Seite:Die Gartenlaube (1885) 858.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

die Messe in der Minoritenkirche zu hören, und zweitens hört man hier die beste Kirchenmusik und in der wunderbarsten sorgfältigsten Ausführung. Allein der Fremde, der gerade hier vorüberkommt, wundert sich doch über das außergewöhnliche Getriebe und wendet sich wohl an einen, der vorübereilt: „Entschuldigen Sie die Frage, was ist denn hier Besonderes los?“

Und der Angeredete, im Vollgefühl seines Besserwissens, antwortet mit der höflichsten Bereitwilligkeit: „Die Scandrini singt das Gloria von Palestrina in der nächsten Messe!“ Er sagt es mit einer Wichtigkeit, als wenn er mitzutheilen hätte, daß der Papst in allerhöchsteigener Person das Hochamt celebriren und der Kaiser von dessen Händen das heilige Abendmahl empfangen würde, denn musikalische Ereignisse gelten in dieser Stadt, wo das Viergestirn Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert gewirkt hat, für höchst wichtig und allgemein beachtenswerth.

Da aber der gute Wiener merkt, daß seine Mittheilung auf den Fremdling gar keinen so tiefen Eindruck hervorbringt, als er erwartet hat, so läßt er den Barbaren stehen, um nicht zu spät zu kommen, denn schon nimmt das Gedränge unter der schönen Wölbung von alten Steinarabesken bedenklich zu, und die Ellenbogen müssen ihre Schuldigkeit thun, wenn die Ohren zu künstlerischem Genuß und das Herz dadurch zu frommer Auferbauung gelangen soll.

Nach zwei Schritten kehrt jener sich aber doch noch einmal um, kurz bevor er in den Menschenknäuel sich einreiht, und sagt zu dem blonden Fremdling, der ihm auf wiegeuden Schritten folgt: „Wenn Sie sie sehen wollen, das ist die Scandrini! . . . Die dort über den Platz herüberkommt, die Blondine neben dem geistlichen Herrn! . . . ? . . . Ja, die!“

Wer Bianca dritthalb Jahre nicht gesehen hatte, der mochte sie wohl verändert finden. Aber wohl schwerlich minder hübsch.

Sie war um eine Fausthöhe noch gewachsen, ihre Miene war etwas länglicher geworden, ihr ganzer Ausdruck ernsthafter, und in Augen und Mund lag etwas wie ein schwärmerischer Schmerz, der ihren Liebreiz nur erhöhte. Aus dem singenden springenden Wildfang, halb Kind, halb musikalisches Ungethüm, war ein sinniges, wunderholdes Frauenzimmer geworden, ihr Gretchenangesicht hatte einen madonnenhaften Zug. Wenn der Wiener jener Zeit die schönsten Mädchen in der Stadt aufzählte, wurde Bianca Scandrini, oder wie sich die Bekannten der Familie ausdrückten, Blanche Latschenberger nicht vergessen.

Auch ihre Stimme hatte sich verändert. Es war nicht mehr jenes umfangreiche phänomenale Instrument, worüber sich Jeder, der es hörte, höchlich erstaunte. Die Wunden, die ihm ein herber Sommerabend und viel Herzeleid geschlagen, waren nicht alle vernarbt, und die Narben gaben ihm keinen schöneren Klang. Aber doch hatte sich die Stimme aus der Krankheit, die sie so sehr geschädigt, zum Theil gerettet. Nicht mehr so umfangreich, ohne Höhe, hatte sie sich in der Mittellage und in der Tiefe eine seltene Innigkeit des Tones bewahrt, und die Geläufigkeit ihres Organs ließ nie die hinreichende Wirkung vermissen.

Dennoch ward Bianca ein Gefühl der Unsicherheit, der Bangigkeit nicht mehr los, wenn sie ihre eigene Stimme klingen hörte. Sie meinte deutliche Zeichen krankhafter Schwäche zu vernehmen, die Andere aus Schonung, aus Höflichkeit nicht hören wollten. Eine Kraft, die ihr einmal und auf so lange Zeit versagt hatte, konnte wieder und im entscheidenden Augenblick versagen. Sie unterschätzte nicht, was ihr geblieben, aber sie fürchtete, es zu überschätzen. Die Tage kühnen sorglosen Vertrauens in sich waren eben vorüber. Kein Mensch hätte sie überreden können, sich mit diesem unsicheren Rest von Klanggewalt in der Kehle auf eine Bühne zu stellen und das Urtheil eines verwöhnten Publikums herauszufordern.

Und doch hätte sie Jahre ihres Lebens hingegeben, wär’ es ihr nur einmal im Leben geglückt, einen vollen Erfolg auf einem großen Theater zu erringen.

Pater Otto, der wohl wußte, was im Gemüthe seiner Muhme vorging, war der Einzige, der in den Tagen tiefster Betrübniß und ehrlicher Verzweiflung am eigenen Können sie aufzurichten suchte und sie wieder auf künstlerische Gedanken, wieder zu künstlerischen Vorsätzen brachte.

Da ihr Sinnen nur auf ernste Dinge gestellt war, lag es ihm, dem musikalisch gebildeten Geistlichen, ja nahe, die Sängerin auf die ungeahnten Schätze kirchlichen Gesanges aufmerksam zu machen. Wie er früher sie in Sprachen, in Litteratur, in Geschichte unterrichtet hatte, so fing er jetzt an, ernsthafte musikgeschichtliche Studien mit ihr zu treiben. Und sie, die im Herzen so verarmt war, wußte es ihm Dank, daß er nicht müde ward, ihre Gedanken zu festigen und in eine herrliche Welt za bannen, für die sie bald packendes Verständniß bewies.

Und nicht bloß Verständniß. Mit allmählicher Genesung stellte sich auch die Lust zu schaffen allmählich wieder ein. Erst brachte Pater Otto sie nur mühsam dazu, daß sie beispielsweise, mit halber Samme, nur um sich selber die Dinge, von denen sie lernend hörte, die musikalischen Thaten der Vorzeit, klar zu machen, vor ihm sang. Aber sicherer und sicherer sich fühlend, an den veränderten Klang ihrer Kehle, der sie erst entsetzt, sich gewöhnend, und endlich hingerissen von der Schönheit unsterblicher hoher Werke, ward sie zum zweiten Mal Sängerin, wenn auch ohne den brennenden Ehrgeiz, in aller Kunstsinnigen Mund zu sein und ihren italienischen Kriegsnamen an allen Straßenecken von den Theaterzetteln zu lesen.

Pater Otto wachte treu über ihr und beobachtete sie mit einer Sorgsamkeit, wie ein Meister sein eigenstes Werk, wie ein uneigennütziger Freund seine liebste Seele. Trübsal und Verzweiflung an innewohnender gottergebener Kraft galten ihm als zwei böse Teufel. Und er wollte diesen Teufeln die Seele Bianca’s nicht lassen.

Er wußte, daß der Ehrgeiz ihr heilsame Arzenei sein werde, drum gab er ihr, als sie soweit erstarkt war, sich zu fassen und zu halten, die Absicht ein, was sie nun gelernt, auch zur Freude eines kunstverständigen und zur Auferbauung eines frommen Publikums, ohne Flitter und Kram der Eitelkeit, ohne Schaustellung der eigenen Person, zu zeigen.

Es kostete einen langen Kampf und bedurfte nimmermüden Zuspruchs, aber an einem hohen Festtage betheiligte sich Bianca denn doch am kirchlichen Gesang, dessen hohe Pflege eines der schönsten Ruhmesblätter im künstlerischen Ehrenkranze der leichtlebigsten Millionenstadt ist.

Erst ließen Bianca’s Versuche sich nur in der Lerchenfelder Vorstadtkirche und ziemlich befangen hören. Aber mit der Aufgabe wuchs ihr der Muth, mit der Wiederholung das Vertrauen, mit dem Beifall solcher, die sie schätzte, die beseligende Freude, doch wieder ein thätiges Glied im fröhlichen Heere der göttlichen Frau Musika zu sein.

Wo es an Kennern wimmelt, sorgen auch die Kenner dafür, daß Können nicht im Verborgenen bleibt, in dieser ersten aller musikalischen Städte der Welt blieben Bianca’s Leistungen auf dem neuen Felde nicht lange unbeachtet. Sie hatte sich in dieser Sphäre einen Namen gemacht, eh’ sie es selber wußte. Ihre eigene Bangigkeit und Pater Otto’s Vorsicht sorgten dafür, daß sie nie zu viel und nie anders sang, als ihrer nunmehrigen Stimmlage durchaus entsprach. Was sie von Glück sich bewahrt hatte, galt ihr selber als so gebrechlich, daß sie es nie mehr auf ein leichtfertiges Spiel setzen wollte. So trat sie nie fehl in der fromm und dankbar betretenen Laufbahn. Die Maßgebenden, auf die ja Pater Otto nicht ohne Einfluß war, freuten sich, über ein Talent zur höheren Ehre Gottes verfügen zu dürfen. Bei allen Denen, die an guter Kirchenmusik, sei’s aus künstlerischem, sei’s aus religiösem Bedürfniß, Antheil nahmen, genoß Bianca einer gewissen kleinen, aber soliden und ungemein ehrenwerthen Berühmtheit. Und wenn sie an der Seite des stattlichen Chorherrn, ihres Vetters, daherkam, ihren verborgenen Platz neben der großen Orgel einzunehmen, da stießen sich die Kirchenbesucher mit den Ellenbogen an und sagten: „Schau, das ist das Mädel mit der herzbewegenden Stimme, und wie bildhübsch sie ist!“

Nicht auf jeden Fremdling aus jenen Gegenden, auf die der Satz angewendet wird: Frisia non cantat, machte freilich die Erscheinung Bianca’s solchen Eindruck wie auf den, welcher unbemerkt in der Menge seine wassergrauen Augen auf sie heftete und blaß und roth und wieder blaß wurde, da er das Bild seiner Träume mit der Wirklichkeit, der noch viel schöneren Wirklichkeit verglich, die jetzt an ihm vorüberschwebte, ohne seiner, ohne irgend Jemands in der Menge zu achten.

Ach, wie unsagbar glücklich hätte er sein können in diesen drei unwiderruflich verlorenen Jahren! Und wer so engelgut, so seelenverklärt aussah, der konnte kein hinterlistig Spiel mit ihm getrieben haben, das einer Dirne zu schlecht gewesen wäre!

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 858. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_858.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2023)