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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

des blassen Sonnenlächelns, und Papchen im Salon der Frau Amtsräthin schrie und lärmte, als seien die Goldfunken, die seinem Messingring und den glänzenden Bilderrahmen an den Wänden entsprühten, eitel Sommerglanz, der hinunter ins Grüne des Hofes locke … Papchen war aber auch extra vergnügt. Er hatte seit Langem nicht so viel Kosenamen, soviel Biskuit und Zuckerbrot von seiner Herrin erhalten, als heute. Es war überhaupt, als fliege noch ein besonderer Sonnenschein durch die vornehme obere Etage des Lamprechthauses. Die Bettelkinder bekamen mehr Brot und weniger Strafpredigten als gewöhnlich, die Köchin verließ öfter als billig ihren Kochherd, um den schönen, fast noch neuen Hut immer wieder aufzuprobiren, den ihr die Frau Amtsräthin geschenkt hatte, und das Stubenmädchen überlegte unter lustigem Trällern, wie sich wohl ihr Geschenk, ein Kachemirkleid der alten Dame, am schönsten modernisiren lasse.

Drunten in der Lamprecht’schen Küche sah es anders aus, weil man ja doch ein Herz und keinen Stein in der Brust hatte, wie Bärbe immer sagte. Um das Packhaus hatte man sich freilich nicht zu kümmern, wie es seit Jahren Brauch und Gesetz im Vorderhause war; aber wenn in einer Wohnung, „nur über den Hof ’nüber“ eine Schwerkranke lag, da konnte es doch ein Christenmensch nicht fertig bringen, zu thun, als sei dieses Haus ein bloßer Steinhaufen, in welchem keine menschlichen Herzen lebten, die in Angst und Bedrängniß schlugen. Und deßhalb war man still und gedrückt in der Küche und hantirte unwillkürlich geräuschloser als sonst üblich.

Bärbe hatte gestern gegen Abend Wasser am Hofbrunnen geschöpft, und da war auch die Aufwärterin aus dem Packhause gekommen, um einen frischen Trunk zu holen. Die Frau hatte tief alterirt erzählt, daß Frau Lenz vor einigen Stunden einen Schlaganfall gehabt habe; sie könne nicht sprechen und die linke Seite sei gelähmt – der Doktor, der noch an ihrem Bette sitze, nehme die Sache sehr bedenklich. Und die Thränen waren ihr aus den Augen geschossen bei der Schilderung, wie der alte Herr Lenz todtenblaß im Zimmer auf- und abgehe und die Hände ringe und in seiner Angst und Herzensnoth nicht einmal einen Blick für den kleinen Max habe, der in einer Ecke am Bett der Großmama kauere, ihr immerfort in das entstellte Gesicht sähe und auch nicht den kleinsten Mundbissen zu sich nähme. Und dann hatte sie der alten Köchin weiter ins Ohr geraunt, Frau Lenz habe schon den ganzen Tag über sehr aufgeregt ausgesehen, und Nachmittags sei der alte Herr nach Hause gekommen, ganz weiß im Gesicht und mit einer so heiseren Stimme, als verlechze ihm die Kehle … Sie, die Aufwärterin, sei in die Küche an ihre Aufwaschgelte gegangen; aber gleich darauf habe sie einen dumpfen Fall gehört und das sei drüben im Zimmer die Frau Lenz gewesen, die zu Boden gestürzt sei … Was geschehen sein müsse, worüber sich die arme Frau erschreckt habe, wisse sie nicht, hatte die Aufwärterin gesagt. Aber die Frau Amtsräthin wußte es – der Landrath hatte den alten Lenz auf das Amt kommen lassen, um ihm die unerbittliche Thatsache mitzutheilen, daß sich nichts, auch nicht das kleinste Papierblättchen, nicht die geringste Notiz, weder über den gesetzlichen Ehevollzug des verstorbenen Kommerzienrathes mit seiner zweiten Frau, noch bezüglich des nachgeborenen Sohnes, im Nachlaß gefunden habe. – –

Das Geheimniß, das vom Packhause herüber mit seinen Fäden das stolze Vorderhaus zu umspinnen gedroht hatte, schien somit dem Dunkel verfallen, das so viele ungelöste Räthsel der Welt für alle Zeiten deckt. Noch blieb dem alten Lenz allerdings die persönliche Nachforschung in den Kirchen von London, wo die Trauung seiner Tochter, die Taufe seines Enkels stattgefunden; allein in dem Briefe der jungen Frau war die Kirche nicht genannt, in welcher sie „als glückseliges Weib an seiner Seite gestanden und den Ehering empfangen habe. … Der alte Lenz hatte ferner dem Landrath erzählt, er habe eines Tages von der Pflegerin seiner Tochter, die zugleich ihre Freundin gewesen, die Nachricht erhalten, daß ihm ein Enkel geboren sei, und drei Tage darauf sei ein Telegramm eingelaufen mit der Meldung, daß die junge Frau im Sterben liege. Er habe zwar schleunigst die Reise nach London angetreten, um sein einziges Kind noch einmal zu sehen, sei aber doch zu spät gekommen – die Erde habe sie bereits gedeckt. – Das Heim seiner Tochter, eine wahrhaft fürstlich eingerichtete Wohnung, habe er verlassen gefunden; nur die Pflegerin sei noch dagewesen, um auf Befehl des Kommerzienrathes alles Mobiliar versteigern zu lassen. Sie habe ihm mitgetheilt, daß der Kommerzienrath, nachdem er die letzte Handvoll Erde auf den Sarg der Verstorbenen geworfen, sofort abgereist sei. Er habe sich wie ein Wahnsinniger geberdet, so daß sie ihm meist angstvoll aus dem Wege gegangen. Seinen Knaben habe er nicht einmal angesehen, geschweige denn geliebkost – weil das arme Kind die Veranlassung zu Blanka’s Tode gewesen. Trotzdem habe er den kleinen Neugeborenen sammt der Amme mit sich genommen, denn London wolle er nicht wiedersehen, sollte er gesagt haben. Den ganzen Nachlaß der Verstorbenen an Kleidungsstücken, Leibwäsche und dergleichen habe er ihr für die Pflege geschenkt, hatte die Dame hinzugesetzt, aus dem Schreibtisch aber habe er alle Briefschaften und sonstigen Papiere an sich genommen. Nicht ein beschriebenes Blättchen sei mehr in den Fächern zu finden gewesen, hatte der alte Lenz dem Landrath weiter berichtet, und ein solch schriftliches Andenken von seiner Tochter sei das Einzige gewesen, das er sich gewünscht, auf welches er Anspruch gemacht habe. So sei ihm nichts geblieben, als ihr kleiner Liebling, das Hündchen Philine, das verlassen in einer Zimmerecke gekauert und ihm dankbar die liebkosende Hand geleckt habe … Erst nach Jahresfrist sei damals der Kommerzienrath in seine deutsche Heimath zurückgekehrt, ein völlig verwandelter Mann, dessen Ausbrüche der Verzweiflung die alten Eltern seines heimgegangenen Weibes tief erschüttert und geängstigt hätten … Im Dunkel der Nacht sei er zu ihnen gekommen. Da erst hätten sie erfahren, daß er den kleinen Max nach Paris in die Pflege der Wittwe eines verstorbenen Geschäftsfreundes, einer hochgebildeten, ausgezeichneten Frau, gegeben habe. Das Kind sei damals gut aufgehoben gewesen; der Kommerzienrath habe mit der Dame unausgesetzt korrespondirt und sei stets von Allem genau unterrichtet gewesen, was seinen kleinen Sohn angegangen; dagegen habe er sich nie entschließen können, das Kind selbst wiederzusehen … Nun sei aber vor einem Jahre die Dame in Paris plötzlich gestorben und der Kommerzienrath habe den Entschluß ausgesprochen, den Knaben in einem Institut unterzubringen. Dagegen sei indeß Frau Lenz entschieden aufgetreten: das Kind sei noch zu jung, es brauche nothwendig noch das ruhige, beglückende Leben, die Pflege inmitten der Familie, und nunmehr reklamire sie als Großmutter den Knaben; sie habe lange genug die Sehnsucht nach Blanka’s Kinde unterdrücken müssen; und erschreckt durch ihre Drohung, die Hilfe seiner Verwandten anzurufen, falls er auf seinem Vorhaben bestehe, habe er den kleinen Max eines Tages in die deutsche Heimath, in das großelterliche Haus bringen lassen … Wie ein Wunder habe sich damals eine plötzliche Umwandlung vollzogen; beim Anblick des schönen, intelligenten Knaben sei wie mit einem Schlag die tiefste Vaterzärtlichkeit unwiderstehlich in dem Herzen des finsteren Mannes erwacht. Oft sei er spät Abends ins Packhaus gekommen und habe stundenlang schweigend am Bett des schlafenden Kindes gesessen, sein Händchen in der seinen haltend. Er habe sich auch mit großen Plänen für die Zukunft dieses seines nachgeborenen Sohnes getragen.

Das Alles hatte der alte Maler schlicht und einfach dem Landrath im stillen Amtszimmer mitgetheilt, und wenn noch ein Zweifel in Herbert’s Seele gelebt hätte, vor der schmucklosen Darstellung des tiefbewegten alten Mannes wäre er sofort verflogen. Aber hier entschied nicht die festeste Ueberzeugung, und wäre sie die der ganzen Welt gewesen, sondern der Buchstabe, das „Schwarz auf Weiß“. „Ohne gesetzlich beglaubigte Dokumente schweben alle Ansprüche rechtlos in der Luft, deßhalb reisen Sie!“ hatte Herbert gesagt. „Sie werden auf große Schwierigkeiten stoßen und viel Zeit und Geld brauchen; aber um Ihrer gerechten Sache willen werden Sie die Schwierigkeiten nicht scheuen und Ihre Zeit gern opfern, und das Geld, nun das wird sich schon zur rechten Zeit finden, darum sorgen Sie sich nicht!“ Das war wenigstens ein schwacher Trost, ein Strohhalm gewesen, an den man sich in der Bedrängniß klammern konnte; aber diesen Trost hätte der alte Mann seiner Frau nicht einmal geben können – schon bei seinen ersten Worten war sie vor seinen Augen zusammengebrochen …

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_260.jpg&oldid=- (Version vom 23.3.2024)