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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Handschrift nachgemacht und nun ein Menschenalter die Rolle des Verwandten fortgespielt und seine Einkünfte von dort bezogen habe?

Kein Auge dieser Verwandten hat ihn je wieder gesehen, sie kannten seinen Aufenthaltsort nicht, da er seine Briefe stets nur von „Neustadt“ datirte. Briefe und Geldsendungen an ihn mußten an den Herrn Vavel de Versay an verschiedene Orte gerichtet werden, wo er jedenfalls gut bezahlte Agenten hatte, welche, oft auch noch nach mancher Zickzackreise der Sendungen, schließlich die richtige Ortsangabe benutzten, so daß diese bald über die Koburger, bald über die Hildburghäuser Post nach Eishausen gelangten. Auch diese Vorsicht rechtfertigt den Verdacht, daß der Mann nicht auf geraden Wegen ging.

Ja, es wird sogar die Frage aufgeworfen, ob dieser „Graf“ nicht etwa Keiner von den beiden Genannten, sondern ein Abenteurer der Revolution war, der sich vielleicht mit Hilfe der Guillotine des Einen oder Andern oder Beider entledigt, die Dokumente, Pässe, Briefe derselben an sich gebracht und dann mit Angès oder Sophie, als seiner Mitschuldigen, in Deutschland die sichere Stätte gesucht und, zu seinem eigenen Schutze, die Dame als ein politisches Geheimniß vorgeschoben habe. Vergeblich drückte die Gewissenslast nicht so schwer auf den Herzen der wenigen Eingeweihten im Schloß.

Möchte ich auch nach dieser Richtung die Hypothesen nicht so weit treiben, so verschuldete der Graf es doch selbst durch die Beispiele von offenbarer Unwahrhaftigkeit, wenn man zu noch schlimmerem Verdachte verleitet wird. So äußerte der Graf nach dem Tode der „Lebensgefährtin“: „Ich habe immer wie mit religiöser Scheu ihre vielen Kommoden betrachtet, nie sie berührt; ich wußte nicht, wie viel schöne, ihr aufgedrungene Sachen sie enthielten“ – Das scheut sich nicht der Mann auszusprechen, welcher jeden Athemzug des armen Weibes bewachte, ohne dessen Wissen und Willen die Thür des Schlosses sich niemals öffnen durfte; der Mann, welcher die sechsundzwanzigjährige Treue seiner alten Köchin für Nichts achtete, sie mit Verbannung aus den Räumen, wo sie Lebensglück und Gesundheit eingebüßt, bestrafte, weil sie ihren Sohn, ehe er nach Amerika ging, noch einmal sehen wollte und zum Abschied ihn heimlich ins Schloß ließ; der Mann, der mit solcher Grausamkeit gegen die Treuesten verfahren konnte, wenn sie nur im Entferntesten sein Geheimniß gefährdeten, soll der Hauptperson dieses Geheimnisses den Empfang von Geschenken gestatten, die er nicht kennt, ihr, die mit keiner Seele, als ihm, umgehen darf, die keine Verbindung außer dem Schlosse haben kann, schon aus dem einfachen Grunde, weil sie alle Jahre nur einen Brief schreibt, den zu seinem Geburtstage!

Wer sich nicht scheut, eine solche Unwahrheit auszusprechen, dem kann man auch größere Leistungen darin zutrauen. Und wir finden sie in der Versicherung, die er in seiner letzten Stunde seinen Dienern mit den Worten gab, daß für sie Alle gesorgt sei, daß eine Dame kommen werde (Franziska nannte er sie), die seinen letzten Willen erfüllen werde, – da sein einziger männlicher Verwandter verunglückt sei. Statt der Dame kamen einige Herren, und zwar van der Valks, von einem Vavel de Versay und seinem Vermögen ist nirgends mehr die Rede, – und die Valks tragen die Erbschaft fort, indeß die armen, lebenslang getreuen Diener, die zum Theil ihre Gesundheit in dem harten Dienst emgebüßt haben, armselig genug abgespeist werden.

Solchen Möglichkeiten gegenüber darf man wohl noch eine Frage aufwerfen. Muß den Wächter seines Geheimnisses nicht unaufhörlich ein Gedanke gepeinigt haben, und zwar der: „Was wird aus dem Geheimniß, wenn er vor der Dame stirbt? – Wir wissen, daß er einmal der alten Köchin sagte: „Wenn ich sterbe, so nehmen Sie sich dieser Dame an.“ Aber was sollte diese Empfehlung bedeuten, welche Stütze sollte die Dienerin der Herrin sein ohne eine testamentarische Bestimmung? Eine solche fand sich aber später nicht vor. Wir wissen ferner, wie er es mit der Krankenpflege hielt. Für sich berief er stets Aerzte, wie denn zuletzt Dr. Knopf als solcher genannt wird, den todkranken Squarre durfte Hohnbaum nur einmal – und nur auf kurze Zeit – besuchen, „weil der gnädige Herr darin so wunderlich sei,“ klagte der Arme. Zum Schluß übte an ihm, wie an den Dienerinnen und der Gräfin immer der Graf allein als medicinischer Dilettant seine fraglichen Kuren. War das nicht ein frevelhaftes Spiel mit dem besten Gute des Menschen, seiner Gesundheit? Wäre nicht die, wie er seiner Korrespondentin selbst gesteht, schwer erkrankte Dame durch die Hilfe eines der ausgezeichneten Aerzte, die der Graf ja stets für sich berief, zu retten gewesen? Es verleitet zu einer Hypothese, die auch mir zu schauerlich ist, aber doch ist bei dem ja durchaus aufs Ungewöhnliche, Unheimliche gegründeten Treiben in dem Schloß und in der Seele dieses Mannes auch die Frage zu wagen: Hat wirklich der Graf am Fenster das Zeichen der in rauher Spätherbstzeit im Garten Wandelnden nicht gesehen? Das Weitere mag ich nicht aussprechen. Auch ich möchte in dem Einsiedler von Eishausen nicht einen gemeinen Verbrecher erkennen müssen. Aber es ist der Fluch eines solchen Geheimnisses, daß es so schwere Gedanken aufkommen läßt.

Wir müssen uns schließlich zu der Ansicht bekennen, daß der ganze Nachlaß des Grafen nur zu den diplomatischen Mitteln gehörte, welche das Auge etwaiger Nachforscher von der richtigen Spur ablenken sollten, und werden, um den Schlüssel des Geheimnisses zu finden, auf den Weg hingewiesen, welcher zu den Nachtseiten der Throne führt.

Human geht bei der historischen Beleuchtung dieses Geheimnißdunkels mit einer Gründlichkeit zu Wege, welcher wir hier nicht nacheifern können. Wir bitten diejenigen unserer Leser, deren Theilnahme für das Opfer dieses Geheimnisses wir erweckt haben, die betreffenden Abschnitte des Human’schen Buches (II, Theil, S. 71 bis 131) zu lesen und auch dem Kapitel „Beziehungen des Grafen zu fürstlichen Häusern“ (II., S. 46) und dem höchst wichtigen Abschnitt „Zweifel und Verdacht“ (I., S. 113), den ich auch nur im Vorbeigehen benutzen konnte, ihre Aufmerksamkeit zu schenken; wir müssen uns nunmehr darauf beschränken, auf die Gestalten hinzuweisen, in welchen wir das traurige Bild der armen Gräfin vom geheimnißvollen Grab wiedererkennen sollen.

Als Erste erscheint die schon von dem Knaben in Ingelfingen erkannte Prinzessin Maria Therese Charlotte, Ludwig’s XVI. ältere Tochter, die allerdings dort als „Herzogin von-Angouléme’ bezeichnet war. Dies durfte sie selbst nicht geworden sein, wenn das schwere Los auf sie fallen sollte. Man hat die Möglichkeit so aufgestellt: Die Prinzessin ist am 19. December 1778 im Schloß zu Versailles geboren und wurde am 10. August 1792 mit ihren Eltern, ihrer Tante Prinzessin Elisabeth und ihrem Bruder Ludwig Karl als Gefangene der Nation in den Tempelthurm gebracht. Hier ward gegen das Ende ihrer Gefangenschaft ihr manchmal gestattet, Damen zu empfangen, und diese Gelegenheit soll benutzt worden sein zur Befreiung und Flucht der Königstochter, während eine ihr sehr ähnliche Prinzessin Bourbon Condé oder Conti für sie im Gefängniß zurückblieb. Die Befreite fand in einem Kloster sichere Unterkunft; als aber am 18. December 1795 in Folge von Auswechselung gegen mehrere Deputirte die Gefangene aus dem Tempel befreit und in Wien mit königlichen Ehren empfangen worden war, spielte diese die Rolle als Tochter Ludwig’s XVI. fort, vermählte sich in Mitau, wo sie im Palast der ehemaligen Herzöge von Kurland ein Asyl vom Kaiser Paul I. angewiesen erhalten, 1799 mit dem Herzog Ludwig Anton von Angoulême und starb am 19. Oktober 1851 auf dem Schloß zu Frohsdorf. Die wirkliche Maria Therese Charlotte aber ward, um den längst die Bourbonen verfolgenden Familienzwist nicht neu zu schüren, vielleicht durch Talleyrand’s intriguante Mitthätigkeit, dem Diplomaten van der Valk anvertraut, der sie fortan vor dem Auge der Welt zu verbergen hatte und der diese Verpflichtung übernahm aus Treue gegen die Bourbonen. So stände der Graf selbst als Opfer einer politischen Großthat da und die unglückliche Königstochter wäre aus einer Klausur in die andere gekommen, aus dem Kloster in das lange Einsiedlerleben von Eishausen.

Andere Spuren führen auf eine Tochter des Herzogs von Enghien und der Prinzessin Charlotte Rohan-Rochefort. Der Versuch, in das Schloß zu Eishausen ein Nachspiel zu dem Trauerspiel von Vincennes zu verlegen, ist in den Romanen von L. Bechstein und G. Hesekil gemacht worden.

Als die dritte Gestalt in dieser unheimlichen Reihe erscheint Stephanie Louise de Bourbon Conti. Sie soll den wunderbaren Gang ihres eigenen Schicksals in „Mémoires historiques“ (Paris, Floréal Jahr VI) niedergelegt haben, und Goethe entnahm denselben den Stoff zu seinem Drama „Die natürliche Tochter“. Die Darlegung Human’s, daß diese „Geheimnißvolle“ ihr Schicksal in Eishausen beschlossen haben könne, läßt die historische Wahrscheinlichkeit sehr vermissen.

Aber noch ein viertes mögliches Opfer des Geheimnisses glaubte Human nicht unerwähnt lassen zu dürfen: Ludwig’s XVI. zweite Tochter Sophie Helene Beatrice. Geboren am 9. Juli 1786, wäre sie 1804 in Ingelfingen 18, 1810 in Eishausen 24 und bei ihrem Tode 51 Jahre alt gewesen, Altersangaben, die gewiß viel für sich haben. Allein – diese Prinzessin soll ja im zarten Alter von elf Monaten gestorben sein, und in den Memoiren des Marquis de Parey werden ausdrücklich der trauernden Mutter, auf den versuchten Trost ihrer Damen, die Worte in den Mund gelegt: „Sie vergessen, daß sie mir eine Freundin gewesen sein würde.“ Warum man der Königin dieses Kind hätte entreißen sollen und wo es geblieben sein könnte, bis es in die Obhut unseres Bourbonenfreundes gekommen sein sollte – darüber schweigt die Tradition.

Seltsamer Weise brachte schon 1824 oder 1825 der „Moniteur“ die mysteriöse Notiz: „man habe in einem verborgenen Winkel von Thüringen die Spur einer längst verschwundenen französischen Prinzessin entdeckt, möge aber wohl Gründe haben, diese Spur nicht zu verfolgen.“

Wir haben gesehen, daß es an der Verfolgung dieser Spur nicht gefehlt hat, aber wir stehen hier am Ende doch nur vor dem Geständniß: wir wissen noch immer nichts.

Der Fortschritt dieses Jahrhunderts hat so Vieles gewirkt, er hat auch Archive an das Tageslicht gezogen, die früher dem Forscher hermetisch verschlossen waren – nur über dieses Geheimniß ergoß er kein Licht. Man hat, mit menschlicher Gefühlsweise, geglaubt, in den vielen Räumen des Eishäuser Schlosses könne doch wohl irgend Etwas sich verborgen finden, das zur Enthüllung der peinigenden Dunkelheit des hier vollendeten Schicksals einen Fingerzeig biete – auch das war vergeblich. Das Schloß ist niedergerissen und beim Einlegen der Dächer und Wände, beim Aufreißen der Böden und Keller auf das Eifrigste durchsucht worden – aber das Haus blieb stumm. Nichts ist von den Geheimnißvollen noch sichtbar, als ihre Gräber. Aber – diese Steine reden noch, sie reden noch heute mit aller Macht und allem Zauber des Geheimnisses.

Und so schließen wir auch diese Erinnerungen an die Opfer dieses Geheimnisses mit dem Wunsch und der Hoffnung, daß es jetzt, wo gewiß viele Rücksichten mit den Personen, denen man sie schuldig war, verschwunden sein mögen, der „Gartenlaube“ vielleicht doch gelinge, an Herzen zu pochen, welche endlich der Wahrheit und dem Recht die Ehre zu geben geneigt sind. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß neue Aufschlüsse über die Geheimnißvollen noch gegeben werden können. So sollen sich z. B. in Frankfurt am Main Papiere und Briefe befinden, die sich auf den Grafen beziehen. Möchten diese und vielleicht noch andere Schriftstücke, von deren Existenz wir nichts wissen, bald der Oeffentlichkeit übergeben werden. Denn gerade der Hinblick auf das arme weibliche Opfer dieses finsteren Trauerspiels muß uns immer und immer wieder zu dem Worte drängen, das ich vor zwanzig Jahren ausgesprochen: Zu beklagen wäre es, wenn die Hülle von einer offenbaren Unthat ungehoben bliebe. Ist das arme Wesen um sein Leben betrogen worden, hat es abgeschlossen von der menschlichen Gesellschaft sterben müssen und liegt nun so einsam auf dem Stadtberg von Hildburghausen begraben, was wäre dann gerechter, als daß ihm wenigstens das Andenken der Nachwelt gerettet und das an ihm begangene Verbrechen von der Geschichte gerichtet würde! –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 339. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_339.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)