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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

für einen Gott halten, sind im Grunde mehr nur unverständig und unglücklich als bösartig und straffällig.“

Freilich, die Juden hatten mittels ihres Muthes und ihrer Zähigkeit nur einen Aufschub der ihnen angedrohten Tempelschändung erlangt, allein dieser Aufschub währte doch gerade lange genug, d. h. bis zum Untergang des Tyrannen, mit welchem natürlich auch seine Göttlichkeit starb. Immerhin haben sich die Juden durch ihren Widerstand gegen den nichtswürdigen Götzendienst vor der übrigen Bevölkerung des römischen Reiches höchst vortheilhaft ausgezeichnet. Denn nicht dieses war das Aergste, daß der Narr Caligula sich für einen Gott hielt – so etwas kommt in jedem Irrenhause vor – sondern das Aergste war vielmehr, daß Millionen und wieder Millionen von „vernunftbegabten“ und „denkenden“ Wesen in feiger Niedertracht so thaten, als glaubten sie an eine Gottheit solcher Sorte.

(Schluß folgt.)

Vom Nordpol bis zum Aequator.

Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
1. 0Die Tundra und ihre Thierwelt.

Mitternachtssonne.

Rings um den Nordpol der Erde schlingt sich ein breiter Gürtel unwirthlichen Landes, eine Wüstenei, welche nicht die Sonne, sondern das Wasser zu dem gestempelt hat, was sie ist. Nach dem Pole zu geht diese Wüstenei allmählich in eisige Gefilde, nach Süden hin in halbverkrüppelte Waldungen über; zu Schnee- und Eisgefilden aber wird sie selbst, wenn der lange Winter in ihr einzieht, wogegen krüppelhafte Bäume nur in den tiefsten Thälern, auf den sonnigsten Gehängen den Kampf um das Dasein wagen. Dieses Gebiet ist die Tundra.

Es ist ein eintöniges Bild, welches ich zu zeichnen versuche, indem ich mich anschicke, die Tundra zu schildern, ein Gemälde Grau in Grau, und dennoch nicht aller Schönheit bar; es ist eine Einöde, um welche es sich handelt, aber eine solche, in welcher trotzdem das monatelang schlummernde, gleichsam verbannte Leben zeitweilig in wundersamer Fülle sich regt.

Unsere Sprache besitzt keinen deckenden Ausdruck für das Wort „Tundra“, weil es in unserem Vaterlande solches Gelände nicht giebt. Denn die Tundra ist weder Heide noch Moor, weder Sumpf noch Bruch, weder Geest noch Dünenland, weder Moos noch Morast, an so vielen Stellen sie auch an das eine oder andere dieser Gebiete erinnern mag. „Moossteppe“ hat man sie zu nennen versucht; der Ausdruck genügt aber nur dem, welcher den Begriff „Steppe“ im weitesten Sinne aufzufassen vermag. Meiner Ansicht nach ähnelt die Tundra am meisten jenen Mooren, welche man auf breiten Sätteln unserer Hochgebirge antrifft und – meidet; sie unterscheidet sich in vielen und wesentlichen Stücken aber auch von diesen versumpften Flächen, weil ihr Gepräge in jeder Beziehung eigenartig ist. Wenn man will, kann man sie in Tief- und Hochtundra eintheilen; die Unterschiede zwischen dem Lande unter und über einhundert Meter unbedingter Höhe sind in der Tundra jedoch mehr scheinbar als wirklich vorhanden.

Durch flache Wellenlinien begrenzt, liegt die Tieftundra vor dem Auge; als flache Mulden senken die Thäler sich ein, als flache Hügel erweisen sich selbst die, von fern gesehen, als Berge, ja förmliche Gebirge erscheinenden Höhen, sobald man ihrem Fuße sich genähert hat. Flachheit, Gleichförmigkeit , Ausdruckslosigkeit herrscht vor; ein gewisser Wechsel der Landschaft, Abänderung einzelner ihrer Theile läßt sich jedoch eben so wenig in Abrede stellen. Tagelang die Tundra durchwandernd, wird man oft gefesselt durch niedliche, selbst liebliche Kleinbilder; aber nur sehr ausnahmsweise prägt sich solches Bild der Erinnerung ein, weil bei genauer Prüfung das eine doch wiederum in allen wesentlichen Einzelheiten, durch seine Umgebung und Umrahmung, seine Umrisse und Farben anderen, früher gesehenen allzu sehr gleicht, als daß man es festhalten könnte. Ungeachtet solcher Einförmigkeit ist jedoch das Gepräge der Tundra kein einheitliches und noch viel weniger ein großartiges, und eben deßhalb erwärmt man sich nicht an diesem Gelände, gelangt man nicht zu jenem Hochgefühle, welches andere Landschaften in uns wachrufen, vielleicht nicht einmal zum Vollgenusse der wirklichen Schönheiten, welche auch dieser Einöde nicht abgesprochen werden können.

Ihren größten Schmuck erhält die Tundra vom Himmel, ihren größten Reiz durch das Wasser. Ganz rein und heiter ist der Himmel selten, obwohl auch hier die monatelang ununterbrochen scheinende Sonne heiß herabbrennen, drückend herniederstrahlen kann auf die flachen Hügel und in die seichten Thäler. In der Regel blickt das Blatt des Himmelsgewölbes nur an einzelnen Stellen durch lichtweiße, locker geschichtete Wolken; diese aber verdichten sich oft zu Haufenwolken, welche allmählich ringsum, auf allen Seiten des unermeßlich scheinenden Gesichtskreises auftreten, fortwährend sich ändern, verschieben, neu gestalten, entstehen und vergehen, und deren wechselvolle Beleuchtung dann das Auge so bezaubert, daß man die unter ihnen liegende Landschaft fast vergißt. Droht nach heißen Tagen Regen gewitterhafter Art, dunkelt der Himmel hier oder dort bis zum tiefsten Graublau, senken sich dunstschwere Wolken unter die lichteren nieder und strahlt die Sonne doch noch rein und glänzend zwischen ihnen hindurch, so erscheint die so öde, einförmige Landschaft zauberisch geschmückt. Denn Licht und Schatten malen jetzt Hügelrücken und Thäler, und das sonst ermüdende Einerlei ihrer Farben gewinnt Wechsel und Leben. Und wenn um die Mitte der Hochsommernacht die Sonne groß und tiefroth am Himmel steht, wenn alle Wolken von unten her purpurn gesäumt werden, wenn Bergrücken, welche das leuchtende Gestirn verdecken, eine auf weithin reichende, flammende Strahlenkrone tragen, wenn ein rosiger Dufthauch sich über die braungrüne Landschaft legt, wenn, mit einem Worte, der unbeschreibliche Zauber der Mitternachtssonne die Seele umstrickt: dann wandelt sich diese Wüste in ein wunderreiches Gefilde, und wonnevoller Schauer erfaßt das Herz im Tiefinnersten.

Wechsel und Leben bringen aber auch die Kleinodien der Tundra, zahllose Seen, in das Gelände. Einzeln oder gruppenweise vertheilt, neben oder über einander liegend, zu meilenweiten Wasserbecken sich ausdehnend und zu kleinen Teichen zusammenschrumpfend,

erfüllen sie die Mitte jedes Kessels, schmücken sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_049.jpg&oldid=- (Version vom 16.1.2024)