Seite:Die Gartenlaube (1885) 503.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

sie war wohl im Garten draußen oder bei einer häuslichen Arbeit in der Küche.

Was konnte die auch helfen? „Nein, das nicht, nur das nicht!“

Sie saß wieder im Stuhl am Fenster und schaute in das Düster der Bäume. Was gäbe sie darum, wenn der Wald, die Berge schwänden, wenn sie dort hinüber blicken könnte in das Haus – in die Zimmer. „Ein munteres Ding, das schwarze kleine Fräulein,“ hatte Johanne neulich gesagt. Und Trudchen sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie im Hause umher trippelte, jetzt im Saal, nun die Treppe hinauf, die lieben alten, ausgetretenen Stufen. Tapp! tapp! Nun auf dem Korridor; da schlagen die Hackenschuhe so zierlich und fest auf den Gips; und nun an einer braunen Thür – seiner Thür.

Sie darf eintreten? Ach, sein Zimmer, das traute alte Zimmer! Und Trudchen ringt die Hände in einander wie in bitterem Neid. „Fort!“ sagt sie halblaut, „fort! Die Schwelle ist geweiht – ich – ich bin darüber geschritten am seligsten Tage meines Lebens – an seiner Hand!“

Und sie sah ihn sitzen am Schreibtisch, in der grauen Joppe und den hohen Stiefeln, wie er vom Hofe hereingekommen; seine weiße Stirn hob sich scharf ab gegen das gebräunte Antlitz. Das hatte sie immer so gerne gesehen.

Und graues Haar an seinen Schläfen? Ach, er hatte es noch nicht vor ein paar Wochen!

Und wieder gaukelt eine zierliche kleine Gestalt vor ihren Augen, hin zu ihm. Ach, nur das Eine möchte sie wissen, ob er sie je vergessen kann über einer Andern – über dieser vielleicht? – Aber wozu das Alles!

Sie erhob sich und ging aus der Stube, über den Korridor in ihres Vaters Zimmer. Was Papa gethan, das hatten schon Tausende vor ihm gethan, und Tausende werden es noch thun – man muß ja nicht leben!

Auf dem Nachttischchen am Bette stand noch das Glas mit dem geschliffenen Namenszuge, daraus hatte er das Schreckliche getrunken. Man hatte das Gefäß gereinigt und wieder dorthin gestellt. – Sie that ein paar Schritte nach dem Fenster und zuckte zusammen, ach so – ihr Spiegelbild; sie trat rasch vor das blinkende Glas und sah hinein, es war ein wunderlicher bläulicher Schimmer darinnen, und todtenblaß schaute ihr Antlitz sie an; die tiefen Schatten unter den Augen zogen sich bis auf die Wangen herab. Schauernd wandte sie sich, es leuchtete ihr etwas Unheimliches aus den eigenen Zügen entgegen.

Und wieder stand sie und grübelte. Was bot ihr das Leben noch? Mit ihm war Alles hin, Alles!

„Frau Linden,“ schallte es hinter ihr, „der Herr Rechtsanwalt.“

Sie nickte. „Nach meinem Zimmer.“ Ach ja, sie hatte vergessen, daß sie ihn um seinen Besuch gebeten. Heute schon kam er; erst gestern hatte sie an ihn geschrieben. Aber es war gut so, es mußte ein Anfang gemacht werden.

Sie wendete sich wieder um; mochte er warten, sie konnte nicht hinübergehen jetzt. Sie trat ans Fenster und sah, wie bleifarbig schweres Gewölk am Himmel aufstieg; es braute sich ein Wetter zusammen im Westen. Muth, nur Muth! Wenn es vorüber, lächelt die Sonne wieder; zuweilen richtet sich ein gebrochener Stamm auch nicht wieder auf, desto besser! Nur nicht mehr diese Stille, diese Schwüle. Handeln, handeln – sollte auch –

„Gnädige Frau!“ rief es noch einmal mahnend; da faßte sie sich und ging.

Sie kannte ihn gut, den alten Herrn, der ihr freundlich ernst entgegen schritt; aber sie vermochte kein Wort zu ihm zu sprechen; nur eine stumme Handbewegung nach dem nächsten Sessel. Er wußte ja, worum es sich handelte; mochte er das schreckliche Gespräch eröffnen.

„Sie wünschen meinen Beistand, gnädige Frau, in dieser recht schweren Angelegenheit?“

„Ja, ich wünsche, daß Sie mich vertreten,“ sagte sie und schante an ihm vorüber in die Zimmerecke, „und ich möchte vor allen Dingen, daß – Herr Linden die Bestimmungen erfährt, die ich für diesen Fall getroffen habe. Ich lasse ihn im Besitz meines ganzen Vermögens bis auf dieses Haus und das Kapital, welches auf meines Schwagers Fabrik eingetragen ist.“

Sie sprach das so hastig, als hätte sie es auswendig gelernt.

„Ist es Ihnen denn gar so ernst darum?“ fragte der alte Mann.

In ihren Augen blitzte es jetzt auf. „Denken Sie, ich treibe Scherz mit so traurigen Dingen?“

„Und glauben Sie, daß Ihr Herr Gemahl einverstanden sein wird?“

„Es ist Ihre Sache, Herr Rechtsanwalt, dies zu vermitteln.“

Er verbeugte sich stumm. Auch sie schwieg. Eine unheimliche Stille herrschte im Zimmer, im ganzen Hause; Trudchen war es, als sei eben ein Todesurtheil unterzeichnet worden.

„Es giebt ein böses Wetter heute,“ sagte der Rechtsanwalt nach einer Weile; „ich werde mich bald beurlauben müssen, gnädige Frau. Und da ich auf halbem Wege bin, werde ich nach Niendorf fahren, um persönlich mit Ihrem Herrn Gemahl zu verhandeln.“

„Heute schon?“ Sie hatte es erschreckt ausgerufen.

Er zögerte und sah sie an. „Sie haben Recht, es paßt mir auch morgen besser, sagen wir übermorgen.“

„Nein!“ widerrief sie hastig, „sprechen Sie heute noch, gleich, darüber, es ist ja besser, viel besser!“

Sie erhob sich verwirrt; ihr Kopfschmerz, das Bewußtsein, nun komme der Stein ins Rollen, stürmten auf sie ein. Mechanisch begleitete sie den Herrn bis an die Treppe; dann stand sie auf dem Korridor, die Hand an die schmerzende Schläfe gelegt, schier betäubt. In der Küche hörte sie Johanne, und als ertrüge sie die Einsamkeit nicht mehr, trat sie hinein und setzte sich auf den sauberen Bretterstuhl neben dem weißgescheuerten Tisch; Johanne stand vor demselben und wühlte zwischen Epheublättern und Cypressenzweigen. Sie hatte rothgeweinte Augen, und es fielen noch immer ein paar Tropfen auf ihre Hände, die einen Kranz banden. Die ganze Küche roch wie Tod und Begräbniß.

„Was machst Du da?“ fragte Trudchen.

Johanne sah zur Seite und unterdrückte ein Aufschluchzen.

„Morgen wird’s ein Jahr,“ sagte sie halb erstickt, „da brachten sie ihn mir todt ins Haus.“

„Ja richtig!“ Die beiden Frauen sahen sich tief in die traurigen Augen; jede mit dem Gedanken, sie wäre die Unglücklichste. Ach, aber da stand der Wagen mit dem schlafenden Kinde, und das gehörte Johanne; und Johanne konnte an ihn denken ohne anderes Weh und Herzeleid, als die Trauer um seinen Verlust. Durch den Tod verloren – es ist nicht halb so schwer, als durch das Leben. Trudchen fand kein Wort der Theilnahme.

„Wie man’s nur überleben kann,“ schluchzte die junge Wittwe. „So frisch und gesund ging er über die Schwelle, ich meine immer noch, ich sehe ihn die Gasse hinaufschreiten. Und gerad am Abend vorher hatten wir uns zum ersten Male ein wenig ernsthaft gezankt, und ich hatte gedacht: ‚Wart, Du sollst schon betteln um ein freundlich Wörtchen.‘ Und da hab’ ich mich ohne ‚gute Nacht‘ zu Bette gelegt und hab’ ihm am andern Tage früh keinen Kaffee gekocht. Ich hörte ihn so herumhantiren in der Stube und freute mich in mich hinein, daß er so nüchtern fort mußte. Er kam nochmal an mein Bette und sah mir ins Gesicht, und ich that, als ob ich schliefe. Wie er aber kaum die Hausthür zu hat, bin ich schon auf den Füßen und sehe ihm nach; er war ja mein ganzer Stolz. Das letzte Mal ist’s gewesen, keine zwei Stunden später haben sie ihn mir gebracht; und Tag und Nacht habe ich geschrieen auf den Knieen vor ihm und gefragt, ob er noch böse ist? Und habe Gott gebeten, daß er ihn nur noch einmal die Augen aufthun läßt, daß ich sagen könnte: ‚Adieu Fritze, komm gesund heim, Fritze!‘ Aber Alles umsonst, er hat nichts mehr gehört.“

Trudchen sprang plötzlich empor und verließ die Küche. Herr Gott im Himmel! Sie fühlte sich zum Sterben elend. In tollem Wirbel drehte es sich hinter ihrer Stirn, nicht anders, als ob Verstand und klares Denken in wilder regelloser Flucht begriffen seien. Sie wollte hier das fortsausende Ende eines Gedankens festhalten und konnte ihn nicht mehr haschen, und dort eine Vorstellung, die noch vor fünf Minuten in schreckensvoller Deutlichkeit sie gepackt und der sie sich nun nicht mehr zu erinnern wußte, trotz allen Sinnens; nur die dumpfe Angst vor etwas Entsetzlichem blieb.

Es war wohl die schwüle Gewitterluft, die beängstigende Stille der Natur vor dem Unwetter, das ihr die Nerven empörte?

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_503.jpg&oldid=- (Version vom 4.3.2021)