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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Für ihre Wirksamkeit theilte die Gesellschaft die Stadt in Bezirke, an deren Spitze ein „Vorsteher“ gestellt wurde, unter welchem mehrere „Pfleger“ wirkten. Vier Ausschüsse: eine Versorgungs-, eine Arbeits-, eine Schul- und eine Krankenkommission wurden gewählt. Schon 1793 erwarb man ein großes Haus und richtete in demselben eine Lehr- und Arbeitsanstalt ein. Nachdem am 24. Mai 1793 der Gesellschaft die staatliche Anerkennung ertheilt war, wurden am 3. Juni desselben Jahres die neue Armenanstalt und das Freischulhaus feierlich eingeweiht.

Freilich waren damals die Zeiten für derartige Bestrebungen ungemein günstig. Humanitätsfragen beschäftigten lebhaft die gebildeten Kreise, und so entfalteten auch die Kieler Gelehrten und Universitätslehrer eine aufopferungsvolle Thätigkeit für die neugegründete Gesellschaft, die selbst über eine eigene Zeitschrift verfügte, die „Kielische gemeinnützige Nachrichten“ (1776 gegründet), welche dann als „Wochenblatt zum Besten der Armen in Kiel“ bis 1879 bestanden hat.

Das Bestreben der Gesellschaft ging vor Allem darauf hin, die Armen womöglich wieder zur Selbständigkeit zu bringen, die Kinder derselben aber durch Ausbildung und Erziehung zu brauchbaren Mitgliedern des menschlichen Gemeinwesens zu machen.

Die Arbeitskommission hatte darum die Aufgabe, arbeitsfähigen eingezeichneten Armen durch Spinnen und Stricken Arbeit zu verschaffen und den Kindern in der Arbeitsschule Anleitung zu dieser Beschäftigung geben zu lassen. In richtiger Würdigung der Verhältnisse wurde im Jahre 1795 außerdem eine Sonntagsschule für Erwachsene eingerichtet, welche Gesellen, Lehrlinge und Dienstmädchen aufnahm, um deren Schulunterricht zu vervollständigen. Zur Aufsicht über die aus der Freischule entlassenen Knaben und Mädchen, namentlich solche, die elternlos waren oder deren Eltern nicht zur Erfüllung ihrer Pflichten geeignet erschienen, setzte man ferner 1798 eine Aufsichtskommission ein, deren Mitglieder schon in den beiden ersten Jahren bei 54 Knaben und 70 Mädchen Elternstelle vertraten.

Hand in Hand mit diesen Bestrebungen ging alsbald die Ausführung eines anderen Planes. Schon im Jahre 1793 beschäftigte sich die Gesellschaft mit der „Erwägung der zweckdienlichsten Vorschläge, um die Quellen der Verarmung am Orte zu verstopfen“. Man berief wiederum eine Kommission zur näheren Prüfung dieser Angelegenheit, die namentlich zwei Wünsche formulirte: „Erstens um zu verhüten, daß Dienstboten, Arbeiter und Andere ihr Erworbenes verschwenden oder durch unsicheres Ausleihen verlieren möchten, solle eine Sparkasse, bei der die kleinsten Summen sicher zinsbar untergebracht und im benöthigten Falle jederzeit wieder erhoben werden könnten, errichtet werden, und zweitens eine Leihkasse für gewerbtreibende Bürger ins Leben treten, um diesen in vorkommenden Fällen aus der Verlegenheit zu helfen, damit sie nicht durch Verpfändung des Ihrigen oder durch abgedrungene wucherische Zinsen muthlos gemacht und außer Thätigkeit gesetzt werden möchten.“ Im Laufe der Jahre 1794 und 1795 wurden dem Publikum mehrere hierauf bezügliche Vorschläge unterbreitet. Endlich konnte unterm 27. Mai 1796 die Kieler Sparkasse, die erste ihrer Art in Schleswig-Holstein, als eröffnet angekündigt und die Leihkasse als baldigst folgend versprochen werden. Gleichzeitig wurde für die Thätigkeit eine Reihe wohldurchdachter Festsetzungen getroffen, die in den Hauptgrundzügen bis auf den heutigen Tag maßgebend geblieben sind – Regeln, so gründlich erwogen, daß sie noch jetzt für jede kleinere Sparkasse als Basis gebraucht werden könnten. Schon der erste veröffentlichte Jahresbericht hebt hervor: „Bald darauf (nach dem Inslebentreten der Sparkasse) sahen wir mit großer Freude, wie uns so reichlich kleinere und größere Summen als Darlehen gebracht wurden. Die Meisten gaben ihr Geld auf Zins und Zinseszinsen hin.“

Ganz langsam ging die Entwickelung im ersten Jahrzehnte, aber beständig fortschreitend. Die Leihkasse ließ nicht lange auf sich warten. Gemeinsinnige Männer zeichneten Verlustaktien zur Deckung etwaiger Verluste; unterm 4. Juni 1798 erschien ein königliches „Placet“, welches der neuen Schöpfung gewisse Vorrechte einräumte, und am 4. März nächsten Jahres begann dieselbe ihre Thätigkeit. Auch hierfür trat sofort ein umfangreiches Statut in Kraft, welches ebenso sehr für die Vorsicht und den klaren Blick der Verwaltung wie für den humanen Geist derselben spricht.

So steht bereits die Spar- und Leihkasse zu Kiel als eine vollständig abgeschlossene Organisation vor Schluß des letzten Jahrhunderts da – zu einer Zeit, wo im Uebrigen nur sechs Sparkassen überhaupt bekannt waren. Bei Ablauf der ersten drei Jahre schloß die Verwaltung mit einem Verluste von einigen hundert Mark. Wie hat sich indeß im Laufe der Zeit gerade diese Einrichtung entwickelt! Am Schlusse des neunundachtzigsten Rechnungsjahres, ultimo März 1885, enthielt die Sparkasse über 17 Millionen Mark Einlagen, und es hatte dieselbe gegen 19 Millionen Kapitalien ausgeliehen. Das Reinvermögen derselben stellte sich auf rund anderthalb Millionen, der Reingewinn für das Vorjahr auf 154 234 Mark.

Den Fortgang der Gesellschaft im Einzelnen zu schildern, würde den uns bemessenen Raum weit überschreiten. Zu einer Umgestaltung des Kieler Armenwesens kam es erst 1871 in Folge Ausführung des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, durch welches das Armenwesen ausschließlich den Gemeindebehörden zufiel. Nur die 1793 errichtete Freischule war schon vorher, 1861, in die städtischen Schulen Kiels eingegliedert worden.

Der Gesellschaft blieb jetzt keine andere Wirksamkeit übrig, als die Beschlußfassung über die Ueberschüsse der Spar- und Leihkasse. Sollte sie trotzdem als ein lebendiger Organismus weiter bestehen, so genügte es nicht, sich auf die bloße Vertheilung der Ueberschüsse und die Verwaltung der ihr verbliebenen Spar- und Leihkasse zu beschränken. Es galt vielmehr, sich neue Aufgaben zu stellen. Dies geschah nun, indem eine Anzahl von Ausschüssen neu gebildet und einige der früheren entsprechend umgestaltet wurden, und es bedarf nur einer kurzen Umschau auf das gegenwärtige Arbeitsfeld der Gesellschaft, um zu erkennen, daß die letztere durch jene Entlastung von der Armenpflege nicht nur nichts verloren, sondern im Gegentheil viel gewonnen hat.

Wie die alten Satzungen der Gesellschaft, wenn auch mit allerlei Aenderungen, noch bis zum heutigen Tage bestehen, so ist auch aus der früheren Organisation Verschiedenes übernommen. Es giebt wie dereinst eine Centralleitung, mit einem „Wortführer“ an der Spitze, und es bestehen noch immer die periodischen Plenarversammlungen. Unter diesen wirken die Ausschüsse für die Centralverwaltung und eine stattliche Reihe von Kommissionen für die gemeinnützige Thätigkeit. Und wie groß und vielgestaltig ist das Gebiet, auf dem hier der echte Bürgersinn mit unermüdlichem Eifer die Leiden der Unglücklichen zu mildern sucht! Da steht obenan die Helferkommission, welche, nach den Pfarrbezirken der Stadt in vier Abtheilungen gegliedert, in Verbindung mit dem Frauenverein für Armen- und Krankenpflege der Unterstützung verschämter Armen sich widmet. Sie verausgabt durchschnittlich 20000 Mark im Jahre, wovon ihr 14000 Mark aus Gesellschaftsmitteln zufließen. Die Aufsichts- und Erziehungskommission hat sich den Schutz der aus den Freischulen entlassenen, hier in die Lehre oder in Dienst getretenen Kinder, die sonstiger Obhut entbehren, zur Aufgabe gestellt. Die Arbeitskommission sorgt für Arbeitsbeschaffung, sei es durch Nachweis von Beschäftigung, sei es durch unmittelbare Gewährung von Arbeit, sie hat seit Jahren bereits Hausfleißkurse in den verschiedenen städtischen Schulen, ferner sogenannte offene Abende für Stopfen und Flicken – in denen 400 Mädchen aus den Freischulen in der so wichtigen Kunst des selbständigen Ausbesserns ihrer und ihrer Angehörigen Kleidungsstücke unterwiesen werden – errichtet: dieselbe Kommission hat endlich im Vorjahre den ersten Knabenhort in Schleswig-Holstein ins Leben gerufen. Die Schulkommission führt die Aufsicht über die Frauengewerbeschule – in ihrer Unterrichtsweise und ihren Erfolgen eine Musteranstalt – für welche die Gesellschaft im Vorjahre ein eignes Gebäude zum Werthe von über 60 000 Mark hat aufführen lassen. Die Kommission für die warmen Bäder erleichtert es jährlich mehr als 12 000 Personen, der Wohlthat eines Warmbades theilhaftig zu werden, indem sie von den wirklichen Kosten eines solchen (30 Pfennig) je 25 Pfennig beiträgt und die betreffende Karte für 5 Pfennig alten Unbemittelten abläßt. Für die Volksküche ist erst im April d. J. ein neues Gebäude mit einem Kostenaufwande von über 80 000 Mark fertig gestellt worden, welches durch seine ausgezeichneten Einrichtungen (es befindet sich daselbst unter Anderem der aus der Berliner Hygiene-Austellung so allgemein anerkannte Becker’sche Dampfkochapparat) eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges bildet. Hunderte von kleinen Leuten erhalten hier täglich gegen eine billige

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_571.jpg&oldid=- (Version vom 24.10.2022)