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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

der Trauschein, das Taufzeugniß meines Enkels, diese Papiere müssen sich im Nachlaß finden. Und deßhalb komme ich zu Ihnen, Herr Landrath – es widerstrebt mir, einen Rechtsanwalt hineinzuziehen. Ich lege die Sache in Ihre Hände.“

„Ich nehme sie an,“ versetzte Herbert. „In diesen Tagen werden die Siegel abgenommen, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß Alles geschehen soll, um Licht in die Angelegenheit zu bringen!“

„Ich danke Ihnen innig!“ sagte der alte Mann und reichte ihm die Hand. Dann verbeugte er sich nach der Richtung, wo die Frau Amtsräthin stand, und ging hinaus.

Eine kurze Zeit blieb es still im Zimmer, so bedrückend still, wie es nach dem ersten Windstoß eines heranziehenden Gewitters zu sein pflegt – man hörte nur das Knistern der Papiere, die Herbert aus dem Kouvert nahm und entfaltete, während die Amtsräthin wie geistesabwesend nach der Thür starrte, hinter welcher „der Unglücksmensch“ verschwunden war … Nun aber raffte sie sich auf.

„Herbert,“ rief sie entrüstet ihrem lesenden Sohn zu, „kannst Du wirklich Deine Mutter in ihrer furchtbaren Aufregung und Erbitterung vor Dir stehen sehen, während Du Dich in das lügenhafte Geschreibsel jener erbärmlichen Kokette vertiefst?“

„Es ist kein lügenhaftes Geschreibsel, Mama,“ sagte er aufblickend, sichtlich erschüttert.

„Ah, Du bist gerührt, mein Sohn? … Nun, das Papier ist geduldig, und die schöne Dame wird selbstverständlich alle ihre Schreibekünste aufgeboten haben, um den Eltern gegenüber ihrem Fehltritt ein Mäntelchen umzuhängen … Und ein Mann wie Du läßt sich auch bethören und glaubt darauf hin –“

„Ich habe schon vorher geglaubt, Mama.“

„Lächerlich! – Das Gerede eines alten, halbblöden Mannes –“

„Liebe Mama, gieb es auf, Dich und mich mit falschen Vorspiegelungen beruhigen zu wollen; sieh lieber der Wahrheit gefaßt ins Auge! … Mit den ersten erklärenden Worten des alten Malers war es, als würde mir eine Binde von den Augen gerissen. Balduin’s ganzes räthselhaftes Gebahren während der letzten Jahre, zu welchem wir vergebens den Schlüssel gesucht haben, es liegt entschleiert vor mir! Er hat einen furchtbaren inneren Zwiespalt mit sich herumgetragen. Hätte ihm der Tod nicht diese zweite Frau entrissen, dann wäre es anders gekommen. Das schöne, hochgebildete Weib an seiner Seite, hätte er es wohl über sich vermocht, nach Jahr und Tag mit ihr in die heimischen Verhältnisse zurückzukehren. So aber ist der Zauber gebrochen gewesen. Ihm ist nichts geblieben, als die Thatsache, daß er der Schwiegersohn des alten Lenz sei, und da hat der Feigling in ihm gesiegt – der erbärmliche Feigling!“ zürnte er. „Wie hat er es übers Herz bringen können, den Knaben, diesen prächtigen Jungen, der sein Stolz sein mußte, in seinem eigenen Hause, im Vaterhause des Kindes zu verleugnen? Wie hat er’s ertragen, daß Reinhold’s schielender Neid oft genug den kleinen Bruder tückisch getreten hat? … Armer, kleiner Kerl! Wie er mir am Sarge des Verstorbenen ins Ohr flüsterte: ‚Ich will ihn lieber auf den Mund küssen, er hat mich auch manchmal geküßt, im Thorweg, wo wir ganz allein waren –‘“

„Siehst Du, mein Sohn, das Alles beweist nur, daß ich Recht habe, daß dieser ‚prächtige Junge‘ ein – Bastard ist,“ unterbrach ihn die Amtsräthin. Sie war ganz ruhig geworden; es spielte sogar ein überlegenes Lächeln um ihren Mund. „Den Hauptgrund aber, weßhalb Balduin eine zweite Ehe nicht eingehen konnte und durfte, scheinst Du ganz zu übersehen: sein Gelöbniß, das Fanny mit ins Grab genommen hat –“

„Ja, das ist’s, was ich meiner Schwester nur schwer verzeihen kann!“ sagte Herbert fast heftig. „Es ist eine Grausamkeit, eine Unnatur ohne Gleichen, den Trennungsschmerz eines Zurückbleibenden zu benutzen, um solch einen unglückseligen Mann für Lebenszeit an eine Todtenhand zu schmieden –“

„Nun, darüber wollen wir nicht streiten; ich sehe das mit anderen Augen an und sage mir, daß uns dieser Umstand die beste Gewähr ist und bleibt. Denke an mich, die Papiere werden sich nicht finden – sie haben nie existirt! … Nun, desto besser! Die Sache läßt sich mit Geld abmachen; das Vermögen der beiden rechtmäßigen Erben wird freilich bluten müssen; allein was hilft es? Das kann in aller Stille abgewickelt werden und ist doch dem Skandal, einen Stiefbruder so vulgärer mütterlicher Abkunft zu haben, weit vorzuziehen.“

Ihr Sohn sah ihr starr ins Gesicht. „Sprichst Du im Ernste, Mutter?“ fragte er gepreßt. „Du ziehst es vor, den Verstorbenen mit der Schuld eines ehrlosen Verführers in der Erde belastet zu sehen? Großer Gott, bis zu welcher Unmoralität verirrt sich doch das unselige Standesvorurtheil! … War Fanny nicht auch die Tochter eines Bürgerlichen? Und war ihre eigene Mutter, die erste Frau meines Vaters, nicht auch ein einfaches Mädchen aus dem Volke gewesen?“

„Recht so! Schreie diese Thatsachen in die Welt hinaus, jetzt wo wir im rapiden Steigen begriffen sind!“ zürnte die alte Dame mit unterdrückter Stimme. „Ich begreife Dich nicht, Herbert. Woher auf einmal diese penible Auffassung?“

„Ich habe nie anders gedacht,“ rief er empört.

„Nun, dann ist es Deine Schuld, wenn ich mich irrte. Weiß man doch nie, wie Du denkst. Ein intimeres Aussprechen, wie es sich zwischen Mutter und Sohn eigentlich von selbst versteht, giebt es bei uns nicht – man tappt Dir gegenüber stets im Finstern … Uebrigens denke Du über die Sache, wie Du willst, ich stehe fest auf meinem Standpunkt. Ich ziehe es in der That vor, eine mit Geld aufgewogene, gesühnte und verschwiegene Schuld in der Familie zu wissen, als plötzlich die liebe Muhme oder Base von Krethi und Plethi zu werden … Dann möchte ich aber auch fragen: Hast Du denn gar kein Herz für Fanny’s Kinder? Wenn ein dritter rechtmäßiger Erbe auftritt, so erleiden sie einen ungeheuren Verlust.“

„Es bleibt ihnen immer noch mehr als genug –“

„In Deinen Augen vielleicht; aber nicht in denen der Welt … Gretchen ist eine der ersten Partien im Lande, und wenn sie auch kopflos genug die glänzendsten Aussichten jetzt noch von der Hand weist, so wird und muß doch eine Zeit kommen, wo sie verständig wird und die Dinge ansieht, wie sie sind. Wie es aber um diese ihre brillanten Aussichten stehen würde, wenn ein Drittel des Lamprecht’schen Vermögens einem Nachgeborenen zufiele, darüber bin ich keinen Augenblick im Zweifel.“

„Ein Mädchen wie Margarete wird begehrt werden, auch wenn ihr Vermögen noch so sehr zusammenschmilzt,“ erwiderte Herbert. Er war ans Fenster getreten, wo er abgewendet von seiner Mutter verharrte. „Je weniger, desto besser!“ setzte er fast murmelnd hinzu.

Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Die Grete? Ohne Geld? Was machst Du Dir für Illusionen, Herbert! – Nimm ihr diesen Nimbus, und das schmächtige Ding wird sein wie ein armer Vogel, dem man allen Federschmuck ausgerupft hat! … Nun wahrhaftig, fast möchte ich wünschen, Du kämest nach meinem Tod in die Lage, das Mädchen unter die Haube bringen zu müssen!“

„Das sollte mir nicht schwer werden,“ sagte er mit einem unmerklichen Lächeln.

„Ein klein wenig schwerer denn doch, als wenn Du einen neuen Schreiber anzustellen hättest – das glaube Deiner alten Mutter, mein Sohn!“ entgegnete sie spöttisch. „Aber wozu um des Kaisers Bart streiten!“ schnitt sie kurz den Wortwechsel ab. „Wir sind Beide erregt; ich über die Unverschämtheit des Menschen, der uns eine Bombe ins Haus wirft, welche sich, näher besehen, als ein Schreckschuß erweist, und Du, weil Dir das Seelenbekenntniß einer ehemaligen Flamme zu Gesicht gekommen ist … Wenn wir ruhiger geworden sind, dann wollen wir weiter sprechen … Selbstverständlich bleibt die Angelegenheit vorläufig unser Beider Geheimniß. Die Kinder, Margarete und Reinhold, erfahren es noch zeitig genug, wenn es gilt, die Abfindungssumme aus ihrem Erbe zu entnehmen, um – für die unselige Verirrung ihres Vaters zu büßen – arme Kinder!“

Damit verließ sie das Geschäftszimmer ihres Sohnes.


22.

Heute lag die Sonne breit über der Stadt, eine bleiche, machtlose Wintersonne, die vergeblich an dem frostgehärteten Schneepanzer der Dächer sog und leckte. Wohl rannen einzelne feine Wasserfäden abwärts, allein sie blieben als kleine silberne Franzen an der Dachrinne hängen. Die zarten, sehnsüchtigen Zimmerblumen hinter den Fenstern freuten sich aber trotzalledem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_259.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2024)