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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Worte, Hertha mochte fühlen, daß sie unbewußt etwas Bitteres berührt habe, und rasch, wie um den Eindruck zu verwischen, sagte sie: „Auch ich war noch ein Kind, als mein Vater starb, ich habe nur noch eine dunkle Erinnerung an ihn und an die grenzenlose Liebe und Zärtlichkeit, mit der er mich umgab und verwöhnte. Wo haben Sie denn mit Ihren Eltern gelebt?“

Die Lippen des jungen Mannes zuckten in tiefster Bitterkeit. Auch er hatte noch Erinnerungen an seine Kinderzeit, aber was ihn damals umgab, war nicht Liebe und Zärtlichkeit gewesen. Die Schmach und das Elend, das er doch kaum zur Hälfte verstand, hatten sich trotzdem wie mit glühenden Zeichen in das Gedächtniß des Knaben eingeprägt, und das war noch heute nicht verwischt, trotzdem zwei Jahrzehnte dazwischen lagen.

„Meine Jugend ist keine frohe gewesen,“ sagte er ausweichend. „Sie bietet wenig Bemerkenswerthes, so wenig, daß ich Sie wirklich nicht damit behelligen möchte, es kann Sie unmöglich interessiren.“

„Doch, es interessirt mich!“ fiel Hertha lebhaft ein. „Aber ich möchte nicht zudringlich erscheinen, und wenn Ihnen meine Theilnahme unangenehm ist –“

„Ihre Theilnahme – mir?“ flammte Michael auf und brach dann plötzlich ab, aber was die Lippen nicht aussprachen, das sagte sein Blick, er hing wie gebannt an der jungen Gräfin, die freilich nicht des glänzenden Rahmens einer reichen Toilette bedurfte. Sie war berückend schön gewesen in Seide und Spitzen, in Blumen und Juwelen unter dem strahlenden Glanze der Kronleuchter, und heute, in dem einfachen dunkelblauen Reitkleide, das sich eng um die schlanke Gestalt schmiegte, war sie fast noch schöner. Unter dem Hütchen mit dem blauen Schleier schimmerten die goldblonden Flechten, halb verhüllt durch jenes Schleiergewebe, und die Augen strahlten leuchtend hell. Es lag heute etwas Eigenthümliches in dem Wesen Hertha’s, sie erschien wie losgelöst von dem glänzenden Boden, auf dem sie sich sonst bewegte, wie angeweht von dem Ernste der mächtigen Bergwelt, die sie umgab, und das gab ihr einen neuen, gefährlichen Reiz.

„Nun?“ sagte sie lächelnd, ohne jenes jähe Abbrechen bemerken zu wollen. „Ich warte.“

„Worauf?“

„Auf den Bericht aus Ihrer Jugendzeit, den Sie mir noch immer schuldig sind.“

Michael athmete tief auf und fuhr mit der Hand über die Stirn.

„Ich werde ihn wohl schuldig bleiben müssen, denn ich kann nichts berichten von einem Elternhaus und Elternliebe. Ich bin unter Fremden aufgewachsen, habe Alles von Fremden annehmen und empfangen müssen, und so gütig und großherzig es mir auch geboten wurde, ich empfinde es doch als eine Schuld, die mich zu Boden drücken würde, hätte ich mir nicht das Wort gegeben, sie mit meiner ganzen Zukunft einzulösen. Jetzt endlich habe ich selbst das Steuer in Händen und darf hinaussteuern in das offene Meer.“

„Und vertrauen Sie diesem Meere mit seinen Wogen und Stürmen?“

„Ja! Wer der Fluth vertraut, den trägt sie, und Eins wenigstens weiß ich mit Bestimmtheit: ich werde nie auf halbzerschelltem Wrack an das Ufer treiben, froh, nur das nackte Leben gerettet zu haben, ich führe entweder mein Schiff in den Hafen – oder sinke mit ihm!“

Er hatte sich hochaufgerichtet bei den letzten Worten, die in vollster Energie klangen. Hertha sah ihn betroffen an, auf einmal sagte sie:

„Merkwürdig – wie Sie in diesem Augenblicke meinem Onkel Steinrück gleichen!“

„Ich – dem General?“

„Zum Sprechen!“

„Das muß wohl eine Täuschung sein,“ entgegnete Michael kalt. „Ich bedaure, die Ehre einer Aehnlichkeit mit Seiner Excellenz ablehnen zu müssen, aber sie besteht wirklich nicht.“

„Für gewöhnlich allerdings nicht, da haben Sie auch nicht einen Zug mit einander gemein, es liegt nur im Ausdruck, und jetzt ist es auch schon wieder verschwunden. Aber in jenem Moment, da waren es die Augen des Grafen, seine Haltung, seine Stimme sogar – ich erschrak förmlich darüber.“

Ihre Augen ruhten noch immer auf seinem Gesicht, und sie schien eine Antwort zu erwarten, die jedoch ausblieb, Michael wandte sich wie zufällig seitwärts und sagte abbrechend:

„Die Aussicht verschleiert sich immer mehr, wir werden bald mitten in den Wolken stehen!“

Das Wetter war in der That drohender geworden, die Sonne begann schon zu sinken, aber ihre Strahlen kämpften noch mit den Nebeln, die jetzt von allen Seiten heranschwebten. Als habe ein mächtiger Heerführer seinen Ruf erschallen lassen, den die ganze Bergwelt vernommen hatte, so stiegen überall die Wolkengestalten auf, bald feierlich, langsam, bald in jagender Hast. Aus den Schluchten und Tiefen quoll es unaufhörlich empor, wie weiße Schleier, die lautlos und gespenstig über die Wälder hinstreiften, hier und da einen flatternden Streifen an den Tannenwipfeln zurückließen und dann immer höher emporstiegen. Aber auch seitwärts über die grünen Alpen kam es jetzt herangezogen, erst einzelnes Gewölk, dann ganze Wolkenmassen, und Alles wallte und strebte der Adlerwand zu, wo es sich immer dunkler und drohender zusammenzog.

Die Matte, auf der Sankt Michael lag, erschien bald nur noch wie eine Insel inmitten eines wogenden, fluthenden Meeres, dessen Wellen mit jeder Minute höher stiegen. Hier leuchtete es weiß, wie der Schaum der Brandung aufwallend und zerfließend, dort lagerte es grau und gestaltlos wie Schatten, und hoch oben an den Zinnen der Wand, die noch von der Sonne getroffen wurden, schwamm ein goldiger, flimmernder Nebel, in dem seltsame Strahlen zuckten. Er umwob die Felsenhäupter und die Gletscherkrone mit einem leuchtenden Zauberschleier, sie standen halb verschleiert, halb sichtbar, wie Schemen in dem goldigen Duft.

Zu ihren Füßen aber ballte sich das Wetter zusammen, und jetzt klang auch dumpf der erste Donner herüber, der aus dem Schoße des Berges zu kommen schien und dann grollend in der Ferne erstarb.

Die Luft war bisher unbewegt geblieben, jetzt aber erhob sich der Wind. Der Schleier der jungen Gräfin flatterte hoch auf und verfing sich dabei in einem niederhängenden Zweige des Wildrosenstrauches, sie versuchte vergebens, ihn los zu machen. Die Dornen hielten ihre Beute fest, und Rodenberg, der ihr zu Hilfe kam, mochte wohl etwas ungeschickt dabei zu Werke gegangen sein, denn auf einmal löste sich das Band des Hutes und dieser fiel herab. Michael, der sich niedergebeugt hatte, um das leichte Gewebe zu befreien, zuckte zusammen und ließ die Hand sinken, denn dicht vor seinen Augen schimmerten jetzt unbedeckt die reichen Flechten, das „rothe Märchengold“.

„Haben Sie sich verletzt?“ fragte Hertha, welche diese Bewegung bemerkte.

„Nein!“ Er griff plötzlich mitten hinein in das dornige Gezweige und riß Hut und Schleier gewaltsam los, aber die Dornen rächten sich, der Schleier zerriß, und von der Hand des jungen Mannes rieselten einige Blutstropfen nieder.

„Ich danke,“ sagte Hertha, indem sie ihren Hut wieder in Empfang nahm. „Aber Sie sind ein ungestümer Helfer. Wie unvorsichtig, mitten in die Dornen zu greifen, Sie bluten ja!“

Es lag eine wirkliche Besorgniß in dem Tone, um so eisiger klang die Antwort.

„Es ist nicht der Rede werth. Ich werde als Soldat doch einen Dornritz nicht scheuen!“

Er zog sein Taschentuch hervor und preßte es achtlos auf die kleinen Wunden, dabei glitt aber ein Blick bebender Ungeduld nach dem Häuschen hinüber, wo der Pfarrer noch immer weilte. Die Unterredung da drinnen schien kein Ende zu nehmen, und die Folter mußte ausgekostet werden bis auf den letzten Grad!

Die junge Dame mochte wohl eine Ahnung von dieser Folter haben, aber sie fühlte sich nicht veranlaßt, sie abzukürzen. Die verwöhnte, gefeierte Schönheit empfand es als eine Beleidigung, daß der Mann dort es wagte, einer Macht zu trotzen, die sie so oft schon an Anderen erprobt hatte. Er hatte diese Macht auch kennen gelernt, das wußte sie längst, er war ihr nicht straflos genaht, und doch stand er da, mit dieser eisigen Zurückhaltung, die nicht zu durchbrechen war, mit dieser trotzigen Stirn, die sich nicht beugen wollte – das sollte er büßen!

„Ich möchte eine Frage an Sie richten, Herr Lieutenant Rodenberg,“ hob sie wieder an. „Meine Mutter machte Ihnen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_558.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)