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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Verbindung der Hölzer und ihre Beförderung ist eine ganz besondere Kunst, die erlernt sein will und ihren Meister fordert. In Memel selbst werden die endlich glücklich angekommenen Hölzer an das Land gezogen, gereinigt, aufgestapelt und zerschnitten. Wohl eine halbe Meile lang ziehen sich in Schmelz, der südlichen Vorstadt Memels, die Holzgärten hin, jeder mit einer Windmühle, deren Flügel die Cirkelsägen bewegen und so das Rohmaterial verladungsfähig machen. Der Wind ist in der That (nächst dem bekannten klingenden nervus rerum) die treibende Kraft in Memel.

Als wir einst in einer binnenländischen Stadt durch die Straßen gingen und der Wind uns die Regenschirme aus der Hand riß, meinte ein Memeler, in seiner Heimath würde man das nur einen Zephyr nennen. Zuweilen staut auch das Wasser auf und tritt über die Ufer der Danje. Als drittes Element könnte man den Sand der Kurischen Nehrung drüben nennen, welcher das Fahrwasser und den Hafen verdirbt und oft in großen Wolken bis in die Straßen von Memel fliegt. Und was, um die Vierzahl der Elemente voll zu machen, das Feuer betrifft, so genügt ein Funke, um in den weiten Holzlagern eine Feuersbrunst zu entzünden, deren Widerschein weit in die See hinein leuchten möchte. Und in der That war es so in dem Schreckenswinter von 1854, gerade damals, als, während des englisch-russischen Krieges, Memel den allein offenen Verbindungshafen mit Rußland bildete, die Magazine mit Waaren überfüllt waren und das Feuer den größten Theil der Stadt in Asche legte.

Seitdem ist sie nun längst wieder groß und schön erstanden. Behaglich breitet sich unser „Klein-London“ an dem Ostufer des Wassers aus, von dem man nicht weiß, soll man es das kurische Haff oder die Memel nennen; schöne Brücken führen über die Danje, welche mitten durch die Stadt fließt und von dem schattigen Tauerlauken kommt. Große Kirchen sind aufgebaut mit hohen Thürmen, die lutherische, reformirte, littauische, katholische und englische Kirche; denn Memel ist, wie Seestädte meist, von vielen Fremden und Andersgläubigen besucht: jeder kann hier nach seiner Façon selig werden, zumal man doch in erster Reihe die Seligkeit nach kaufmännischer Façon erstrebt. Was aber das rein irdische Dasein betrifft, so herrscht hier der englische Ton vor: der Thee hat den Sieg über den Kaffee davongetragen, Portwein und Porter über den französischen Rothwein und das Bier. Zuweilen vereinigen sich alle Interessen in dem sogenannten „Wasserpunsche“, dessen aus dem Holzstapelplatze Ruß importirtes Recept so lautet: Setze einen Kessel mit Portwein aufs Feuer und gieße Kognak langsam nach. Weßhalb aber dieses Getränk Wasserpunsch heißt? Es soll gut sein, ihn auf dem Wasser zu trinken. Der Fremde wird schwer mithalten können, so lange er nicht durch das „Klima“ Memels genügend vorbereitet ist.

Die Memeler sind geborene Geschäftsleute. Darum klagte mir auch ein Buchhändler, der fast ausschließlich mit Papier handelte und trotzdem Bankerott machte, daß hier die schöne Litteratur nur allzu oft durch praktische Handelslitteratur, Wechsel u. dergl. ersetzt werde. Trotzdem sitzen die Kaufleute nicht immer in ihren Komptoirs oder halten sich in der Nähe der Flachswage auf, deren Windfahne aus einem Bündel Flachs besteht. Die Stadt ist reich an den schönsten Spaziergängen, und die Memeler sind ein Wandervölkchen. Ihr schönstes Ziel ist der etwa drei Kilometer entfernte Leuchtthurm, der das „Tief“, die Verbindungsstraße zwischen Haff und See, beleuchtet und dem bedrängten Schiffer den ruhigen Hafen und die Nähe freundlicher Menschen verkündet; ich meine jene tüchtigen, allezeit thätigen Lootsen, welche unausgesetzt von der „Kickbake“ in der Stadt, oder von dem Leuchtthurme schauen und niemals zögern, ihr Leben einzusetzen, wo es gilt, ein gefährdetes Schiff zu erreichen und es durch das Tief in den Hafen zu steuern. Seitdem ich wiederholt mit Lootsen die norwegische Küste umfahren und diese immer ernsten, stillen und freundlichen Menschen beobachtet und liebgewonnen habe – und unsere deutschen Lootsen sind wahrlich nicht weniger zu preisen – will es mir scheinen, daß es keinen Lebensberuf gebe, der eine schwerere, aber auch keinen, der eine so große und dankbare Aufgabe stelle, wie der dieser Männer, deren Todesmuth immer der Rettung fremder, unbekannter Menschen gilt, und die, fast alle verheirathet, Weib und Kind gleichsam gering achten, wenn es die Pflichterfüllung gilt. Und diese Menschen sind alle von hoher Bildung: sie sprechen mehrere Sprachen, verstehen sich auf Mathematik – ein Wissen, das sie sich meist auf der Memeler Navigationsschule angeeignet haben – und blicken dabei so einfach und mild wie mit Kinderaugen.

Es kommt freilich vor, daß selbst die Lootsen nicht auf die See können: da hat der Schiffer sich selbst zu helfen: er muß beim Einlaufen namentlich darauf halten, daß die drei „Baken“, eigenthümliche spitze, aus Eisenstangen oder Holz bestehende thurmartige Gestelle, sich für sein Auge decken. Denn nur so lange, als dieses der Fall, befindet er sich in der sichern Fahrstraße. Eine kleine Verschiebung der Baken bedeutet für ihn Aufrennen und Scheitern. In solchen Augenblicken stehen oft Hunderte von Menschen am Ufer, in der Nähe des Leuchtthurms, oder auf der „Nordermoole“, soweit Sturm und Wogen hier ein Verweilen gestatten, und starren in den schäumenden Aufruhr, durch den der Schiffer seinen Weg zu nehmen hat. Wie viele Schiffe liegen hier nicht im Grunde!

„Wir sahen heute vom Leuchtthurm aus ein unglückliches Schiff scheitern; ein Boot rettete 13 Mann und dann schlug es um, und wir sahen sie alle vor unseren Augen umkommen“ – so schreibt die Gräfin Voß am 11. September 1807, in jenem unglücklichen Jahre, da der preußische Königshof sich in Memel befand und man am Abend die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ von Schiller las.

Als es sich im Frühjahr 1855 darum handelte, das abgebrannte Memel wieder aufzubauen, wurden 300 belgische Ziegelarbeiter engagirt; ein Dampfboot sollte sie nach Memel bringen. Aber es lief auf der Nordermoole auf und versank mit Mann und Maus.

Aber solche Katastrophen bilden doch die seltene Ausnahme. Wie prächtig segeln die meisten Schiffe in den ruhigen Hafen ein und lassen Segel nach Segel fallen! Zuweilen stürzen sie, vom Sturmwind gejagt, pfeilschnell dahin. Andere fliehen wie vor einem Wolfe, der sie verfolgt. Ich hatte bei meinem letzten Besuche des Leuchtthurms ein anderes Bild. Ein esthnischer Schmuggler, angeblich von der Insel Oesel, kam durch das Tief gezogen, leicht, elegant, wie eine Möve; ganz bedeckt mit Segeln, als gelte es, auch den kleinsten Windhauch aufzusaugen. Etwas Reizenderes von Schiff habe ich nie gesehen. Ich mußte an einen Schwan denken, der seine Flügel im Winde entfaltet. Und diese Leute kommen viele Meilen weit über die stürmische See gefahren, um sich in Memel mit Spirituosen zu versehen und sie in Rußland einzuschmuggeln. Meist glückt es ihnen, sei es im Dunkel der Nacht, sei es durch Bestechung der dem „Wotki“ und dem Silberklange sehr zugänglichen russischen Zollwächter. Im Falle des Mißlingens kommen sie nach Sibirien. Trifft ein russischer Zollkutter sie auf hoher See, so gilt es, sich schleunigst der Contrebande zu entledigen. Die kostbaren Fässer mit Rum und Portwein werden über Bord geworfen: „man ist vom Sturmwinde verschlagen, treibt seit Tagen steuerlos auf hoher See“. Die Zollbeamten lächeln, fischen die treibenden Fässer auf und – betrinken sich bis zur Sinnlosigkeit. Die unglücklichen Verschlagenen benutzen den ersten besten Moment und machen sich davon. Diese Leute sprechen nur esthnisch, eine Abart des Finnischen; aber in Memel giebt es doch ein paar Leute, welche selbst diese Sprache verstehen.

Ja, wenn die russische Zollgrenze nicht wäre, welche den nördlichen Zipfel Ostpreußens wie eine chinesische Mauer von dem natürlichen Hinterlande abschließt und der Stadt Memel den Athem benimmt! Was ist nicht nach dieser Richtung hin alles gesprochen, gewünscht und geschrieben! Aber Rußland bezieht seine Haupteinnahme aus den Grenzzöllen, und so lange dieses der Fall, wird es sich gegen einen freien Grenzverkehr sträuben und wird auch der preußische Schmuggler nicht aussterben, der trotz aller Hindernisse und fast immer mit Lebensgefahr die zu schmuggelnden Waaren über die Grenze schafft. Jahrelang hat einst die „Rothbrust“ (littauisch raudons kruttinis), so genannt nach seiner rothen Weste, die russischen Zollbeamten und Kosakenpikets an der Nase herumgeführt. Der Schrecken, welchen ein anderer Schmuggler, Adomeit, um sich verbreitete, war so groß, daß sein Name genügte, um eine ganze Truppe in die Flucht zu schlagen. Einst traf er einen Kosakenposten, der auf ihn anlegte. „Weißt Du nicht, daß ich der Adomeit bin?“ rief er ungeduldig. Aber der Soldat schoß ihn todt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_554.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2024)