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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

schon seit einer Stunde vor der Hausthür wartete. Den noch immer schluchzenden Frauen versprach ich, sie morgen nachbarlich, wie in alter Zeit, zu besuchen.

Dann lag ich noch lange oben in meinem Giebelstübchen in dem schmalen Bette, ohne die Erregung, in welche die Erzählung jener traurigen Ereignisse in meiner Heimathstadt mich versetzt hatte, besänftigen zu können. Kannte ich doch jeden Quadratfuß der Bühne, auf der das Drama sich abgespielt hatte, und sämmtliche Akteurs: Professor Hunnius, den Pastor Renner, seinen würdigen Helfershelfer Ernst Streben – Alle. Die gute Frau Israel, das arme Jettchen! Welche Stunde mußte es für sie gewesen sein: die tobende Menge draußen, und drinnen der alte Mann auf dem Sofa, dem kein „He, he?" und „Sie sagten?" mehr über die bleichen Lippen kam! In meines Geistes Aug’ sah ich es, das schmächtige todesblasse Mädchen mit den großen, glänzenden, todesmuthigen Augen – den Augen, die mir geleuchtet hatten, als ich in den Krieg wollte und sie mir aus ganzer Seele den Segen dazu gab! Und ich konnte sie leibhaftig wieder sehen. Sie waren in Berlin! Ich würde sie nicht aufsuchen – selbstverständlich nicht; so würden wir uns schwerlich je begegnen. Es war auch besser, wenn es nicht geschah.

Und der Major, der jetzt Oberst war! und der ja nun auch in Berlin lebte! Lieber Himmel, mich würde er gewiß nicht wieder kennen; ich ihn auf den ersten Blick unter Tausenden! Ihn, den ich so oft sah im Wachen und im Traume; ihn, dessen theures Bild ich von der Stelle im Herzen, die ihm der kleine Knabe eingeräumt, so oft hatte reißen wollen ohne es zu können, bis ich jetzt längst keinen solchen Versuch mehr machte und mir sagte, daß ich, und wäre ich tausendmal Demokrat, diesen Aristokraten lieben müsse!

Auch wenn er Feuer kommandirte auf das Volk?

Wie hatte es mich gepackt, als der Mann in seiner Erzählung an die gräßliche Scene kam!

Bürgerblut war geflossen – das Blut von Vätern und Brüdern durch die Kugeln ihrer Söhne und Brüder – auf sein Kommando. Ich konnte das Entsetzliche nicht fassen: auf sein Kommando! des Gütigen, Liebevollen!

Hatte es sein müssen? Waren alle anderen Mittel erschöpft gewesen? Und ist das ein Mittel, bethörte, verhetzte Menschen zur Vernunft zu bringen, wenn man auf sie schießt? Zur Ruhe! o ja! zur Todesruhe! Zur Vernunft? nimmermehr!

Und war es denn so ganz unvernünftig, was sie verlangt und angestrebt? Wenn das der Fall, weßhalb hatte der alte Mann, den sie aus der Stadt haben wollten, einst in einer schwachen Stunde, als ihn ein momentanes Grauen packen mochte vor den ungeheueren Reichthümern, die er unersättlich zusammenscharrte auf Kosten des Volkes, halb zu mir, halb zu sich selbst sprechend, gesagt: „Ich glaube, sie schlagen mich und uns Alle noch einmal todt!" – Nun, Thomas Münzer hätte nichts dagegen gehabt. Er hätte an jenem Tage auf der Seite des Pöbels gestanden, der Armen und Elenden, die durch die Unvernunft socialer Zustände, die sie nicht geschaffen und deren Verantwortung sie nicht zu tragen haben, zu ihrer Armuth, ihrem Elende, ihrer Unwissenheit verdammt sind. Und zu den Folgen deren letzte darin besteht, daß die Vertreter der staatlichen Ordnung auf sie Feuer geben.

So taugt doch wohl diese Ordnung nicht ganz? So ist doch wohl etwas faul in diesem Staate?

Er aber war an jenem Tage für diese Ordnung, diesen Staat eingetreten bis zur äußersten Konsequenz und würde es immer thun

Und so würde ich nie seine Hand wieder in der meinen halten und halten wollen; er nie die meine in der seinen, wenn er meine Gesinnung kannte.

Es wäre denn, daß er mich zu der seinen bekehrte, oder ich ihn zu der meinen. Wie konnte das Eine oder das Andere je geschehen? Eh’ mochten Himmel und Erde zusammenkommen!

Und es ging ein Riß durch die Menschheit, daß sich als Todfeinde bekämpfen mußten, deren Herzen sich sonst in herzlicher Liebe gefunden haben würden.

So sollte ich denn auch diese meine Liebe zu ihm, der mir immer als mein Ideal gegolten hatte, aus dem Herzen reißen. Es war das schwerste von allen Opfern, die ich früher und später meiner Ueberzeugung gebracht hatte.

Das zu bringen ich doch entschlossen war und so den Schwur zu halten, den ich geschworen am Sarge des Vaters.

Und den ich im Herzen und in der Gesinnung nie gebrochen, aber auch nie zur herzhaften, leibhaftigen Wahrheit zu machen mit allen Kräften der Seele und des Leibes mich bemüht hatte.

Bis ich den Entschluß gefaßt, der mich hierher gebracht auf einem langen Umwege, welcher dem Träumer, dem Zauderer so viel Zeit gekostet, daß ihm nun keine mehr zu verlieren blieb.

Und er sich durch nichts auf dem Wege, dem rechten, den er endlich betreten, aufhalten lassen durfte.

Durch Nichts und durch Niemand. Hörst du’s, du stolzer Soldat? Du Mann der strengen Pflicht und der staatlichen Ordnung? Auch nicht durch dich!

Der Himmel weiß, wie gern ich dich zum Freunde gehabt hätte. Nun, da du mein Feind sein willst und sein mußt – sei’s drum! Ich ringe mit dir auf Tod und Leben. –

So rasten die Gedanken durch mein pochendes Gehirn.

Und als dem ganz Erschöpften endlich die Augen sich schlossen zu fieberhaftem Schlafe, rang er weiter im Traume mit dem geliebten Manne, wie Jakob mit dem Engel.

Und stöhnte im Traume wieder und wieder die verzweifelnden Worte. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!"

(Fortsetzung folgt.)




Ausstellungs-Briefe.

Von Hermann von Baudissin. 0 Mit Originalzeichnungen von G. Theuerkauf.
1. Ein Abend in der Jubiläums-Kunstausstellung in Berlin.


Ihren Wunsch erfülle ich sogleich! Gewohnheit nimmt den Dingen rasch ihren Glanz und ihre Farben und ich möchte Ihnen gern ein Bild der Jubiläums-Ausstellung entwerfen, das noch „staubfrei“ ist, in dem die Gegenstände und Erscheinungen unter dem Reiz der Neuheit ein besonderes Gesicht haben. Ausführliche Berichte mit allen Einzelheiten bringen die Zeitungen, ich muß schon versuchen, Ihnen über das, was ich mit meinen Augen gesehen, was mich insbesondere fesselte, – etwas vorzuplaudern.

Sie wissen, daß selbst die großen Städte noch ihren Taumel haben können, daß kein Fleck Erde so groß ist, daß das Außergewöhnlichste nur wie etwas Alltägliches wirkt. Vielleicht feiern Sie in Ihrem kleinen Provinzialstädtchen gerade das alljährlich wiederkehrende Schützenfest, und Alles rührt und regt sich – wenn auch zum Theil mit erhabener Miene – um daran Theil zu nehmen.

Also: Berlin befindet sich in einem Ausstellungstaumel. Noch sind die Ueberlegungen wegen der Sommerausflüge nicht ernsthaft – noch giebt es keine Blasirten, die schon wieder nach neuen Anreizubgen auslugen – vorläufig ist Moabit der Mittelpunkt des Tages-Vergnügungs-Denkens!

„Wohin gehen wir also morgen?“ „Wo speisen wir um sechs Uhr?“ „Wo treffen wir uns Abends?“ schwirrt’s durch die Gesellschaftsklassen. Und: „Rechts neben der Musik vorm Haupt-Restaurant!“ „Im Kafé!“ „In der Eingangshalle!“ so lauten die Verabredungen.

Ich hatte keine solche. Ich war allein, als ich gestern meinen Weg nach Moabit nahm. Kurz vor dem Eingang blieb ich stehen, um das Gesammtbild ringsum auf mich wirken zu lassen. Eine endlose Wagenreihe und ein dadurch sich stauender Verkehr! Mit der den meisten Menschen anhaftenden Eile, derselben Hast, die man kurz vor dem Beginn der Theater beobachten kann, verlassen die Ankömmlinge die Wagen, schlagen den Kutschenschlag zu und stürmen zur Kasse. An ihnen vorüber einige Hundert, welche eben den „Tempel der Kunst“ verlassen haben und die auf den Gleisen wartenden Pferdebahnwagen benutzen wollen. Eben speien diese ihre Insassen aus. Herrische Rufe der Schutzleute ertönen. Rasch biegen Wagen aus – hier flieht noch ein Verspäteter über den Straßendamm. Nun geht’s ans Erobern der Plätze – – vor mir breitet sich Moabit mit dem gewaltigen Justizpalast zur Rechten aus; links im Grunde auf den großen Terrains der Lehrter Bahn ist noch spätes eilfertiges Hin und Her. Zwischen den rothen, grünen und gelben Lichtern – es ist gegen neun Uhr Abends – rasen Züge und einzelne gluthäugige, dampfende und schreiende Lokomotiven. Jetzt aber stürmt hoch über den Häuptern der Tausende auch ein Vorortszug der Stadtbahn vorüber – und das Auge, hin und herschweifend, bleibt endlich haften an den bewimpelten Spitzen und Thürmen der Ausstellung! Ein reizvolles, großartiges Bild!

Auch ich löse mir jetzt ein Billett und steige die große Treppe hinab. Vor mir der große Kuppelbau, breite Wege, grüne Rasen – das Rauschen des Wasserfalles dringt an mein Ohr. Eilfertig plätschern die silbernen Wellen herab und reinigen mit ihrem Athem die Luft.

Aus der Eingangshalle quillt das fluthende Licht und wirft eigene Reflexe auf das Grün und den weißen Sand der Gänge. Da steht Siemering’s gewaltiges Reiterbild Washington’s zur Linken. Das markige Gesicht schaut in die Ferne; fest hält die kräftlge Faust die Zügel des Riesenthieres. Selbst ein Riesenwächter vor dem Eingange in das Allerheiligste des – Vergnügens!

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_456.jpg&oldid=- (Version vom 29.6.2022)