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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Noch heute „das geheimnißvolle Grab“.

Neue Studien und alte Erinnerungen von Friedrich Hofmann.
(Fortsetzung.)

Anfangs galt der Graf nur als ungeheuer reicher und unter höchstem Schutz stehender Sonderling, der sammt seiner Dienerschaft Jedermann die Scheu vor Unheimlichem einflößte. Dieses Gefühl verwischte sich nie ganz, auch nachdem der Graf sich den Ruf eines großen Wohlthäters erworben hatte. Man muß anerkennen, daß er seine Gaben mit weiser Wahl vertheilte, indem er die wahre Noth ebenso eifrig zu erspähen suchte, wie die verschämte Armuth; das Angebetteltwerden aber war ihm zuwider, „denn,“ sagte er, „nur die freiwillige Gabe hat Werth.“ Zu Festzeiten bedachte er fast jedes Haus mit irgend einer Zusendung von Reis, Fleisch, Weißbrot, Pfefferkuchen u. dergl.; jährlich kleidete er zwölf Konfirmanden und unterstützte reichlich arme Studirende. Ebenso unterstützte er viele Familien in Hildburghausen. Ich selbst nahm brieflich seine Wohlthätigkeit dreimal (1842 bis 1844) in Anspruch zum Besten der mit Hilfe des „Weihnachtsbaumes“ veranstalteten Christbescherungen für arme Kinder, und alle drei Male mit reichlichem Erfolg. Auch Schulen genossen seine Unterstützung, so namentlich die Industrieschule zu Hildburghausen, welcher er auf die Bitte der Erbprinzessin seine Gunst zuwandte. Als dieselbe von einem Vorsteher der Anstalt gefragt wurde, auf welchen Namen die Bescheinigung der empfangenen Gabe ausgestellt werden solle, sagte sie mit glücklichem Takt: „Schreiben Sie nur: Von einem Mann, der unserem Lande nur durch seine Wohlthaten bekannt ist.“ Diese Anerkennung ist sein bester Ruhm und Schutz in und außer dem Schlosse gewesen, dessen Ruhe von Seiten der Bevölkerung nie wieder gestört worden ist. Aber eben so wenig von Seiten des Hofs. Einmal hatte die Herzogin Charlotte eine Annäherung versucht, indem sie dem Grafen in elegantem Französisch im Namen des Herzogs die Gewährung eines Wunsches zusagte, den er durch seinen Geschäftsträger hatte aussprechen lassen. Der Graf antwortete, ebenfalls in der Sprache der Diplomatie, aber in aalglattester Manier, indem er mit seinem Dank die Hoffnung verband, daß die günstige Zeit kommen werde, wo er den hohen Herrschaften selbst näher treten könne. Diese Zeit kam jedoch nie. So oft auch die herzogliche Familie bei dem Pfarrer, welcher der Erzieher der Prinzen und Prinzessinnen gewesen, zu Gaste war, wurde doch nie die geringste Störung des Schloßfriedens gewagt oder geduldet. Die Herzogin starb 1818, der Herzog ertheilte noch 1824 dem Grafen einen besonderen Schutzbrief, und als das herzogliche Haus 1826 nach Altenburg abgezogen und der Graf auch von der neuen Meiningischen Regierung unbehelligt gelassen worden war, ertheilte die Stadt Hildburghausen ihm (am 24. Mai 1827) ihr Ehrenbürgerrecht. Das Geheimniß und die Abgesperrtheit vor aller Welt stand nun vollkommen gesichert da.

In desto innigerer, rein geistiger Beziehung stand das Schloß mit dem Pfarrhaus von 1812 bis 1827. Durch den Kammerdiener Squarre wußte man, und namentlich der Pfarrer, längst, daß der Graf nicht nur im Besitz einer bedeutenden Bibliothek war, sondern daß er fortwährend neue Büchersendungen aus Frankfurt am Main und ebenso viele und namentlich Zeitschriften aller Art, von der Meusel’schen Buchhandlung in Koburg erhielt, die meisten unter der Adresse: „Philipp Squarre in Hildburghausen“, Sendungen, welche, wie ich bereits angab, auch nach Squarres Tode ihren ungestörten Fortgang hatten. Der Graf arbeitete jeden Morgen von drei Uhr an, und wie stark seine Korrespondenz war, dafür zeugten die Velin- und Postpapierpackete nebst Stangen grünen Siegellacks, welche der Hildburghauser Fuhrmann Lürtzing und der Koburger Bote Amberg allwöchentlich im Schloß abzuliefern hatten. Weß Inhalts aber diese Bücher, Zeitschriften und Studien des Grafen waren, darüber gewann den gründlichsten Aufschluß der Pfarrer Heinrich Kühner, der Vater des Verfassers der ersten Quellenschrift über die Geheimnißvollen.

Die Verbindung zwischen Schloß und Pfarrhaus gestaltete sich folgendermaßen. Im Jahre 1812 fand der Pfarrer eines Morgens durch eine Spalte unten an der Hausthür hereingeschoben und sorgfältig kouvertirt mehrere französische und englische Zeitungen, welche später von der Botin des Grafen, und zwar mit weißen Glacéhandschuhen, wieder abgeholt wurden. Nicht lange, so lagen kouvertirte Zettelchen bei den Zeitungen, durch welche der Graf sich Bücher aus des Pfarrers oder der herzoglichen Bibliothek erbat; diese Zettelchen wurden in gleicher Weise wieder abgeholt. Bald vergrößerten die Zettel sich zu Blättern, auf welchen der Graf Urtheile und Ansichten über Gegenstände der Tageslektüre ausspricht und deren Rückseite der Pfarrer zu seinen Gegenbemerkungen benutzt. So entsteht ein Ideenaustausch über Litteratur, Kunst, Politik, Tagesneuigkeiten und Familienverhältnisse in Stadt und Dorf, der die beiden Männer oft so in Eifer bringt, daß die Botin an manchem Tag sechs- bis zehnmal zwischen Schloß und Pfarrhaus hin und her eilen muß. Beide schrieben mit lateinischen Buchstaben, ohne Anrede, Unterschrift und Ortsbezeichnung, nur das Datum setzte der Graf oft an den Kopf seiner Notiz. Das Siegel zeigte mir zwei Male drei Lilien im Felde. Von des Grafen Handschrift blieb keine Zeile im Besitz des Pfarrers. Ueber den außerordentlich reichen und umfassenden Inhalt dieser Korrespondenz müssen die Leser Human’s Buch (Theil I, S. 64 ff.) selbst nachlesen. Für unseren Zweck genügt es, drei Stellen anzuführen. Einmal schreibt der Graf: „Zur katholischen Religion erzogen, wurden doch in meiner Jugend deren Grundpfeiler schon so erschüttert, daß sie nie wieder feststanden“; – ein andermal: „Können Sie eine Vorstellung davon haben, welches Glück ich auch in meiner Einsamkeit genossen habe? Wo hätte ich sonst diesen stillen Frieden genossen, wo sonst die Muße gefunden, die Klassiker von vier Nationen der Reihe nach zwei- und dreimal zu lesen!“ – Und als die Verbündeten siegreich in Frankreich einzogen, schrieb der Graf: „Wenn Friede wird, werde ich das Vergnügen Ihrer persönlichen Bekanntschaft suchen.“ Der Friede ward geschlossen, noch elf Jahre spann sich der intimste geistige Austausch fort, aber gesprochen haben beide Männer, die sich oft auf den Spazierfahrten begegneten, nie ein Wort mit einander. Heinrich Kühner starb am 9. Februar 1827, 54 Jahre alt. Das sein Grab im Friedhofe von Eishausen schmückende Denkmal ist „dankbar gewidmet ihrem unvergeßlichen Lehrer von Therese, Königin von Bayern.“

Diesem Schwelgen des Grafen im Vollgenuß der edelsten Schätze des geistigen Lebens gegenüber – wie steht das schöne Weib da, das dieselbe Zimmerreihe mit ihm bewohnt, dieselbe Luft mit ihm athmet? – Leiblich wird die Dame gehalten und gepflegt mit fast fürstlichem Luxus. Wohnung, Tafel- und Kleiderfreuden lassen nichts zu wünschen übrig. Die Gräfin bewohnte das große Eckzimmer mit zwei Fenstern nach Osten und drei nach Norden, während der Graf ein anderes Eckzimmer mit zwei Fenstern nach Westen und einem nach Norden als Arbeitsstube inne hatte. Das Zimmer der Dame war mit grüngoldenen Tuchtapeten ausgeschlagen, alle übrigen neun Zimmer zeigten einfache grüngelbe, gelbgestreifte oder grüngesprenkelte Tapezierung. Die Möblirung war natürlich den Ansprüchen so hoher Herrschaften angemessen.

Die Köchin hantirte nur in ihrem unteren Bereich, alle Speisen und Getränke trug der Kammerdiener ins Vorzimmer und dort nahm sie der Graf in Empfang, um sie ins Zimmer der Gräfin zu tragen. Man speiste, nach Human, der uns sogar Einiges vom Küchenzettel und über die Bedürfnisse und Vorräthe von Küche und Keller mittheilt, sehr vornehm; die feinsten Backwerke und die edelsten französischen Weine, vorzüglich Haut Sauterne und Porter, schmückten die Tafel. Zu Mittag gab es abwechselnd Semmelklößchen, Lendenbraten, Kapaunen, junge Hähnchen, Feldhühner, Hasen, Hecht und Aal, Semmel- und Reispudding, Radieschen aus Bamberger Gärtnereien etc. Alle Braten mußten in Tiegeln über Kohlenfeuer bereitet werden. Abends aß der Graf stets kalte Küche und trank starken Wein, die Dame aber erhielt jeden Abend eine Kanne voll Haferschleim, offenbar aus Gesundheitsrücksichten. Zur Bouillon, welche früh sieben Uhr servirt wurde, mußte die Köchin zwei Pfund Rindfleisch und ein Pfund Kalbsknochen verwenden; allwöchentlich verbrauchte sie zwölf Pfund Butter und zwei Schock Eier. Seit 1811 kam von F. J. Goullet in Frankfurt am Main regelmäßig alle vierzehn Tage eine Kiste mit sechs Flaschen Likör, feinster Punschessenz und fünf bis sechs Pfund feinstem Mokkakaffee unter der Adresse: „Herrn Vavel de Versay, Hochwohlgeboren in Eishausen bei Hildburghausen“ an. Man wird schwerlich irren, wenn man glaubt, daß diese Herrlichkeiten von Küche und Keller nicht bloß der Herrschaft, sondern auch der Dienerschaft das harte Los der Einsamkeit wesentlich erleichterten.

Das wichtigste Kapitel im äußeren Frauenleben betreffend, so trug die Gräfin im Hause meist lange Frisurschürze und ein feines weißes Jäckchen, mit orangegelben Bändern besetzt, einen rothen, meist zurückgeschlagenen Shawl und ein weißes Spitzenhäubchen. – Zu den Ausfahrten aber schmückte sie sich stets mit den feinsten Kleidern nach der neuesten Pariser Mode. Ebenfalls durch das Frankfurter Haus kamen die Kleider- und Schmucksendungen aus Paris an. Da die Dame mit Niemand in Berührung kam, so konnte sie von den unnöthig gewordenen Vorräthen nichts verschenken, und so fand man denn in ihrem Nachlaß eine Sammlung der prachtvollsten Anzüge aller Modejahrgänge, die ins Erstaunen versetzte, und eben so mehrere Kisten voll seidener Schuhe, die immer zu den Kleidern paßten, welche sie eben trug. Entsprechend war der Frauenschmuck an Gold und Edelsteinen vertreten. Kein Aufwand wurde offenbar für die Befriedigung aller Wünsche gescheut, welche auf diesem kostspieligen Gebiete einem Frauenherzen möglich waren.

Die Spazierfahrten geschahen mit eigenem Wagen und Geschirr und wurden von Eishausen Jahre lang bis vor das Thor des Koburgischen Städtchens Rodach ausgedehnt. Als aber einmal der Chausseegeld-Einnehmer am Thor sich darüber beklagte, daß der Graf immer vor seinem Schlagbaum umkehre und niemals Chausseegeld bezahle, wurde er großartig abgelohnt, die Fahrt aber nie wieder auf die Koburger Chaussee ausgedehnt, sondern nur bis an die Landesgrenze hinter dem Dorf Adelhausen. Später schaffte der Graf die eigenen Pferde ab und benutzte, namentlich zu den Spazierfahrten zu den Besitzungen bei Hildburghausen Postpferde, und zwar fuhr er stets vierspännig.

Bei diesen Fahrten war es, daß ein Chausséewärter die Wahrnehmung gemacht haben wollte, daß zwei Damen im Schlosse wohnen müßten: eine junge und eine alte, und an diese Aussage knüpfte sich der Verdacht, daß wohl noch schlimmere Geheimnisse hinsichtlich des Sittlichkeitsverhältnisses des Grafen zur Dame im Schlosse verborgen sein möchten. Dieser Verdacht war es auch, welcher den seiner Zeit als Polizeigenie allbekannten Polizeirath Eberhardt in Koburg veranlaßte, den Nürnberger Findling Kaspar Hauser nach Eishausen zu bringen und um das Schloß herumzuführen, um etwaige Kindheitserinnerungen in ihm zu erwecken. War auch dieser Enthüllungsversuch erfolglos, war Hauser aus den Kellerlöchern dieses Schlosses nicht hervorgekommen, so schwebte das ganze Geheimniß einem Eberhardt gegenüber doch in äußerster Gefahr, der Graf soll in die größte Unruhe versetzt worden sein, bis ein fürstlicher Befehl der Spürkraft des Polizeimanns nach dieser Richtung Halt gebot.

Auch dieses Zwei-Damen-Geheimniß blieb ungelöst; man suchte es durch eine behauptete Augentäuschung der betreffenden Beobachter zu beseitigen.

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_307.jpg&oldid=- (Version vom 28.2.2024)