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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

erfolgreicher Bettel damit getrieben werden kann. In jedes Menschen Herz liegt die Neigung, einem Unglücklichen beizuspringen, und wenn auf der Straße, in der Kirche oder im Theater ein Epileptischer niederstürzt, läuft Alles zusammen und will Hilfe bringen. Leider kann man einem Epileptischen im Paroxysmus, das heißt während des drei bis fünf Minuten langen Anfalles nicht sehr viel nützen. Aerzte wie Laien müssen sich darauf beschränken, den Kranken zu schützen, daß er sich nicht schwer verletzt, mit dem Kopfe an eine Ecke hinfällt, mit den Armen in ein Fenster schlägt u. s. f. Das Eröffnen aller einschnürenden Kleidungsstücke ist sehr zu empfehlen. Halsbinden, Korsetts, Rockbänder sollen sofort gelockert oder besser ganz abgenommen werden. Endlich soll man einen Knoten des Taschentuches, ein Korkstück, irgend etwas Festes zwischen die Zähne stecken, damit sich die Kranken nicht in Lippen und Zunge beißen, und den Kranken vielleicht auf eine auf den Boden hingeworfene Matratze legen.

Hiermit ist aber auch beinahe Alles erschöpft, womit wir während der Anfälle nützen können. Das Vorhalten von Niese- oder Riechmitteln an die Nase, das Zurufen, Anspritzen mit kaltem Wasser und Reiben, das Schütteln, das Aufdrehen der eingezogenen Daumen, das Drücken der großen Hals-Pulsader und Anderes ist eher schädlich als nützlich, so oft man es auch thun sieht.

Der Erregungszustand wird durch solche Betastungen nur noch mehr gesteigert, und die darauf folgende Schwäche wird um so größer. Der dem Anfalle folgende Schlummer soll ebenfalls durch nichts gestört werden, da er sehr zur Erholung des angegriffenen Kranken beiträgt.

In jenen Fällen, wo dem Anfalle eine sogenannte Aura (Vorläuferstadium) vorausgeht, kann der Anfall oft verhindert werden. Gehen Störungen der Verdauung voraus, so kann ein Brechmittel vielleicht den Anfall unterdrücken. Gehen nervöse Reizerscheinungen voraus, so kann eine Dosis Morphinm, Opium, Belladonna, Hirschhorngeist und Anderes manchmal den Anfall unmöglich machen. Werden an den Armen und Füßen Vorläufersymptome gefühlt, so hilft oft Binden und Knebeln der Glieder den Anfall hinaus zu schieben oder zu unterdrücken.

Wenn dies auch unter gewissen Verhältnissen sehr bequem und angenehm sein kann, so ist es doch nicht zu rathen, weil die Anfälle unverkennbar einen kritischen Charakter haben und das Unterdrücken einer Krise der Krankheit selbst nur schaden wird. In den meisten Fällen giebt es an und für sich kein Vorläuferstadium und der Anfall kommt so plötzlich, daß selbst eine fortwährende Ueberwachung nicht viel zu leisten vermag, weßhalb man in den Krankenzimmern Wohlhabender schon der ganzen Zimmereinrichtung eine ungefährliche Form giebt. Die Möbel haben keine scharfen Ecken, den heißen Ofen umgiebt ein Gitter, das Bett ist recht niedrig, und in Heilanstalten polstert man sogar Boden und Wände.

So wenig man während der Anfälle thun kann, um so viel mehr wird gegen die Krankheit in ihren zahlreichen Ursachen selbst unternommen. Wie ich schon Anfangs erwähnte, wird nur deßhalb so selten Epilepsie geheilt, weil deren Ursachen so zahlreich und oft schwer zu entdecken und schwer zu entfernen sind. Wenn man liest, was Alles schon geholfen hat, so kann man die Krankheit wirklich keine unheilbare nennen. Man sah schon entschiedene Heilungen von stärkenden und schwächenden Mitteln, von Unterbindung der großen Halsader, von Trepanation, von Wiederbringung der unterdrückten Schweiße und Hautausschläge, von Wurm- und Abführmitteln. Die kalten Klistiere bei Verstopfung, die kalten Bäder bei Blutarmuth haben sich großen Ruf erworben.

Ableitung von Gehirn- und Brustorganen auf die Haut und auf den Darm, reizmildernde Mittel für Nerven, ein gänzliches Umändern der Lebensweise, des Wohnortes und der Beschäftigung und vieles Andere wurden schon mit Erfolg benutzt.

In neuester Zeit haben Nervendehnungen und das Ausschneiden unverschiebbarer Narben bei sogenannten Reflexepilepsien, wo Leiden der peripheren Nerven die Epilepsie erzeugt hatten, eine große Anzahl von Heilungen zu verzeichnen. Ein gutes Krankenexamen und eine genaue Untersuchung ist bei dieser Krankheit daher vom höchsten Werthe. Ich erinnere mich eines Falles, wo die weinende Mutter ihr zehnjähriges Knäbchen in Romberg’s Klinik brachte und klagte, daß der Knabe seit vier Jahren tägliche zwei bis drei epileptische Anfälle habe und schon sehr Vieles fruchtlos versucht worden sei. Eisen, Arsenik, Quecksilber, Kupfer, Zink, Baldrian, Artemisia, heilmagnetische, elektrische und Wasserkuren, alles Erdenkliche sei erfolglos angewendet worden. Geheimrath von Romberg examinirte nun Mutter und Kind auf das Genaueste. (Romberg’s Krankenexamen war ja weltberühmt.) Dabei wurde nicht das Geringste vergessen, nicht, ob der Knabe Leinwand oder Wolle am Körper trage, ob seine Zimmertapete etwa von einer arsenikhaltigen grünen Farbe sei, ob er auf einer Roßhaarmatratze oder einem Federbett schlafe u. A. m. Nachdem keine krankmachende Ursache herausexaminirt werden konnte, fragte Romberg die Mutter noch, ob der Knabe nicht einmal gefallen sei und eine Kopfnarbe habe? Auch dieses verneinte die Mutter mit dem Bemerken, daß auch die früher zu Rath gezogenen Aerzte nach Kopfnarben gefragt hätten. Nun ließ Romberg den Knaben ganz auskleiden, auf ein Bett legen und untersuchte ihn vom Scheitel bis zur Fußsohle auf das Genauste. An der Achillessehne des rechten Fußes endlich fand er eine verwachsene Narbe, welche gegen Druck etwas empfindlich war. Die Mutter des Knaben hatte dieser Narbe nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt gehabt, weil dieselbe von einem schon in frühester Kindheit geschehenen Sensenhiebe geblieben war. Da Romberg am ganzen Körper nichts anderes Verdächtiges fand, so ließ er den Knaben chloroformiren und diese adhaerente Narbe ausschneiden. In wenig Tagen war die Wunde geheilt und nie mehr bekam der Knabe einen epileptischen Anfall, obwohl er bisher jährlich stets 7 bis 800 Anfälle gehabt hatte.

Findet man bei Epileptischen irgendwo am Körper festgewachsene Narben, so ist immer ein Hoffnungsstrahl vorhanden, durch Ausschneiden derselben die Epilepsie zu heilen. Auch eingewachsene fremde Körper können Epilepsie veranlassen. Ich nahm einem jungen Manne, welcher alle drei bis vier Wochen ein entzündetes Auge und jedesmal bald darauf einen epileptischen Anfall bekam, ein in die Hornhaut des Auges eingewachsenes ganz kleines Spitzchen eines Insektenstachels heraus, und von diesem Momente angefangen kam nie mehr ein epileplischer Anfall. Solche glückliche Heilungen kennt man verhält[niß]mäßig viele. Auch durch Nervendehnung gelingt es manchmal, Epilepsie zu heilen, wenn an den betreffenden Nerven jedesmal vor dem Anfalle ein abnormes Gefühl bemerkt worden war.

Wie ich wiederholt schon erwähnte, wird die Epilepsie so selten geheilt, weil sie so gar viele Ursachen haben kann und weil es nicht immer gelingt, die wahre Ursache zu finden und zu entfernen. Ist ein Magenleiden die Ursache und das Magenleiden wird gehoben, so ist damit auch die Epilepsie gehoben. So ist es auch bei Darmleiden, Nierenleiden, Herzleiden und vielen anderen. Wenn man nun für die Behandlung gar keinen Anhaltspunkt findet, nicht Ein krankes Organ entdeckt, wenn das Verschwinden von Fußschweißen und Hautausschlägen nicht nachzuweisen ist, auch keine verdächtige Narbe gefunden wird, kein anfallendes Vorläuferstadium, kein Fehler in der Lebensweise vorhanden ist, so bleibt nichts übrig, als einige Mittel abzuprobiren, unter deren Anwendung man die Epilepsie schon öfters heilen sah.

Einige Metalle: Silber, Eisen, Zinnober, Kupfer, Zink, Bromkali u. s. f., einige Mittel aus dem Pflanzenreich: Atropin, Morphin, Strychnin, Baldrian, Artemisia, Eichenmistel, endlich aus dem Thierreiche. Castoreum und Antilopenhaare haben sich einen gewissen Ruf erworben.

Viele dieser Mittel zeigen anfangs eine sehr günstige Wirkung, indem die Anfälle lange Pausen machen, nach einiger Zeit aber meist wieder häufiger werden. Das Bromkali und das Atropin neben kalten Waschungen und sorgfältiger Lebensweise leisten in dieser Richtung sehr häufig recht gute Dienste, und wie bereits erwähnt, ist es stets ein nicht zu verachtender Rath: Die ganze Lebensweise zu ändern, an einem anderen Orte mit guter reiner Luft eine der Konstitution der Kranken wohl angepaßte Ernährung, körperliche und geistige Thätigkeit anzuordnen und für Ruhe des Gemüthes zu sorgen.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_542.jpg&oldid=- (Version vom 20.3.2024)