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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

komfortabelsten Landhäuser im großen Stil und ausgedehntestem Garten- und Parkkranz. Eine eigentliche Christbescheerung oder specielle Feier des Heiligabends wie bei uns im deutschen Vaterlande kennt man nicht, dafür aber macht sich der Familiensinn und die Familienzusammengehörigkeit bei den Engländern während dieser Zeit weit mehr geltend als bei uns. Von weit und breit kommen sie zugereist, die in irgend näherem Zusammenhang mit dem Stammhause stehen, um in schönster Gemeinsamkeit die Feiertage zu verleben. Es ist ein heiligschönes Familienfest im wahrsten Sinne des Wortes. Christbaum und Weihnachtsgeschenke lernt man leicht verschmerzen, wenn man inmitten einer so fröhlich-harmonischen Weihnachtsversammlung sitzt, die völlig vergessen zu haben scheint, daß es ernste Lebensfragen und Sorgen für den übrigen Theil des Jahres giebt. Die Alten werden wieder jung mit der Jugend, spielen lustig „Blindekuh“, „Such’ den Pantoffel“ und andere drollige Kinderspiele mit uns heiteren Menschen unter 20 Jahren, und kaum weiß ich, wer sich mit vollerem Herzen dem Genusse des Augenblicks hingab: mein steifer wortkarger Schwiegerpapa mit den schneeweißen Bartkoteletten, vor dem ich an Werkeltagen einen so scheuen Respekt habe, oder meine damals siebzehnjährige Wenigkeit. Drei Schwestern von Mrs. Brook mit Männern und Kindern waren ebenfalls gekommen, sechs Söhne des Hauses aus Oxford und Eton rechtzeitig eingetroffen, und mein langbeiniger, etwas ungeschlachter Tom, an dessen Arm ich wie ein „ridicule“ anzuschauen sein muß (au, da kneipt er schon wieder!), hatte den Fabrikschornsteinen Manchesters auf einige Tage ganz den Rücken gekehrt, um hier in Bowden (ein Platz wie Charlottenburg zu unserem heimischen Berlin) die rauchige Geschäftsatmosphäre aus Kopf und Kleidern los zu werden.

Wir waren eine Gesellschaft von sage dreißig Personen. (Es geht hier übrigens alles im großen Stil zu, Mittelklassen existiren eigentlich nicht und man sieht nur ganz reiche oder ganz arme Leute.) Dreißig Personen, die das gastliche Haus der Brook’s umfaßte, und wie viel „fun“ haben wir getrieben! Nun möchtest Du wissen, was dieser urenglische „fun“ heißt, nicht liebe Seele? Das ist Scherz, gute Laune, Vergnüglichkeit und Amusement alles zusammen genommen; das, was man Andern thut, von diesen bekommt, und was von außen hinzutritt, um fröhliche Stimmung zu verschaffen. Wir Jugend strömten in den schneebedeckten Garten und beraubten die immergrünen Büsche. Ueberall wurden die metallisch-leuchtenden, stachligen, dunkelgrünen Blätter, zwischen denen die dunkelrothen Beeren funkelten, als Zierrath und Weihnachtsembleme angebracht, Bilder, Spiegel, Wände, nichts wurde vergessen, und dann hing Lizzy den Mistelbusch, der in keinem echt englischen Hause zu Weihnachten fehlen darf, mitten unter den Kronleuchter. Schwager Charly hat dazu eine Skizze gezeichnet, die ich zu Deiner besseren Orientirung dem Briefe beischließe, und Schwager Bob, unser gelehrtes Familienlexikon, läßt Dir sagen, die Mistel (mistella) sei als Weihnachtsschmuck ein Ueberbleibsel der Druidenzeit, wahrscheinlicher noch eine Verehruug des Gottes Balder, weil derselbe durch einen Mistelstock erschlagen wurde; da er aber wieder auferstand, wurde der Mistelzweig der Liebesgöttin gespendet, woraus der Brauch entstanden – doch ich will meinem Schlußeffekt ja nicht vorgreifen.

Nach einer Skizze von Paul Sembtner.

Kehren wir also zuerst zu den Weihnachtsgesängen, die den Tag einleiten und von unsern beiden Jüngsten mit engelhaften Stimmen ausgeführt wurden, und zu der Krone des Festes, dem Weihnachtsdiner, zurück, bei dem ein Etwas nie fehlen darf, was uns Deutschen nicht immer mundet, das von englischen Essern aber in unglaublichen Massen vertilgt wird: plumpudding nämlich, um den die bläuliche Flamme des angebrannten Rums züngelt. Der landesübliche plumpudding, ein riesiger gekochter Globus, der mit seinen reichen Bestandtheilen von Mehl, Fett, Rosinen den Magen leicht beschwert, darf Weihnachten weder im Hause des Reichen noch des Armen fehlen; ebenso schmücken die Fest-Nationalgerichte des fetten Puter nebst geräucherter Zunge und des mächtigen Roastbeefs fast ohne Ausnahme jede Tafel der drei Königreiche.

Und nun zu dem, was Dir als warnendes Exempel dienen mag. Wir hatten unsere Selleriestangen zum Chesterkäse geknuspert, die alten Herren saßen noch über ihrem port und claret und Mrs. Brook forderte uns Jugend auf, den Kaffee im drawing room zu nehmen. Tom, der Heimtückische, reichte mir seinen Arm, in Lizzy’s Augen funkelt es schalkisch auf, in denen ihrer Brüder in geheimer Schadenfreude. Tom, der Verräther, führt mich mit steifer Grandezza aus dem Speisesaal hinaus in die Halle unter den Kronleuchter, von dem der riesige mistletoe herabhängt. Dann packt er mich ahnungsloses, toderschrockenes Opferlamm (nun schließe Deine Ohren, Pensionskind, es schickt sich eigentlich gar nicht für Dich, das zu hören, geschieht aber der Abschreckungstheorie halber), umfaßt mich mit seinen riesigen Armen und küßt mich schallend dreimal auf den Mund, ehe ich noch zur Besinnung komme. Erst bin ich versteinert, dann empört und will zornig losbrechen, da lacht es aber im Chorus um mich her. Die Kinder küßten sich unter dem mistletoe, junge Männer suchen mit tausend Künsten ihre Angebeteten unter das mystische Attribut der nordischen Liebesgöttin zu locken, ja das Hausmädchen, das dem jüngsten Sohn des Hauses unter der geheimnißvollen Krone begegnet, fordert mit höflichem Knix ihr dadurch schuldiges Präsent ein.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich mußte mit den Wölfen heulen. Die geheimnißvolle Macht, die der mistletoe zu Weihnachten demjenigen giebt, der den Anderen unter seiner Krone antrifft, hat sich bei uns ein bischen lange fortgesetzt, und der gewaltthätige Tom hat sein Antragsrecht ein bischen über Gebühr ausgedehnt, ja, denke nur, er macht heute noch an die damals verpfändeten Küsse Anspruch, wo der alte mistletoe längst verwelkt und wir den frischen in wenigen Tagen im Elternhause in leuchtendem Grün neu erstehen sehen. Er behauptet: unsere Liebe welke nie und erfahre ein tägliches Auferstehungsfest. Ueberzeuge Dich selbst von der wunderthätigen Macht dieser mystischen Weihnachtskrone, Du liebe Kleine. Auf Wiedersehen beim englischen Familienfest, beim plumpudding und unter dem mistletoe!
Deine ewiggetreue Freundin
 Martha Brook. 


Christrose. Wer kennt nicht jene Märchen von wunderbaren Blumen, die mitten im Schnee in der heiligen Nacht ihre Blüthen öffnen und Zauberkräfte besitzen? Allen diesen Sagen liegt etwas Wahres zu Grunde, und wer sich Mühe giebt, kann mit eigenen Augen das Wunder schauen. In milden Wintern beginnt gegen Weihnachten aus schneebedeckten Hängen und in schattigen Waldungen der Gebirge die Weihnachtsblume ihre Blüthen zu öffnen, die anfangs grünlich aussehen, mit der Zeit aber weiß werden, in röthlichen Farben erglühen und uns das sommerliche Bild der wilden Rose vorspiegeln.

Der gelehrte Botaniker nennt diese Pflanze „Schwarze Nießwurzel“ und findet in ihrem griechisch-lateinischen Namen Helleborus die Erklärung der Zauberkraft, welche der Volksglaube den um die Weihnachtszeit blühenden Pflanzen beilegt. „Sie nimmt das Leben, wenn sie genossen wird“, so etwa könnte man ihren Namen verdeutschen, und die märchenhafte Christrose gehört in der That zu den Giftpflanzen. In ihren Wurzeln sowie in denen ihrer Verwandten ist ein starkes Gift, das Helleborin, enthalten, das den ausgesprochensten Herzgiften beigezählt wird – eine Eigenschaft, auf welche wenig die schönen Dichterworte passen:

„Ein holdes Wunder, das sich nie erklärt,
Erblüht im Schnee und im Krystallgefunkel
Christblume, die der Geist der Liebe nährt.“

Freilich wird noch heutzutage hier und dort das Gift von den Aerzten als Heilmittel angewandt.

Die Gärtner haben der Blume längst ihre Aufmerksamkeit geschenkt, und wir sehen sie manchmal aus dem dunkeln Laub winterlicher Grabkränze hervorschimmern. In den Gärten von Balmoral in Schottland ist die Kultur der Christrose oder Weihnachtsblume zur höchsten Vollendung gebracht worden, und unsere Kronprinzessin hat von dort neuerdings die besten Varietäten in die von ihr so schön gepflegten Gärten des Neuen Palais in Potsdam verpflanzt, wo sie trefflich gedeihen. Unser Zeichner, der dort an Ort und Stelle die interessante Blume zeichnete, hat darum zwischen ihren Blättern auch die Abbildung des Neuen Palais in Potsdam eingefügt – die neueste Heimath der Christrose.


Die Weihnachtsfee. (Mit Illustration S. 844 und 845.) „Die fröhliche, selige Weihnachtszeit“, auf welche sich alljährlich so unzählige Kinder und Elternherzen schon Monate lang vorher freuen, ist leider für wohl ebenso viele Kinder und Eltern weder eine fröhliche noch eine selige Zeit. Kein mit Aepfeln, Birnen und vergoldeten Nüssen, mit süßem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1885, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_863.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2024)