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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Hyde-Park-Corner.

Schutzmann, ohne deßhalb mich mit meinem guten Gewissen hervorthun zu wollen. Jener ist in erster Instanz gleichsam ein lebendiger Wegweiser, an den man sich am besten um jedwede Auskunft wendet. Er ist stets artig, nie anmaßend. Dazu hat ihn zum Theil das Publikum selbst herangebildet. Denn wollte er es sich beikommen lassen, seine Autorität herauszubeißen, den Wichtigen zu spielen, das Publikum würde ihn dermaßen auslachen, daß er es gewiß nicht zum zweiten Male versuchte. Bis vor zwei Jahren durften die Schutzleute der eigentlichen City sich noch nicht einmal den Schnurrbart wachsen lassen. Ob das ein Mittel gegen Aufspielerei sein sollte? Doch auch heute, wo die Verordnung gegen das männerverschönernde Gewächs nicht mehr besteht, ist der „Bobby“ immer noch der Liebling des anständigen Publikums. Die unverzeihliche Lässigkeit bei den letzten Straßentumulten dürfte die Sympathie für unsern „Bobby“ allerdings stark erschüttert haben. – Zumeist an belebten Kreuzungspunkten der Straßen steht in London der Briefkasten, eine hohe, dicke, rothangestrichene eiserne Säule, einem Brunnenpfosten vergleichbar, aus der die Briefträger die Menge der Briefe in großen Säcken abholen.

Ich zaudere – was soll ich noch herausgreifen aus der Fülle der interessanten Typen des Londoner Straßenlebens? Jene Reihe von „Sandwichmen“ bietet noch ein heiteres Bild: ein jeder von ihnen trägt ein großes Plakat auf Brust und Rücken, und so ziehen sie gemeinsam durch die Straßen. Alle Plakate enthalten dieselbe Annonce. Ein „Sandwich“ ist bekanntlich ein belegtes Butterbrot. Daher haben die Leute ihren Namen! Sie selbst sind die Fleischeinlage, und die Plakate stellen die Brotschnitten dar. Der Name mag bezeichnend genug sein, aber die Idee von dem Butterbrot mit Menschenfleisch – –

Sandwichmen.

Apfelsinen-Händler.

Da gedenke ich lieber noch des im friedliebenden England so selten gesehenen Kriegers, der seine Herzallerliebste spazieren führt, statt des Säbels, der außer Dienst nicht getragen werden darf, das Spazierstöckchen in der Hand, auf dem Kopf das leichte, kleine Studentenkäppchen; während dort der junge Student ein Gehäuse auf dem Haupte trägt, das zwar ganz aus Zeug gefertigt, seiner Form nach aber, nach deutschen Begriffen, eher einen Ulanenkopf als den eines Jüngers der Wissenschaft zieren sollte!

Es ist inzwischen dunkel geworden.

„Tivoli Lager Beer!“„Vienna Lager Beer!“ Wie anheimelnd berühren uns diese halbdeutschen Worte mit der Bezeichnung von etwas so ganz Deutschem, das hier immer mehr Eingang findet. Da stand es groß angeschrieben. Ich befand mich vor einer deutschen Restauration – mit deutschem Bier. Ob ich hineinging? Darüber brauche ich wohl wirklich keine Rechenschaft abzulegen. Denn es hat mit dem „Londoner Straßen-Pflaster“ nichts zu schaffen. Aber als ich wieder herauskam, da schien das Aussehen der Straße wesentlich verändert. Ein leichter Nebel lagerte darüber – nichts Seltenes für London! Und so kam es, daß ich bald meinen Weg, der ohnehin ziellos war, verlor. Das kommt in London auch wohl vor! Ich wurde indeß bald inne, daß ich in eins der ärmeren Quartiere der Stadt gerathen war.

Plötzlich befand ich mich einem wild aussehenden Gesellen gegenüber, einem Irländer, der Apfelsinen auf einem neben ihm stehenden Tisch zum Kauf bot. Da ich ihm einige Aufmerksamkeit geschenkt, glaubte er offenbar, ich sei von Kauflust dazu veranlaßt, und ich hatte Mühe von ihm fortzukommen, ohne ein Geschäft mit ihm zu machen. In den ärmeren Stadttheilen werden viele Eßwaaren auf offner Straße feilgeboten, wie gebratene Kartoffeln und Kastanien, verschiedene Sorten von Schnecken und Austern, allerart Früchte u. dergl. –

Einen Penny die Tasse!

Nicht weit von dem Irländer stand eine kleine Bude, in welcher ein reinlich aussehender Alter in hochfeinem Cylinder Kaffee ausschenkte. Die Tasse kostete einen Penny, schien aber gleichwohl recht – warm zu sein, eine Eigenschaft, die selbst in Abwesenheit anderer Vorzüge den Kutschern und Arbeitern und anderen, die in den kalten Nächten und in der Frische des frühen Morgens auf der Straße zu thun haben, nicht gleichgültig sein kann. Dieses Geschäft blüht erst recht nach Mitternacht, wenn die Restaurationen geschlossen sind. Immer ärmlicher und trübseliger wurde Alles um mich her! Ich war in das Ostend von London gerathen, die unübertreffliche Heimstätte von Armuth, Schmutz und Verbrechen, eine Stätte, die nur von wenigen anständigen Menschen betreten, deren Vorhandensein schon von dem übrigen London nach Kräften ignorirt wird. Ich hielt es daher für angemessen, an den Heimweg zu denken, aber wie sollte ich nun nach Hause kommen? So spät gab es auf der unterirdischen Eisenbahn keine Züge mehr. Ich fragte einen des Weges kommenden Schutzmann nach der Entfernung bis zu meiner Wohnung. Nach kurzem Besinnen veranschlagte der höfliche „Bobby“ dieselbe auf etwa sieben Meilen. Ein netter Weg! Ich überlegte schon, ob ich einen Gasthof aufsuchen sollte – eine eigenthümliche Idee für jemand, der in derselben Stadt wohnt! – vertraute mich aber schließlich doch abermals einem Hansom an. Mit großer Schnelle steuerte diese „Londoner Gondel“ durch das unendliche Häusermeer der Weltstadt. Die sieben Meilen legte sie in weniger als drei Viertelstunden zurück. „Sieben?“ – „Zwölf!“ versicherte der Kutscher, als es ans Bezahlen ging. Was die Leute doch fahren! – W. F. Brand.     


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_182.jpg&oldid=- (Version vom 6.2.2024)