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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

sehen, mag dasselbe auch nicht im schönen Wahnsinn rollen: das ist auch Gesetz für den Romanschriftsteller, wenn er sich nicht in einen trockenen Berichterstatter und Lokalreferenten verwandeln will.

Das Abschreiben der Lebenswirklichkeit hat aber auch nach anderer Seite hin seine Bedenken: es geschehen mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als die Muse zu erfahren oder zu berichten braucht, ja es giebt Mancherlei, wovon sie ihr Gesicht abzuwenden zugleich das Recht und die Pflicht hat. Das wird neuerdings hartnäckig geleugnet; die neuen Stürmer und Dränger wollen mit ihrer Muse dnrch Dick und Dünn gehen und setzen sich gegen das erbärmliche Philisterthum zur Wehr, welches verlangt, daß gewisse Grenzen respektirt werden, Schranken der Wohlanständigkeit und des guten Geschmacks. Von Frankreich herüber tönt das Evangelium, welches ein neues Weltalter der Poesie verkündigt, welche sich den Schlaf von Jahrtausenden aus den Augen reibt und endlich einmal die Dinge sieht wie sie sind und schildert wie sie sind, und zwar nicht Das oder Jenes, sondern alle Lebensäußerungen der Kreatur rückhaltlos ohne irgend ein Scheuleder der Aesthetik und der Moral.

Ein deutscher Philosoph, Karl Rosenkranz, hat in seiner „Aesthetik des Häßlichen“ sehr feine Grenzen für das Erlaubte in der dichterischen Schilderung gegeben und zwar ohne die geringste Engherzigkeit; er hat freilich das Rohe, Niedrige und Gemeine nicht mit einem passe-partout für alle poetischen Gattungen versehen. Gewiß, auch der Cynismus hat sein Recht, aber nur als vorüberleuchtender mephistophelischer Schwefelblitz, nicht in breiter Ausführung und bei selbstgefälligem Verweilen; der Humor, der gleich dem Regenbogen vom Schmutze der Erde die Leiter zum Himmel baut, kann Alles adeln, was er gleichsam wie mit leuchtenden Fingern betupft.

Doch eine trockene humorlose Darstellung des Widerwärtigen, Gemeinen, überhaupt aller Naturprocesse, denen der Mensch unterworfen ist, muß geradezu abstoßend wirken. Hierzu gehören auch Krankheitsbilder, die mit einer pathologischen Genauigkeit ausgeführt sind. In seinem Romane „La joie de vivre“ führt uns Zola aus einer Klinik in die andere; es fehlt nicht das geburtshilfliche und nicht das Thierlazareth; schon in seinem „Pot-Bouille“ hat er mit einer geradezu empörenden Detailmalerei die Leiden einer sich selbst entbindenden Gebärerin geschildert. Die Vorliebe für den Schmutz ist ein Kennzeichen dieses Autors; doch auch davon abgesehen, gehören seitenlange Krankheitsbeschreibungen in ein Lehrbuch der Heilkunde, nicht in einen Roman. Die Geschichte eines kranken und sterbenden Hundes wird uns von Zola mit einer Ausführlichkeit erzählt, wie von Daudet diejenige des kranken und sterbenden Herzogs von Morny: zwischen Mensch und Thier giebt es für diese Schule keinen Unterschied; alle Theologie ist Anthropologie, sagte ein deutscher Denker; alle Anthropologie ist Zoologie, sagen die Franzosen der neuesten Aera.

Am wichtigsten wird die Frage, ob der Roman der Lebenswirklichkeit schrankenlos huldigen müsse, bei der Darstellung der Liebe der Geschlechter. Von allen Dichtgattungen bietet der Roman die größte Möglichkeit, nicht blos die Leidenschaft des Herzens, sondern auch die der Sinne mit einem die ganze Farbenskala erschöpfenden Reichthum des Kolorits zu schildern, und er hat zu allen Zeiten sich diesen Vorsprung vor den anderen Dichtgattungen zu nutze gemacht. Erotische Romane hat’s immer gegeben und auch in Romanen mit anderem Hauptinhalt ist den oft sinnlich gehaltenen Liebesscenen ein breiter Raum gegönnt worden. Unsere Klassiker, Goethe sowohl wie Wieland, haben sich hierin keine Beschränkung auferlegt und selbst in Jean Paul’s Romanen finden sich derartige Situationen. In dem dichterischen Kunstwerke haben sie ihr gutes Recht: nur dort werden sie unberechtigt und haltlos vor dem Richterstuhle der Aesthetik, wo sie als Selbstzweck auftreten, mit der unverkennbaren Tendenz, sinnlich erregend zu wirken, oder wo das Gemeine der Gesinnnng und der Schilderung überwiegt. Der Roman als selbständiges Dichtwerk, als Buch für sich kann nur nach diesem Maßstabe beurtheilt werden; erscheint er aber in Journalen, in Wochen- und Tageblättern, so ist durch die Art dieser Veröffentlichung und durch die Rücksicht auf die Zusammensetzung des Publikums, dem er geboten wird, doch noch manche Beschränkung unabwendbar, selbst wenn man ein für allemal jede falsche Prüderie ausschließt, die hier und dort ein zu engherziges Scepter führt. Der Hinweis auf Frankreich ist dabei ganz unzulässig: denn die französische Pädagogik innerhalb der Familie ist eine gänzlich andere als in Deutschland.

Niemals werden dort die Töchter des Hauses in die Theater geführt, wenn die gefeiertsten demi-monde- und Ehebruchskomödien gegeben werden; ja selbst die compte-rendus über den Inhalt derselben in den Feuilletons der Zeitungen werden ihnen von den Eltern gewissenhaft unterschlagen. Bei uns sitzen die abonnirten Töchter neben den abonnirten Müttern im Theater, mag noch soviel französischer Skandal sich auf den weltbedeutenden Brettern breit machen. Und ähnlich verhält es sich mit den Blättern und Journalen: eine Familiencensur giebt es bei uns nicht; gerade dieser Mangel drückt oft unseren Redaktionen den Rothstift in die Hand: diese Freigeisterei unserer Erziehung lastet auf der freien Inspiration unserer Romandichtuug, die dadurch znm Theil auf ein niedriges Niveau herabgedrückt wird. Mindestens tritt jenes Dilemma ein, das wir als die Aeußerung eines Weltmannes in dem Werke „L’Allemagne de Mons. Bismarck“ mit den Worten ausgedrückt finden: „ich verlange nicht, daß die Backfische lesen dürfen, was mir gefällt; aber man soll auch von mir nicht verlangen, daß ich lese, was den Backfischen gefällt“.

Nicht blos gegen diese nothgedrungene Censur deutscher Familienblätter, sondern auch gegen jene Gebote der Aesthetik richtet sich der Ansturm der Fanatiker, die aus dem Heereslager der Zola und Genossen kamen; denn wo einmal in Frankreich die Wirbeltrommel gerührt wird, da fehlt es in Deutschland nicht an einer zuströmenden Menge. Leider hat Zola bei uns eine schon ziemlich zahlreiche Schule gefunden: es sind die Unsittlichkeits-Enthusiasten, die Fanatiker der Zote oder mindestens die Apostel eines Realismus, in dessen Hochpotenzen sie die Radikalkur für alle ästhetischen Leiden des Jahrhunderts erblicken. Ohne Frage setzt Zola einen Trumpf darauf, in seinen Romanen mit großem Behagen alles vorzubriugeu und zu betonen, wovon man sich in anständiger Gesellschaft zu sprechen scheut. Hierin mehr als in seiner markigen Darstellungsweise wird er von den deutschen Jüngern nachgeahmt. Die Abenteuer der Bonnen in „Pot-Bouille“, der Verkäuferinnen in „Au bonheur des dames“, der Strandbewohner in „La joie de vivre“, der Arbeiter und Arbeiterinnen des Kohlenbergwerks in „Germinal“ werden mit einer trotzigen Rücksichtslosigkeit erzählt – und auf diesem mit sittenlosen Reliefs geschmückten Piedestal der Zola’schen Muse erhebt sich die plastische Gestalt der üppigen Nana, um welche die Orgie des neuesten Pariser Lebens dahinbraust.

Das alles wird in Deutschland gepriesen, das gilt für schöne Naturwahrheit und Lebenswirklichkeit: dagegen wird die Fahne idealistischer Dichtung mit Hohngelächter in den Staub getreten; ja man geht so weit, hinter maßvoller Darstellung der Liebe „versteckte Sinnlichkeit“ zu suchen. Niemand hat sich wohl träumen lassen, daß die „Gartenlaube“ seit Jahrzehnten nichts Anderes gewesen als ein großes „Gastmahl der Borgia“. Niemand hätte einen so maßlosen und unberechtigten Angriff für möglich gehalten, wie er jüngst gegen die Marlitt gerichtet wurde. Ôte-toi que je m’y mette ist die Losung – doch wohl schwerlich würde irgend Jemand ein Glück darin sehen, wenn an Stelle der Marlitt’schen Romane die novellistischen Kraftstücke jener Zola-Anbeter träten. Die Marlitt ist eine unserer besten Erzählerinnen; ja in Bezug auf angeborne Gabe des Fabulirens und lebendiger Schilderung braucht sie keinen Vergleich zu scheuen. Davon hat sie auch in ihrem neuesten Werke Proben gegeben: die Erzählung, wie Gretchen sich auf das Gut des Großvaters flüchtet, ist ein kleines Kabinettstück lebensvoller Darstellung. Sie weiß die Leser in Spannung zu versetzen, und daß sie gerade nicht alles Sinnliche verbannt, sondern dasselbe mit Maß verwerthet, gehört zu ihren Vorzügen. Niemand wird so thöricht sein, sie mit Schiller und Goethe vergleichen zu wollen: nur das hat sie mit ihnen gemein, daß der Werth der einzelnen Werke ein ungleicher ist.

Trotz des seltsamen Angriffs, den der sich absurd geberdende Most der jüngeren Kritik zu Tage gefördert hat, wird Niemand die Marlitt für eine Vergifterin des guten Geschmackes und der guten Sitten halten, wie man auch sonst über ihre schriftstellerischen Leistungen denken mag. Das Maß der Lebenswirklichkeit, das sie in ihren Romanen bietet, ist das richtige. Jene Angriffe werden als Misch- und Mißgeburten einer anf Abwege gerathenen kritischen Phantasie in Spiritus aufbewahrt bleiben unter den andern tragikomischen Naturspielen des litterargeschichtlichen Museums.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_459.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)