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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

gestanden, hatte ihn in Italien wieder aufgesucht, nachdem sie inzwischen einen Uhrmacher geheirathet; von diesem lernte der Prinz schon damals dies Handwerk, das er nun zu seinem Lebensberufe machte. Den Traditionen seiner Familie widersprach es durchaus nicht: war doch sein Vater, der König, ein vortrefflicher Drechsler gewesen.

Bei dieser Station seines Lebenslaufes müssen wir eine kurze Zeit Halt machen, denn von jetzt ab tritt der Uhrmacher Naundorff in eine solide und glaubwürdige Existenz ein. Sein bisheriger Lebenslauf ist aber der abenteuerlichste, der gedacht werden kann. Siebzehn Jahre mehr oder minder strenger Gefangenschaft hat er durchgemacht; die Befreiungen und Errettungen sind nicht minder wunderbar; nirgends wird mitgetheilt, wie die Befreier immer auf seine Spur gekommen; eine große Zahl von Personen ist seinetwegen aus dem Wege geräumt worden. Handelte es sich um einen Roman, so würde man die monotonen Wiederholungen der Verhaftung und Befreiung, die geringe Motivirung der Vorgänge, die Ueberladung mit grellen, zum Theil unglaubwürdigen Vorgängen als geschmacklos rügen müssen; einige allzu grelle Episoden im Geschmacke der neufranzösischen Romantiker haben wir nicht einmal erwähnt, wie daß man einmal in einem der Gefängnisse, um ihn zu entstellen, sein Gesicht mit Instrumenten zerstochen, die einem Bündel Nadeln glichen, und dann das Blut mit einem Schwamm fortgewaschen habe, der mit einer besondern Feuchtigkeit getränkt war. Alle diese Abenteuer machen den Eindruck des phantastisch Uebertriebenen.

Ein eifriger Advokat des Prätendenten könnte freilich auch dies benutzen, um zu seinen Gunsten zu plaidiren; denn in einem Briefe an eine ihrer Freundinnen (vom 26. Juli 1789) entwirft die Königin Marie Antoinette ein Bild des vierjährigen Prinzen, dessen Vorzüge sie mit mütterlicher Liebe schildert, dessen kleine Schwächen sie aber nicht verschweigt. In diesem Briefe heißt es: „Er ist sehr indiskret; er wiederholt leicht, was er hat sagen hören, und oft, ohne die Absicht zu lügen, fügt er hinzu, was nur seiner Phantasie angehört; es ist dies sein größter Fehler, den man ihm abgewöhnen muß.“ Sollte er sich nicht auf dies Zeugniß seiner Echtheit berufen können, so gut wie auf die aus einem Adergeflecht gebildete Taube, die er als besonderes Kennzeichen an sich trug und welche als solches ihm Vater und Mutter bezeichnet hatten? Gewiß, eine Reihe sehr wunderbarer Geschichten, aber wenn sie alle erlogen sind, so bleibt doch als das größte Wunder noch die Thatsache übrig, daß ein preußischer Uhrmacher sich für den Sohn des Königs Ludwig XVI. ausgegeben hat; denn man muß sich doch fragen, wie in aller Welt kam er dazu? Auch ist es Niemand gelungen, gleichsam das Alibi seiner Herkunft nachzuweisen; ja das Gerücht, daß er ein polnischer Jude sei, wies die preußische Regierung auf eine Anfrage der französischen als unbegründet zurück.

Die späteren Erlebnisse des Uhrmachers Naundorff sind zum großen Theile beglaubigt; aber immerhin noch abenteuerlich genug. Von Spandan war er nach Brandenburg übergesiedelt: dort gerieth er in Verdacht, schwere Verbrechen begangen, einen Postmeister bestohlen und ermordet, das Theater in Brand gesteckt, falsches Geld gemünzt zu haben. Alle diese Anklagen werden widerlegt; dennoch wird er zu dreijähriger Zuchthausstrafe als grober Betrüger verurtheilt, weil er sich für den Herzog der Normandie, den Dauphin von Frankreich während des Processes ausgegeben hatte. Doch wurde ihm ein Theil der Haft später erlassen; er hatte sich im Jahre 1818 mit einem braven Bürgermädchen, Johanna Einert, verheirathet. Bei seiner Freilassung wurde er bedeutet, er möge die Umgebung von Berlin verlassen. Er siedelte nach Crossen über, wo er sich kümmerlich ernährte; Freunde, die er dort gefunden, die sich seiner annahmen, der Justizkommissarius Petzold, Lauriskus, der an seine Stelle trat, sterben plötzlich; seine Papiere, die bei diesen liegen, werden mit Beschlag belegt: er entschließt sich jetzt, im Jahre 1832, nach Frankreich zu reisen.

Vergeblich hatte er seit langen Jahren an die Herzogin von Angoulème, an seine Oheime, an den Herzog von Berry geschrieben, vergeblich hatte jener Petzold Briefe an alle Fürsten und Gesandten gerichtet und eine Revision der Untersuchung Naundorff’s verlangt. In Frankreich selbst aber fand Naundorff eifrige Anhänger: eine Madame von Rambaud, die von der Geburt des Prinzen bis zum 10. August 1792 um ihn gewesen und die von seinen Mittheilungen und Erkennungszeichen sich ganz überzeugen ließ, Herrn und Frau San Marco de Hilaire, die ihn gleichfalls als Kind gekannt hatten, und Andere.

Während gegen verschiedene falsche Dauphins, welche inzwischen aufgetreten, wegen Betrugs der Kriminalproceß angestrengt wurde, verlangte Naundorff eine Untersuchung, wendete sich selbst an die Kammer, verfocht in einem eigenen Journale seine Rechte, gab sich alle Mühe, seine Sache vor Gericht zu bringen, doch das Gericht lehnte unter allerlei formellen Vorwänden die Untersuchung ab, und durch einen Akt der Kabinetsjustiz wurde Naundorff des Landes verwiesen; er ging nach London, wo er in bedrängten Verhältnissen lebte. Schon in Paris war in der Nähe des Palais Royal ein Attentat auf ihn gemacht worden; in London wurden zwei Pistolen auf ihn abgefeuert. Die Gegner behaupteten, diese Attentate seien von ihm selbst arrangirt worden; doch ist dies höchst unwahrscheinlich. Wenn sie auch nicht beweisen, daß er der echte Prätendent ist, so doch immerhin, daß man in einflußreichen Kreisen dies glaubte. Er siedelte dann nach den Niederlanden über, wo er in Delft am 10. August 1845 starb, an einem ominösen Kalendertage, welcher an den Sturz der Monarchie der Bourbons erinnert.

Seine Familie lebte längere Zeit in Dresden, wo seine Tochter Amélie durch ihre Aehnlichkeit mit Marie Antoinette Aufsehen erregte. Diese Prinzessin Amélie versammelt jetzt in Paris einen Kreis von Gläubigen um sich, welche, wie es scheint, nach dem Tode des Grafen Chambord den Dauphin Naundorff gegen den Grafen von Paris ausspielen.

Da bei der jetzigen Lage der monarchischen Parteien in Frankreich ein Abkömmling Ludwig’s XVI. für die Legitimisten von unschätzbarem Werthe wäre, so ist dies Prätendententhum gleichsam von Neuem auf die Tagesordnung gesetzt worden. Ebenso thätig ist natürlich die Opposition, welche den Mythus, der um das Haupt der Naundorff einen legitimen Heiligenschein heften will, zu zerstören sucht. So ist denn eben ein sehr umfassendes und wichtiges Werk über Ludwig XVII. erschienen, welches R. Chantelauze nach bisher noch nicht veröffentlichten Aktenstücken aus den nationalen Archiven verfaßt hat.[1] Das Werk beruht auf sehr sorgsamer Quellenforschung, ist aber trotzdem in jener geschmackvollen Form gehalten, in welche die Franzosen auch anscheinend spröde Stoffe einzukleiden wissen. Ein ausnehmend sympathisches Bild des jungen Dauphin, mehrere Bilder, Pläne und Umrisse des Temple sind die Illustrationen, die es schmücken. Chantelauze erwähnt die falschen Dauphins nur gelegentlich; sein ausschließliches Streben ist darauf gerichtet, den Beweis zu liefern, daß Ludwig XVII. im Temple gestorben ist, womit ja jedem Prätendententhum der Boden unter den Füßen fortgezogen wird.

Unter dem König Ludwig XVIII. stellte der Minister Decazes genaue Untersuchungen über diesen Tod an und ließ alle Personen ermitteln, die zu jener Zeit oder kurz vorher im Temple Dienste gethan oder anwesend waren. Die Protokolle dieser Untersuchung werden hier zum ersten Male veröffentlicht. Bisher wurde nur der eine Wächter des Temple, Lasne, in dessen Armen der Prinz gestorben, als Zeuge für den Tod desselben angeführt: dies Zeugniß suchte man damit zu entkräften, daß derselbe den Prinzen früher nicht gekannt habe. Jetzt aber wird uns ein neuer und sehr wichtiger Zeuge vorgeführt, der Civilkommissar Damont, der ebenfalls bei dem Tode des Prinzen zugegen war, welcher ausdrücklich erklärt, diesen früher gekannt und gesehen zu haben, als er an der Hand der Königin in seinem kleinen Garten auf der Terrasse der Tuilerien spazieren ging. Und noch mehr – einige zwanzig Municipalgardisten der abziehenden und der später aufziehenden Wache seien zur Leichenschau von ihm herbeigerufen worden; die Mehrzahl hätte den Prinzen gekannt und jetzt wiedererkannt. Das ist der wichtigste Punkt in dem Werke von Chantelauze: ist Damont ein verläßlicher Zeuge, so bricht das ganze Gerüst des Prätendententhums zusammen.

Von der Glaubwürdigkeit Damont’s hängt es ab, ob Prinzessin Amélie an den Gräbern von Saint-Denis zu ihren Ahnen beten kann oder als schlichtbürgerliche Uhrmacherstochter wieder von der Weltbühne abtreten muß.


  1. Louis XVII., son enfance, sa prison et sa mort au temple, par R. Chantelauze (Paris, Firmin Didot et Cie. 1884).




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