gottheit wirkt.

Wenn Ranke vornehmlich die auswärtige Politik ergründet hat, so ist auch das nur wieder eine Folge seiner Fragestellung: das erste Ziel mußte auf die Entwickelung des Systems, also auf den Zusammenhang und Kampf seiner Glieder gerichtet sein. Gerade darin offenbart sich am deutlichsten, wie sehr innere und äußere Entwickelung sich bedingen; niemals aber begreift unser Historiker die auswärtige Politik eines Staates anders, als seine Kraftentwickelung innerhalb seines Umkreises.

Man redet so oft von Ranke’s Objektivität. Diese besteht eben in jener Auffassung vom Staate und ist nur eine andere Form seines Forschungsprincipes, das, wenn man es auf seinen Grund prüft, die mit philosophischem und religiösem Tiefsinn erfüllte, freiheitliche, universale, das heißt wissenschaftliche Anschauung der historischen Erscheinungen sein will. Diese zu sehen und zu schildern ist die Aufgabe: „die Begebenheit selbst in ihrer menschlichen Faßbarkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle.“ Alles hängt von dem obersten Gesetze ab: die sorgfältigste Erforschung des Einzelnen und die kühne, unbeirrte Erfassung des Ganzen; die Würdigung der Grundkräfte wie alle Schätzung der Persönlichkeit; denn „die großen Begebenheiten reißen Gemüth und Handlungsweise gewaltsam sich nach“, nur unter den Schicksalsmächten ihrer Epoche können wir die Individuen begreifen.

Und nun dürfen wir wohl auch nicht mehr von der Theilnahmlosigkeit oder der verstandesmäßigen Technik dieser objektiven Forschung sprechen, die sich in einer gewissen Kälte der Darstellung zeige. Der Schaden wäre schließlich zu ertragen, wenn nur das Princip gewahrt würde: „strenge Darstellung der Thatsachen, wie bedingt und unschön sie sei, ist ohne Zweifel das oberste Gesetz“. Für uns Jüngere übrigens ist ein Mangel an patriotischer Empfindung, wenn wir nur eben das Princip wahren, nicht mehr zu befürchten, nachdem sich die nationalen Gährungen unter der Doppelwirkung wissenschaftlicher Erkenntniß und politischer That im nationalen Staate abgeklärt haben: sie ist die Lebensluft, in der wir athmen; wie sollte sie also nicht auch unsere Versuche, die Vergangenheit neu zu denken, beleben! Nimmermehr aber dürfen wir darum für die Darstellung versäumen, was wir für die Forschung fordern: Beides hängt unlöslich zusammen; gemeinsam erst macht es einen Widerglanz der Weltereignisse möglich. Denn nur eben dies ist unsere Aufgabe, nicht Ausübung des Weltgerichtes, das Gottes ist und jenseit der Geschichte liegt. Wohl aber können wir die „göttlichen Geheimnisse“ ahnend fassen, wenn wir ihre irdische Erscheinung zu erkennen trachten. Mögen wir unsere Seele dafür empfänglich stimmen! Allzuviel nur des Persönlichen wird ja an den Gebilden unserer Erkenntniß haften bleiben, da sie durch unsere Persönlichkeit hindurch gehen. Unsere Seele ist nun einmal der Spiegel, in den die Urgestalten hinein fallen, aus dem sie wiederkehren müssen. So besitze sie also die krystallene Klarheit der Wahrhaftigkeit! Sollten wir aber nicht hoffen dürfen, daß die Bilder um so schärfer, farbiger, beseelter erscheinen werden, je heller ihre Spiegelfläche ist?

Freilich ist die Aufgabe für uns eine andere geworden als für den Begründer unserer Wissenschaft. Er konnte in stürmischer Bewegung die großen Linien ziehen, die Fundamente legen des Bildersaales der Zeiten. Er hat dann auch die Mauern, Pfeiler, Hallen errichtet und eine Fülle des Schmuckes hinzu gethan; an allen Wänden prangen seine Gestalten. Wir können nur weiter daran bauen und schmücken. Zahllos aber sind die Geschlechter, welche über den Erdball dahin gingen, unermeßlich ist die Summe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_231.jpg&oldid=- (Version vom 17.3.2024)