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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 15.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Lora-Nixe.

Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)

Die zweite in später Nachmittagsstunde stattfindende Table d’hôte im Kurhause von Jungbrunnen näherte sich ihrem Ende. Schon lagen die aus Marzipan und Zucker errichteten Tempel, welche als Dessert gedient hatten, in Trümmern, und ihre elegischen Reste wurden, wenn auch nicht von Eulen, so doch von einzelnen Mücken und Wespen umschwirrt, die durch die geöffneten Fenster den Weg gefunden hatten. Stühle wurden gerückt. Die Gäste verließen gruppenweise den Saal.

Nur ein Herr verweilte noch auf seinem Platz. Er hielt ein Taschenbuch und einen goldenen Stift in den Händen, hatte die präsentirenden Kellner mit kurzem Wink abgewehrt oder die Speisen unberührt stehen lassen und sich zerstreut von den beiden Damen verabschiedet, mit denen er gekommen war. Er blieb sitzen, indem er mit traumverlorenen Augen in die Luft schaute und dann von Zeit zu Zeit eifrig in sein Taschenbuch notirte. Die Tischgesellschaft zollte seinem ungewöhnlichen Benehmen achtungsvolle Rücksicht.

„Baron Heino Blachrieth dichtet,“ flüsterte es um ihn her. Er war die Berühmtheit der Saison.

Erst kurz vor Beginn des Diners war er von einem Ausflug zurück gekommen. Die Erzählungen seiner Mutter und Cousine hatten ihn veranlaßt, seinen Morgenspaziergang nach dem Lora-Grund zu machen. Er wollte sich die Schönheit des Thales anschauen, vor Allem aber der Nixensage näher zu treten suchen von der seine Damen gesprochen und von der er auch eine Andeutung im „Führer durch Jungbrunnen“ gefunden hatte. Vielleicht konnte ihm ein Freund, den er auf einer Reise in Italien kennen gelernt hatte, Georg Aufdermauer, genaue Auskunft geben. War dieser doch hier, im Mittelpunkt des Sagengebietes, angesessen.

Diese letztere Hoffnung wurde zwar zu nichte. Der Hauptmann war auf die Jagd gegangen, und er hatte sich auf die Abgabe einer Karte beschränken müssen. Um so reicher gingen seine andern Wünsche in Erfüllung. Stundenlang saß er vor dem grauen Holzhause bei dem weißhaarigen Waldhüter, der das Amt eines Fährmanns bekleidete, schwelgte in der Schönheit des Grundes und ließ sich unter dem Murmeln des Wassers, dem Säuseln der Edelkastanien die traurige Geschichte der Lora-Nixe erzählen, deren feurige blaue Augen der Ferge selbst hatte aus dem Wasser blitzen sehen, deren goldene Locken oft weit ausgebreitet gleich glitzerndem Schaum auf den Wellen schwammen, wie männiglich im Lora-Thal bekannt war.

In Gedanken noch immer mit seiner poetischen Ausbeute beschäftigt, erhob sich Heino von der Tafel, als

Kleine Freunde.0 Nach dem Oelgemälde von J. Moroder.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 257. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_257.jpg&oldid=- (Version vom 26.10.2020)