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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

an mich, und ob der Großpapa sich an das Kind so schnell gewöhnen wird, um es neben mir in seiner Nähe zu dulden, das steht doch sehr in Frage. Ich muß dann meine Zeit zwischen ihnen theilen.“

„Ganz recht,“ gab er zu. „Und die Sache hat auch noch eine Seite, die beleuchtet sein will. Nichts ist natürlicher, als daß sich die Jugend zur Jugend gesellt; wir zwei alten Leute – mein guter Papa und ich – können mithin nicht von Dir verlangen, daß Du Dich für uns allein aufopferst. Aber lasse mit Dir handeln – dann und wann ein Abendplauderstündchen, willst Du?“

Sie wandte sich mit einem schattenhaften Lächeln nach ihm um, und er griff nach seinem hohen Hute, den er auf den Tisch gelegt hatte – sein nicht zugeknöpfter Ueberzieher ließ einen tadellos eleganten Gesellschaftsanzug sehen.

Er bemerkte ihren befremdeten Blick. „Ja, es liegt heute noch Vieles vor mir,“ sagte er erklärend. „Zunächst habe ich die Aufgabe, meinem Vater Mittheilung von dem Umschwunge der Verhältnisse in Eurer Familie zu machen, und dann“ – er zögerte einen Moment, dann fügte er um so rascher hinzu: „Du bist die Erste, die es erfährt, selbst meine Mutter weiß es noch nicht – dann gehe ich nach dem Prinzenhof zur Verlobung.“

Sie wurde schneeweiß über das ganze Gesicht, und ihre Rechte hob sich unwillkürlich nach dem Herzen. „Dann darf ich Dir ja wohl jetzt schon Glück wünschen?“ stammelte sie tonlos.

„Noch nicht, Margarete,“ wehrte er ab, und auch in seinen Zügen malte sich plötzlich eine tiefe innere Bewegung; aber er unterdrückte sie rasch. „Heute Abend, wenn ich nach Dambach komme, um von da nach der Stadt zurückzukehren, sollst Du Gelegenheit haben ,den Onkel‘ glücklich zu sehen.“

Er winkte mit der Hand nach ihr zurück und ging mit eiligen Schritten hinaus. Bald darauf sah sie ihn über den Markt reiten.

Sie blieb, bewegungslos am Fenster stehen. Die krampfhaft verschränkten Hände fest auf die Brust gedrückt, starrte sie in das Stück Himmel hinein, das sich heute durch einen schmutzig grauen Wolkendunst getrübt, über den weiten Marktplatz spannte. … Wohl durchkreiste das Blut in wilder Wallung ihre Adern, und doch fühlte sie sich tödlich matt, als sei sie mit einem Streiche zu Boden gestreckt worden. … Ja, dahin war sie gekommen! Vor wenigen Monaten noch war ihr die Welt zu eng gewesen, himmelstürmend in Uebermuth, Jugendlust und Freiheitsdrang hatte sie jede Fessel verlacht, und heute dominirte in dem armseligen Bischen Gehirn ein einziger Gedanke, und ihre arme Seele wand sich kläglich hilflos am Boden, zum Gaudium all Derer, die gern am Boden kriechen, die stolze Seelen hassen und verfolgen. Aber mußte denn die Welt um die Wunden wissen, die ihr in Kopf und Herzen brannten? Gingen nicht Viele durchs Leben und nahmen Geheimnisse mit ins Grab, um die kein Mitlebender gewußt hatte? Und dazu mußte auch sie die Kraft finden. Sie mußte lernen, ruhig in ein Paar Augen zu blicken, welche die größte Macht über sie hatten; sie mußte es über sich gewinnen, zuvorkommend mit einer schönen Frau zu verkehren, die sie verabscheute, und in einem Heim aus- und einzugehen, in welchem diese Frau als Herrin, als ihre hochgeborene Tante schaltete und waltete.

Später kam sie in die Wohnstube herunter und rüstete sich zur Fahrt nach Dambach. Tante Sophie schalt, daß sie den Kaffee stehen lasse und den Kuchen nicht anrühre, den die zerknirschte Bärbe heute Morgen einzig und allein für sie gebacken habe; allein das junge Mädchen hörte kaum, was sie sagte. Sie knüpfte schweigend die Hutbänder unter dem Kinne; dann legte sie den Arm um Tante Sophiens Hals – und da überkam sie eine plötzliche Schwäche, nämlich der tiefe, sehnsüchtige Wunsch, hier, wie sonst in ihrer Kindheit in jeglicher Bedrängniß, Zuflucht zu suchen und in das Ohr der Tante Alles zu flüstern, was ihr Inneres durchtobte – unter dem Zureden der treuen Pflegerin war sie ja stets ruhiger geworden. Aber nein, das durfte nicht geschehen! Die Tante durfte nicht den Jammer erleben, sie so unglücklich zu wissen!

Und so schloß sie die Lippen fest auf einander und bestieg den Wagen.

Draußen, jenseit der Stadt, ließ sie das Glasfenster herunter. Von Süden her kam ein leichter Wind und wehte sie an mit jenem süßen Hauche, der das starre Eis zu rinnenden Thränen zwingt, der die Schneelast von Baum und Strauch löst und ein wundersames Regen in Allem weckt, was da lebt und webt, auch – im Menschenherzen – es war Thauwetter im Anzuge. … Und weich wie die Luft lag auch das erste Abenddämmern auf der Gegend; die harten, unvermittelten Töne der winterlichen Tagesbeleuchtung erloschen zu einem einzigen milden Grau, aus welchem bereits da und dort das Lampenlicht vereinzelter Dorfhäuser auftauchte. Und dort zur Rechten flimmerte es, als liege eine Perlenkette in schwachgoldigem Glanze zu Füßen der alten Nußbäume – die ganze Fensterreihe des Prinzenhofes war beleuchtet, die Verlobungskerzen brannten. …

Sie drückte sich tief in die Wagenecke, und erst als der Kutscher von der Chaussee ab in den Fahrweg nach der Fabrik einlenkte und der Prinzenhof im Rücken liegen blieb, da sah sie auf, scheu und ungewiß, fast wie ein furchtsames Kind, das sich zu vergewissern sucht, ob eine unheimliche Erscheinung auch in der That verschwunden sei.

Der Großpapa empfing sie mit freudigem Zurufe, und bei dem Laute der lieben, rauhen Stimme raffte sie sich auf und suchte möglichst unbefangen seinen Gruß zu erwidern. Aber der alte Herr war heute auch ernster als sonst. Zwischen seinen Brauen lag ein Zug finsteren Grolles. Er rauchte nicht, seine Lieblingspfeife lehnte kalt in der Ecke, und nachdem die Enkelin Hut und Mantel abgelegt, nahm er seine Wanderung durchs Zimmer, welche Margarete durch ihre Ankunft unterbrochen hatte, wieder auf.

„Ja gelt, wer hätte das gedacht, Maikäferchen?“ rief er, plötzlich vor ihr stehen bleibend. „Ein Narr, ein vertrauensseliger Schwachkopf ist Dein alter Großvater gewesen, daß er die Augen nicht besser aufgemacht hat! Nun kommt das wie ein plötzlicher Hagelschauer aus blauem Himmel über Einen her, und man steht da wie in den April geschickt und muß die Bescherung hinnehmen und ,Ja und Amen‘ dazu sagen, als wenn man’s gar nicht anders erwartet hätte.“

Sie schwieg und sah zu Boden.

„Arme Kleine, wie verstört und elend Du aussiehst!“ sagte er, indem er die Hand auf ihren Scheitel legte und ihr Gesicht der Lampe zuwendete. „Nun, ein Wunder ist’s nicht! Schwerenoth noch einmal, das ist mehr als genug, um einen alten Kerl wie mich außer Rand und Band zu bringen! Und Du verbeißest es und trägst es still und tapfer! … Herbert sagt, wie ein Mann, ein braver, muthiger Kamerad habest Du neben ihm gekämpft.“

Sie wurde feuerroth und sah ihn an, als schrecke sie aus einem Traume empor. Er sprach von den Enthüllungen in ihrer Familie, während sie gemeint hatte, sein Groll gelte Herbert’s Verlobung. … Es stand schlimm um sie! So ausschließlich beherrschte sie der Gedanke an das, was zu dieser Stunde drüben im Prinzenhofe vorging, daß alles Andere daneben spurlos versunken war.

„Aber nun paß auf, Kind!“ hob er wieder an. „In der Kürze wird man uns in unserem guten Krähwinkel auf das Allerschönste zerzausen. Die Klatschbasen haben vollauf zu thun, und es soll mich nur wundern, wenn sie nicht den Ausrufer auf den Markt schicken und die pikante Geschichte, so da geschehen im Hause Lamprecht, ausschellen lassen. … Na, thut Nichts! Um das Gerede in der Stadt hab’ ich mich mein Lebtag nicht gekümmert, und die Sache an sich wird ja wohl auch zu ertragen sein; nur Eines verwinde und verzeihe ich nicht – pfui Teufel über die Feigheit, die Grausamkeit, mit der ein Vater sein Kind verleugnet und –“

„Großpapa!“ unterbrach ihn Margarete flehentlich bittend und legte ihre Hand auf seinen Mund.

„Nun, nun,“ brummte er und schob die kleinen kalten Finger von seinem Schnauzbarte, „ich will still sein, um Deinetwillen, Gretel. Ich will Dir auch das Leben nicht sauer machen mit ungewünschten Rathschlägen und zudringlichen guten Lehren; denn Du wirst selbst am besten wissen, daß Ihr viel gut zu machen habt an dem kleinen Burschen, der Euch ins Haus gefallen ist, und auch an dem armen Kerl, dem alten Lenz. … Möcht’ nur wissen, wie der’s fertig gebracht hat, nicht mit beiden Beinen hineinzuspringen in die Geschichte und von dem – na, von Deinem Vater, gleich zu Anfang das klare Recht für den Jungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_322.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2024)