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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


„Es ist eine Thatsache, Fräulein Phöbe; wenn alte Universitätsgenossen sonst nach längerer Trennung sich wieder einmal zusammenfinden, so pflegen sie mit Vorliebe zuerst von den vergangenen schönen Tagen zu schwatzen. Ich gestehe offen, ich hatte auch die beste Lust dazu mit hierher gebracht, aber wie soll man das nun anfangen, einem solchen Menschenkinde gegenüber, welches das unverwüstlichste Gesprächsthema auf dieser Erde sofort in der Blüthe knickt? Es drängte mich wirklich, Ihnen nicht völlig unbekannt zu bleiben, um meinen Ueberfall heute Abende wenigstens in etwas zu rechtfertigen; aber – Prudens Hahnemeyer, unsere Halle’sche Jerichosrose stellst entweder Du jetzt ins Wasser oder – läßt es bleiben und versparst das für morgen, wenn der damalige und jetzige Störenfried und Aufdringling wieder den Rücken gewendet haben wird. Hast Du den Don Quijote gelesen, Hahnemeyer, so muß ich Dich unbedingt auf das Erzählungstalent des braven Sancho in der Nacht vor dem großen Abenteuer mit den Walkmühlen aufmerksam machen. Meine Begabung zum Geschichtenerzählen ist ganz von der nämlichen Sorte.“

Es blieb zweifelhaft, ob der Pastor Prudens die Geschichten von dem sinnreichen Junker Don Quijote und seinem Schildknapppen gelesen hatte; Phöbe hatte sie nicht gelesen.

„Ich würde gern mit zuhören,“ sagte sie, und so erzählte und sprach in dieser lauen Sommernacht der außerordentliche Professor und Doktor, Freiherr Veit von Bielow-Altrippen doch noch mehr von sich und seinen auf- und absteigenden Lebensläufen, als wenn die Gesellschaft und Zuhörerschaft – eine andere gewesen wäre. Eine andere; so und nicht anders würden sich die Meisten wohl ausgedrückt haben. –

Für uns aber ist im Grunde wenig Nacherzählenswerthes dabei. Es war eben bis jetzt nur die Laufbahn des liebenswürdigen, nicht unbegabten, wohlmeinenden Gentleman-Gelehrten gewesen. Ein guter Familienname, weitreichende gesellschaftliche Verbindungen, ein ausreichendes Vermögen und ein gesunder Körper und heiterer, mäßiger Charakter hatten ihn in seinen Studien, Neigungen und Liebhabereien begünstigt. Er fühlte sich sicher auf seinen Füßen und gegen Jedermann in der Welt um ihn her. Seine Berufswissenschaft nahm er leicht und spielend. Mit einem feinen Gefühl für das Schöne hatte er große Reisen in Italien, Griechenland und im Orient gemacht, und davon vor Allem sprach er gern und mit ernstem Verständniß. Die männliche, unbefangene Seelenheiterkeit, welche er an diesem Abend in dieses trübe Haus, zu diesem weltabgeschiedenen Geschwisterpaar hineintrug, ließ auch den selbstquälerisch-finstern Prudens dann und wann genauer aufhorchen und brachte seine stille Schwester über ihrem Arbeitskörbchen bei dem dämmerigen Schein der kleinen Gartenlampe in der dunkeln Laube zum Aufblicken und zu rascherm Athemholen und einige Male sogar zu einer Frage und einem Lächeln.

Als er zu Ende war, sagte der Pfarrer:

„Ich freue mich Deines Lebensglückes und Deines Behagens an diesem vergänglichen Dasein. Du hast Gott, der Alles dieses giebt oder versagt, mit dankerfülltem Herzen Dich zu beugen. Er hat Dir Deine Pfade bis heute lieblich und leicht gemacht. Möge Solches nicht wie ein Tuch um Deine Augen gewesen sein, das dem Menschen am Ende seines Weges abfällt, wenn ihn kein Erdenwitz und Behagen von der Tiefe vor seinen Füßen zurückzuziehen vermag! Doch es wird spät, und Du weißt, ich habe noch einen nicht leichten Weg in dieser Nacht zu gehen. Da rührt sich auch unser Gebirgswind. Wenn es Dir genehm ist, werde ich Dich zu Deinem Schlafzimmer führen, und ich wiederhole Dir, Du bist mir herzlich willkommen gewesen, und es war freundlich von Dir, daß Du Dich meiner noch im Vorbeigehen, im Behagen Deiner Tage, erinnert hast.“

„Besten Dank, Alter,“ sagte der Jugendfreund achselzuckend. „Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Fräulein?“

Das Fräulein schien die höfliche Gesellschaftsformel gänzlich überhört zu haben. Sie nahm die Lampe vom Tische und leuchtete mit ihr unter den jetzt leise rauschenden Baumwipfeln des Gartenganges. Sie stand mit ihr in der erhobenen Hand unter der Pforte des Hauses und ließ ihren Schein auf die ausgetretenen Treppenstufen fallen.

„Sie dürfen uns nicht straucheln auf unserer Schwelle,“ sagte sie, und noch einmal bemerkte der Gast, daß sie, wie man das nennt, Farbe bekommen konnte, daß sie lächeln konnte, daß sie ihre Augen groß und freundlich aufzuschlagen vermöge.

Nun wünschte sie dem Gast gute Nacht und verschwand, nachdem sie die Lampe dem Bruder gereicht hatte. Der Pastor führte den Freund in ein Stübchen im Oberstock des Pfarrhauses und sagte:

„Du siehst, Du mußt Dich zu bescheiden wissen, Bielow; aber Du hast ja, wie Du uns erzähltest, harte Lagerstätten schon öfters erprobt und kahle Wände um Dich gehabt, ohne über Deine Wirthe und Deinen Willen zu murren am andern Morgen. Der Herr lasse Dich eine friedliche Nacht haben unter diesem Dache!“

„Ich hoffe darauf. Was soll ich Dir wünschen, Prudens Hahnemeyer?“

„Ein unbewegliches Herz und eine Zunge wie –“

Er beendete den Satz nicht. Als sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, murmelte Veit Bielow:

„Ein unbewegliches Herz! Armer Teufel! Und er hatte Furcht vor dem Reime; – eine Zunge wie Erz. Bei den unsterblichen Göttern, da schlendert man faul zu und versäumt es in gelangweilter Trägheit vielleicht täglich, den Schritt vom Wege zu thun, der uns zu solchen Zuständen, zu solchen Darstellern für untheilbare Handlung oder fortgehendes Gedicht, wie Polonius sagt, zu bringen vermag! Nun, Veit, wir gehören doch wohl auch zu den Schauspielern, die am Hofe des Königs Claudius angekommen sind. So wollen wir uns wenigstens Mühe geben, daß auch für uns Seneca nicht zu traurig und Plautus nicht zu lustig ist, so lange wir unsere Rolle abzuspielen haben auf der Erde, an diesem anrüchigen Hofe von Dänemark, den hie und da auch einmal Einer, der sich nicht Polonius nennt, des Menschen Tragiko-Komiko-Historiko-Pastorale benamsen könnte. Hm, was für eine Tiefe – wie dieser luthersche Mönch sich ausdrückte – sich da aber, nach diesem meinem heutigen Schritte vom Wege, in den Augen dieses lieben, kleinen Mädchens, seiner Schwester, vor mir aufthut! Welch’ ein wundervoller Tag, in seinen Einzelheiten, mit oder ohne Binde vor den Augen!“


6.

Sie kamen alle Drei unter diesem Dache fürs Erste noch nicht zum Schlafen. Die Eschen um das Haus rauschten in dem kühlen Gebirgswind, auf den der Pastor vorhin aufmerksam gemacht hatte, lauter und lauter. Der Gast und Phöbe ließen ihre Fenster geöffnet und saßen noch eine geraume Zeit an ihnen, auf die schöne Melodie der Nacht horchend und sich, Jedes nach seiner Weise, mit den Erlebnissen des Tages in Frieden abfindend.

Letzteres versuchte auch der Pfarrer; aber das Fenster, welches der Jugendfreund vorhin in seiner kleinen Studirstube geöffnet hatte, schloß er. Dann zündete er seine Lampe an, nahm die Bibel vom Bücherbrett, schlug sie aufs Gerathewohl auf und saß vor ihr, den Blick fest, aber, wie nicht zu bezweifeln war, mit Gewalt und nur durch Ueberwindung eines Hindernisses in seiner Seele, auf das offenliegende Blatt heftend.

Es waren seltsamerweise zwei Seiten aus dem Hohenliede, die ihm der Zufall in dieser Stunde, vor seinem schlimmen Wege, vor die Augen legte. Welchen Vers grade sein Auge traf, ist wohl gleichgültig: wir haben das Buch Alle gelesen, und wissen, wie darin geschrieben worden ist, was dort vor Jahrtausenden von einer entzückten Menschenseele gesungen wurde. Und nun war es fast schrecklich, der mühselige, ernste Mann vor dem heiligen Buche lächelte nicht bloß – er lachte! Aber die Hand, die auf jenen heißen Liebesliedern lag, die nach den Kapitelüberschriften von Christus und seiner Kirche handeln, zitterte wie im Krampfe.

Und doch erschrak er nicht ob dieses Geräusches, das er durch sein Lachen in der Nacht erregte. Er blickte nicht erschreckt über seine Schulter nach Jemand, der gelauscht haben konnte. Er war ehrlich – es war nicht das erste Mal, daß er so lachte. Es gehörte zu seinem Kampfe mit der Welt, und als er jetzt das Buch zuschlug, ohne genauer auf mehr als eine Zeile darin hingesehen zu haben, fühlte und empfand er sich bereit zu seinem Gange nach der Vierlingswiese; und der hätte sich sehr in ihm getäuscht, der sich an die Worte gehalten hätte, mit denen er sich nun doch weiter quälte auf seinem eigenen Wege durch sein Leben im Fleisch.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 464. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_464.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2024)