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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

zu fordern! Na ja, ein Künstler, eine stille Mondscheinnatur! – wie soll da der Ingrimm, die Empörung hineinkommen!“ –

Die Frau Faktorin hatte einen schönen Abendtisch hergerichtet; aber Margarete konnte nicht essen. Sie bediente den Großpapa und sprach lebhaft dabei, und nach Tische stopfte sie ihm eine Pfeife. Dann packte sie seine Bücher in eine Kiste und trug Alles herbei, was sich zur morgigen Fahrt nöthig machte. Sie lief treppauf, treppab, und da blieb sie plötzlich an einem Fenster der unbeleuchteten Oberstube stehen und preßte beide Hände gegen die Brust, in welcher das Herz zu zerspringen drohte. Fast greifbar nahe blitzten dort die hohen, lichtfunkelnden Fenster des Prinzenhofes durch das Nachtdunkel herüber, und bei diesem Anblicke brach der letzte Rest von Selbstbeherrschung, den sie mit fast übermenschlicher Kraft dem Großpapa gegenüber behauptet hatte, in ihr zusammen.

Mit einem Jammerlaute aus tiefster Brust warf sie sich auf das nahestehende Sofa und wühlte das Gesicht in die Polster. Da zogen sie nun sieghaft an ihr vorüber, die Bilder, denen sie hatte entrinnen wollen! Sie sah frohe, glückliche Menschen in den blumendurchdufteten, strahlenden Räumen des kleinen Schlosses, sah vor Allem die Braut, die blonde Schönheit, die das Fürstenblut in ihren Adern nicht geltend machte, die ihren stolzen Namen aufgehen ließ in dem eines bürgerlichen Beamten, um ihrer Liebe willen. Und er daneben – sie sprang auf und floh aus dem Zimmer.

Drunten saß der Amtsrath in seiner Sofa-Ecke hinter dem Tische. Er war offenbar ruhiger geworden, denn er las die Zeitung und rauchte seine frischgestopfte Pfeife.

Margarete griff nach ihrem Mantel. „Ich muß einen Augenblick in die frische Luft hinaus, Großpapa!“ rief sie von der Thür her dem Lesenden zu.

„Geh’ Du, Kind,“ sagte er. „Wir haben Südwind, der löst die Spannung in der Natur und ihren Kreaturen und macht Vieles gut, was der Mosje Isegrim vom Nordpole her verbrochen hat.“

Sie ging hinaus, an dem Teiche vorüber, der, hartgefroren unter seiner Schneedecke, kaum vom Wege zu unterscheiden war. In den Fabrikräumen brannte längst kein Licht mehr – es war still im Hofe; und nur der grimme Kettenhund kam aus seiner Hütte und schlug an, als die junge Dame das Thor passirte.

Draußen über die Felder her sauste der Thauwind, der in der hereingebrochenen Nacht allmählich zum Sturme anwuchs; er zerwühlte das unbedeckte Haar der Dahinschreitenden, aber ihr Gesicht badete er gleichsam in weichen, feuchten, schmeichelnden Wogen.

Es war sehr dunkel; auch nicht das kleinste Sternenlicht blinzelte der Erde zu; der Himmel hing voll schwerer, tiefgehender Wolken, die jedenfalls in dieser Nacht noch als warmer Regen niederrieselten. Dann war allerdings die Spannung gelöst, und es tropften wohlthätige Thränen von Ast und Zweig und nahmen der Mutter Erde den weißen Todtenschleier vom Gesicht. Ja, wer sich ausweinen konnte! Aber so mit trockenen, brennenden Augen in ein Leben voll unausgesprochener Schmerzen hinein sehen zu müssen –!

Wohinaus sie wollte? Immer dem Lichte nach, dem verderblichen Lichte, das dem Nachtfalter die Flügel verbrennt und ihn tödtet! … Und wenn ihr dort aus den Fenstern lodernde Flammen entgegen geschlagen wären, sie hätte den Fuß nicht rückwärts zu wenden vermocht! Weiter, weiter, selbst in den Tod hinein, wenn es sein mußte!

Sie lief mehr, als sie ging, den festgetretenen Weg entlang, der das Ackerland durchschnitt. Noch knirschte der Schnee unter ihren Füßen; das war bisher der einzige Laut gewesen, der die Nachtstille unterbrochen; aber nun, nachdem auch die Chaussee überschritten war und das weite Parterre des Prinzenhofgartens sich vor ihr hinbreitete, da trug ihr der Wind rauschende Akkorde zu – im Schlosse wurde Klavier gespielt. Da saß die Braut am Flügel – keine zarte heilige Cäcilie mit durchgeistigtem Gesichte, weit eher eine Rubensgestalt von üppiger Fülle und blühendstem Inkarnat – das volle Blondhaar glitzerte im Lichte der Kronleuchter, und die schöngebogenen Finger glitten über die Tasten – aber, nein, unter ihren Fingern erbrauste das Instrument nicht in so erschütternd beseelter Weise, Heloise von Taubeneck spielte stümperhaft und geistlos, wie sie neulich zur Genüge gezeigt hatte! – Aber wer es auch sein mochte, der da spielte, er hatte Theil an der Feier, die man heute beging – ein wahrer Sturm von Jubel und Begeisterung brauste durch den Vortrag.

Vor der Nordfront des Schlößchens breitete sich ein mächtiger Lichtschein hin. Der weite, im Sommer von buntfarbigen Blumengruppen unterbrochene Rasengrund lag fleckenlos weiß, ein einziges glitzerndes Schneefeld, hinter dem Rankrosenspalier, das ihn von dem dicht an die Hausmauern stoßenden Kiesplatze schied. Dieser Platz war ziemlich von Schnee gesäubert, nur eine dünne, festgetretene Schicht lag auf den Kieseln.

Margarete war bis hierher gekommen, ohne irgendwie durch Menschennähe erschreckt zu werden. Nun mäßigte sie ihren Laufschritt und ging unter den Fenstern hin. … Was sie hier wollte? Sie wußte es selbst kaum – eine geheimnißvolle, furchtbare Gewalt trieb sie wie der Sturm in den Lüften vor sich her; sie mußte laufen und sehen und wußte doch, daß gerade der Anblick der Glücklichen ihr wie Dolchstiche das Herz zerfleischen würde.

In dem Salon, wo der Flügel stand, waren die weißen Rollvorhänge herabgelassen; kein Schatten einer menschlichen Gestalt bewegte sich hinter dem transparenten Gewebe, man lauschte, wie es schien, regungslos dem meisterlichen Spiele. Dagegen waren die drei Fenster des anstoßenden Zimmers, in dessen Nähe das junge Mädchen stehen geblieben war, nicht verhüllt. Das Licht des Kronleuchters floß in grellem Glanze durch die Scheiben und auf die Fürstenbilder, die im Hintergrunde des Zimmers von der Wand herabsahen. Das war der Speisesaal; hier hatte das Verlobungsdiner stattgefunden; zwei Lakaien waren beschäftigt, die Tafel abzuräumen; sie hielten die angebrochenen Flaschen gegen das Licht und tranken die Reste aus den Weingläsern.

Die Schlußakkorde des Musikstückes waren längst verhallt, und noch stand Margarete neben einer der niederen Kugelakazien, welche da und dort das Rankrosenspalier unterbrachen. Der Wind warf ihr das Haar von Stirn und Schläfen zurück und stäubte die gelockerten Schneereste von dem dürren Gezweig des Bäumchens über sie her. Sie fühlte es nicht. Ihr Herz hämmerte in der Brust, mühsam rang sie nach Athem, während ihre heißen Augen unablässig über alle unverhüllten Fenster irrten – einmal mußten sich die Glücklichen doch zeigen. O, der Thörin, die in Wind und Wetter harrte und aushielt, um einen tödlichen Streich zu empfangen!

Da wurde plötzlich eine Thür, ziemlich am Ende der Hausfronte, geöffnet. Aus einem schwachbeleuchteten Entrée trat ein Mann und stieg die niedere Freitreppe herab, während die Thür hinter ihm wieder geschlossen wurde.

Einen Augenblick stand die Lauscherin wie gelähmt vor Schrecken. Das Rosenspalier hinderte sie, über den Rasengrund in die Dunkelheit des freien Feldes hinaus zu flüchten, und vor ihr lag der lange, fast tageshell beleuchtete Kiesplatz. Aber da gab es kein Besinnen, gesehen wurde sie, und nur ihre flinken Füße konnten sie vor einer unausbleiblichen Demüthignng retten. So floh sie wie gejagt den Kiesplatz entlang und über die Ausfahrt vor dem westlichen Portal des Schlößchens hinaus ins Freie.

Hier packte sie der Wind; er trieb sie vor sich her wie eine Schneeflocke und erleichterte ihr die Flucht; allein weder er, noch ihr eigenes Dahinfliegen konnten ihr helfen - die Männerschritte, die sie verfolgten, kamen näher und näher. Der Weg war glatt und schlüpfrig geworden, sie glitt plötzlich aus und sank auf ein Knie nieder – in diesem Moment eines namenlosen Entsetzens umfaßte sie ein kräftiger Arm und hob sie empor.

„Spottdrossel, hab’ ich Dich?“ rief Herbert und schlang auch den anderen Arm um das athemlose, an allen Gliedern bebende Mädchen, „Nun sieh, wie Du wieder frei wirst! Mit meinem Willen niemals! Der ,Spottvogel‘, der mir unbesonnen ins Garn geflogen ist, gehört mir von Gott und Rechtswegen! Bist Du’s wirklich, Margarete? – Ah, ‚Sie ist gekommen in Sturm und Regen‘!“ recitirte er und verhaltener Jubel durchbebte seine Stimme.

Sie strebte vergebens, sich loszuwinden, er umschloß sie desto fester. „O Gott, ich wollte –“

„Ich weiß, was Du wolltest,“ unterbrach er die fast weinend hervorgestoßenen Worte. „Du wolltest die Erste sein, die dem Onkel gratulirte! Deßhalb bist Du durch Sturm und Wetter über weite, öde Felder gelaufen, hast vor lauter Eifer vergessen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_323.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2024)