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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Von dem Kopieren der Bilder war keine Rede mehr gewesen seit Lotte’s Verlobung; auch jetzt nicht. Es schien, als möchte sie die Staffelei nicht mehr sehen. Sie saß meistens, den Ellenbogen auf dem Fensterbrett, den Kopf in die Hand gestützt, in tiefen Gedanken; eine völlige Schlaffheit schien über sie gekommen. Im Nebenzimmer aber lag die Großmutter zu Bette. Sie war nicht eigentlich krank, „nur müde,“ sagte sie. Ich ging von Lotte zu Großmutter und von Großmutter zu Lotte, mit bangem Herzen forschend und fragend; und die alte lebensmüde Frau lächelte und bat mich, Geduld mit ihr zu haben. Aber die junge Braut sah verdrießlich und lebensmüde aus und wies mich unfreundlich zurück.

Zuweilen wurde sie merkwürdig lustig, die Lotte und begann ihr späteres Leben auszumalen mit tollem spöttischen Humor. Und dann setzte sie hinzu: „Ich kann das ja, ich bekomme ja einen steinreichen generösen Mann; in meinen Kaffees gebe ich noch eine Torte mehr als die Frau Superintendentin, und der Brokat zu meinem Kleide soll einen Thaler mehr kosten, als derjenige der Frau Postdirektorin, ich kann es ja.“ Und traf er sie in solcher Stimmung, dann ließ sie sich großmüthig von ihm in die Arme schließen und zupfte ihn am Bart, nannte ihn „ihren großen Friedrich“ und versetzte ihn mit tausenderlei Schnaken und Schnurren in den siebenten Himmel.

Meistens aber war sie still und einsilbig, bis zur Unerträglichkeit schlecht gelaunt, und der guten Stunden wurden immer weniger.

„Aber, um Gotteswillen, Tone, was ist’s mit der Lotte?“ fragte mich der halbverzweifelte Bräutigam, „was drückt sie? Was verstimmt sie so? Vielleicht vertraut sie es Ihnen an!“

Ich schüttelte den Kopf und log: „Ich weiß es nicht!“ Und ich glaubte doch es zu wissen, sie fühlte sich bedrückt, ihm verpflichtet zu sein; bedrückt, ihn verkannt zu haben; oder – ja, ich wußte es am Ende doch nicht?

Und Weihnacht kam und ging vorüber und hatte wahre Schätze in Lottes Schoß geworfen. Rührend war es, wie Fritz ihre Wünsche zu erforschen gesucht, wie er nichts unterlassen, um ihr ein Lächeln abzugewinnen, und sie, sie hatte buchstäblich nichts für ihn. Unser Zureden, sie solle eine, wenn auch noch so kleine, Arbeit schenken, war vergeblich gewesen. Wir bekamen stets die nämliche Antwort. „Laßt mich! Sollt ich ihm etwa ein Paar Morgenschuhe sticken, wie die Rieke ihrem David? Laßt mich – wir sind ja so arm.“ Sie rührte auch die Sachen nicht an, die sie bekommen; es wurde Alles wohlverwahrt zu dem Andern in Schrank und Kommode gethan; sie trug nichts, sie benutzte nichts.

„Lotte,“ bat ich, „kränke ihn nicht so furchtbar; von dem Manne, dessen Frau Du wirst, kannst Du doch ein Geschenk tragen? Es sieht ja aus, als wolltest Du über kurz oder lang das Verhältniß lösen!“

„O nein,“ erwiderte sie, „ich könnte es ja gar nicht; aber überlaß mich doch mir selbst, quäle mich nicht; – was thue ich denn?“

„Prinzeßchen,“ begann ich aufs Neue, „sei ehrlich, um Gotteswillen, sei ehrlich! Wenn Du ihn nicht liebst – noch ist es nicht zu spät –.“

„Quäle mich nicht!“ wiederholte sie trotzig, „und sorge Dich nicht um mich. Ich werde wissen, woher und wohin!“

Und in nächster Nähe schlug ein Herz in ehrlichem hellen Zorn, das hatte mit dem Instinkt der Mutterliebe herausgefühlt, daß ihr Kind leiden mußte.

„Tone, Tone!“ sagte erbittert die alte Frau auf der Domaine, „sie liebt ihn nicht! Was soll das für eine Ehe werden! Und wäre er noch so vernarrt in das schöne Lärvchen, einmal kommt er zur Einsicht. Ach, Tone, womit hat der Junge das verdient?“

Und sie trocknete verstohlen die Thränen, denn der „Junge“ durfte sie nicht weinen sehen. Und sie wollte auch nichts wieder dazu sagen, versicherte sie, denn als sie mit zagendem Finger an sein Herz gerührt, da war ihm die Zornader mächtig geschwollen und er außer sich gerathen. So, wie seine Lotte wäre, so sei sie ihm gerade recht! Er allein habe mit dem Prinzeßchen zu hausen später; beim Heirathen solle man die Worte sparen, zwei gehörten dazu, und nicht mehr –!

„Er ist in seinem Leben noch nicht so heftig geworden, Tone,“ schloß die Mutter, „er kam auch nachher gleich und fiel mir um den Hals, aber eben die Heftigkeit! Er schrie nur so laut, um seine innere Angst zu betäuben; ich weiß es, ich kenne ihn.“

So ging die Zeit hin. Das neue Jahr, das große Jahr 1870 war angebrochen; noch ahnte Niemand den Sturm, der daherbrausen sollte in gewaltiger wunderbarer Herrlichkeit. – In unserem kleinen Erdenwinkel schien die Zeit stille zu stehen: mit Schnee und Eis zogen Januar und Februar vorüber, und der März thaute den winterlichen Schmuck hinweg von unseren Bergen und lockte die Veilchen hervor im Domainengarten; da ging im warmen Sonnenschein Lotte an der Mauer hin und sammelte die kleinen duftenden Lenzesboten. Auf dem Balkon saß Großmama sorgfältig in Kissen verpackt, und athmete die warme Luft. Braune dicke Knospen schwollen an den feinen Aestchen der Bäume, hier und da schimmerte ein voreiliges Sträuchlein schon im hellsten Smaragd, und von weit her leuchtete das junge Grün der Saaten so hoffnungsfreudig in das verzagte Herz.

„Ich weiß nicht,“ sagte die alte Frau und blickte mich an, die ich ihr gegenüber saß, „sehe ich nur so schlecht, oder hast Du Dich so verändert? Wo ist Dein rundes Gesicht geblieben?“

„Ich bin ganz wohl, Großmütterchen; aber Lotte sieht schlecht aus.“

Ich schaute dem Mädchen nach, wie sie langsam an der sonnigen Wand hinschritt, sich bückte und emporrichtete und wieder bückte; und nun stand sie hochaufgerichtet und sah gradeaus, und Schnips begann sich in rasenden Galopp zu setzen und sprang bald darauf an Fritz empor, der rasch auf seine Braut zueilte. Sie gab ihm die Hand, senkte den Kopf, ließ ihn den Arm um ihre Taille legen und war genau so apathisch wie alle Tage.

Er sprach eifrig, ich hörte seine Stimme bis hier herüber, ohne die Worte zu verstehen. Sie lauschte geduldig, nahm ihre schwarze Schleppe empor; und langsam wandelnd kamen sie auf das Haus zu.

„Nein, das geht nicht länger so,“ hörte ich ihn sagen, als sie in die Thür traten. Einen Augenblick später waren sie im Vorderzimmer angelangt, und ich eilte hinüber, ihn zu begrüßen. Er sah roth und erregt aus und strich sich hastig über den Bart, wie er immer that, wenn ihn etwas lebhaft beschäftigte.

„Es geht nicht länger so,“ wiederholte er, mir die Hand gebend. „Irgend etwas muß geschehen, Tone; stehen Sie mir bei, rathen Sie, helfen Sie mir Lotte überzeugen, daß es das Beste ist, wenn wir im Mai Hochzeit machen.“

Sie hatte theilnahmlos neben ihm gestanden. Als er bei diesen Worten ihre Hand faßte, zog sie dieselbe rasch zurück und eine Purpurgluth schoß in ihr bleiches Gesicht. Aber sie antwortete nicht, sie zuckte nur schweigend die Schultern.

Er wurde ebenfalls um einen Schein röther.

„Aber worauf sollen wir denn noch warten?“ fragte er. „Sieh, ich kann Dich nicht so sehen, so traurig, so müßig. Alles, was Dich sonst gefreut hat, interessirt Dich nicht mehr. Du liest nicht, Du spielst nicht Klavier, Du malst nicht einmal mehr! – Wenn wir im Mai heirathen, könnten wir reisen; Du hast einmal gesagt, Du möchtest den Rhein sehen – gut, gehen wir dorthin. Lebe wieder auf, werde frisch wie sonst, Liebling! Nicht wahr, Tone?“

Aber sie, der er am liebsten die Hände unter die kleinen Füße gebreitet hätte, sie blieb abermals stumm.

„Nun sage Ja!“ schmeichelte er. „Drüben ist Alles in Ordnung, um Dich zu empfangen; die letzte Einrichtung besorgen Mutter und Schwester Tone; glaube nur, sie machen es uns behaglich. Und wenn wir zurückkommen, just um die Erntezeit, da ist’s so kühl und schön in unseren Bergen. Nun sage: Ja!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_101.jpg&oldid=- (Version vom 18.1.2024)