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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Was will das werden?
Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)
Achtes Buch.

Nach der für mich so gnadenreichen Nacht, deren Wunder mir für immer mit Flammenschrift in die Seele geschrieben sind, kamen Wochen, in welchen ich in rascher Folge so viel Merkwürdiges der verschiedensten Art erlebte, daß ich jetzt, wo ich mich dem Punkte nähere, bis zu welchem ich diese wahrhaftige Geschichte zu führen gedenke, Mühe habe, mir die Einzelheiten wieder in Erinnerung zu rufen, wie ein Krieger die letzten, krausen Ereignisse eines langen Schlachttages, in welchen Freund und Feind zum Entscheidungskampfe in einem scheinbar unentwirrbaren Knäuel zusammengeballt sind.

In diesem Entscheidungskampfe aber war es meine Mutter, der von selbst die Führung zufiel, und ich wüßte nicht, wie Jemand zu der schwierigen Aufgabe eine größere Begabung hätte mitbringen können. Sie hatte mit scharfem Blick sofort das Centrum der feindlichen Stellung erkannt und ihren Angriff unverweilt gegen dasselbe gerichtet. Aber die goldene Säule des Vogtriz’schen Hauses war unerschütterlich gewesen. An dem Trotz der Despotin, zu welchem Störrigkeit des Alters, Eifersucht auf ihre bedrohte Macht und aristokratische Schrullen einträchtiglich zusammenwirkten, waren die diplomatischen Bemühungen des Kammerherrn, der im Namen meiner Mutter die Unterhandlungen führte, gescheitert. Der alte Mann war außer sich und erging sich über seine alte Freundin in den bittersten Reden. „Sie weiß recht gut,“ rief er, „daß ihre Herrschaft einzig und allein auf der Macht ihres Geldes beruht, und die Fräulein Nichten, die sie ausstattet, und die Herren Neffen, deren Equipirungen und Schulden sie bezahlt, sie, während sie ihr die Hände küssen und gnädigste, großmüthigste, allerliebste Herzenstante nennen, in der Tiefe ihrer Seelen hassen und verabscheuen. Der Gedanke, daß man Sie, theure Freundin, in der Familie, trotz Ihres Geldes, um Ihrer selbst willen lieben, Ihnen den Saum Ihres Kleides mit Freuden küssen würde, ist ihr unerträglich. Mit von Haus aus schlechten Menschen ist es wie mit den Affen: sie werden, je älter sie werden, immer boshafter und tückischer. Diese hat den Höhepunkt des Alters und der Bosheit erreicht. Wir müssen alle Hoffnung, sie zu zähmen, aufgeben.“

Das hieß aber nicht mehr und nicht weniger, als die gesammte Familie Vogtriz aufgeben, die einmüthig, wie die Glieder eines schottischen Clans, zu ihrer Seniorin stand. Man hätte diese Einmüthigkeit ehren können, wäre sie nur Sache der Ueberzeugung und nicht der Berechnung gewesen, in welche nun ein Ereigniß, das wenige Tage später stattfand, ganz vortrefflich paßte.

Der Oberst hatte seinen Abschied genommen – die Gegner sagten: nehmen müssen – zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache, welche nach einer langen, zuletzt fast in einen Wortwechsel ausartenden Auseinandersetzung zwischen ihm und seinem Chef unvermeidlich geworden war. Man hatte an ihn ein Ansinnen gestellt, von welchem man im Voraus wissen mußte, daß er es von sich weisen würde: die Erwiderung, vielmehr Widerlegung der zweiten Broschüre Adalbert’s. Nur so sei er im Stande, die üblen Gerüchte, welche sich – zum Aergerniß der ganzen Armee – an seinen Namen geheftet hätten, ein für allemal zum Schweigen zu bringen. Seiner entschiedenen Weigerung, sich dieser Aufgabe zu unterziehen, war die Zurdispositionsstellung gefolgt, welche er mit der Bitte um den Abschied beantworten mußte und konnte, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu gerathen. „Denn,“ sagte er, „ich habe nur den ersten Schritt nicht freiwillig thun wollen. Nachdem man mich dieser Mühe überhoben – kostet’s mich nichts, die anderen zu thun.“

Ach! was sie ihn kosteten: welch’ unaussprechliches Herzweh, welch’ unsagbare Trauer – nicht um sich und ein scheinbar verfehltes Leben, wohl aber um die Sache, der er sein Leben geweiht und die er auf einer schiefen Ebene unaufhaltsam abwärts gleiten sah: das wußte, außer ihm selbst, nur ich allein, mit dem er sprach nicht wie mit den Anderen, sondern eben wie mit sich selbst.

Und so machten wir uns daran, die Akten, welche er aus dem Kriegsministerium im Hause hatte, zusammenzupacken.

Es waren dies zum Theil Papiere der wichtigsten Art, Gegenstände betreffend, die zu den intimsten Geheimnissen des geheimnißvollsten aller Ressorts gehörten, und die man fortgefahren hatte, dem Oberst anzuvertrauen, als man bereits an seiner „Gesinnung“ zu verzweifeln begann, aber seine unvergleichliche Arbeitskraft und seine Autorität in gewissen Specialfächern nicht missen wollte oder konnte. Selbstverständlich waren diese Akten, welche er in einem eigenen Schrank aufbewahrte, der Gegenstand noch ganz besonderer Sorgfalt des so schon ordnungsliebenden Menschen.

Nun denke man sich den Schrecken, ja das Entsetzen, welches ihn und mich befiel, als sich herausstellte, daß von eben diesen Akten ein kleines, aber ganz besonders inhaltsschweres Bündel fehlte. Da er das Verzeichniß über das Ein- und Ausgehende selbst führte, das Neue selbst in Empfang nahm, das Erledigte selbst dem Boten zuzählte – das ganz Wichtige bekam nicht einmal der Bote in die Hände, sondern der Oberst nahm es in seiner Mappe vom Ministerium mit nach Hause und brachte es ebenso wieder zurück – war das Geschehene unbegreiflich. Die Möglichkeit eines Diebstahls schien ausgeschlossen. Es blieb nichts Anderes übrig als die Annahme, daß das vermißte Heft trotzalledem in ein größeres, weniger wichtiges Aktenbündel gerathen und so in das Archiv des Ministeriums zurückgewandert war. Aber auch dort führte eine auf den Antrag des Obersten sofort angestellte, peinliche Nachforschung zu keinem Ergebniß.

Seine Verzweiflung war zu augenscheinlich, seine Ehrenhaftigkeit zu unantastbar, als daß man die unangenehme Sache weiter hätte verfolgen mögen. Der Minister selbst ersuchte den Oberst, sich zu beruhigen; die Zeit oder ein glücklicher Zufall würden das Geheimniß Wohl an den Tag bringen, Nichtsdestoweniger warf diese Angelegenheit einen tiefsten Schatten in das so schon verdüsterte Gemüth des Mannes und machte ihn gegen die zum Theil ganz unverblümten Angriffe, Verleumdungen und Schmähungen, denen er sich in den konservativen Blättern ausgesetzt sah, empfindlicher, als es sonst der Fall gewesen wäre. Mir konnte das nicht entgehen, obgleich er seine Schwermuth gerade vor mir am sorgfältigsten zu verbergen suchte. Er wollte mir mein Glück nicht stören. Aber wie hätte ich mich desselben ganz erfreuen dürfen, wenn ich ihn so tief unglücklich sah!

Und auf den Trümmern seines Glückes erhob sich gewissermaßen das meine. Wenigstens hätte es ohne seine Verabschiedung vor den Augen der Welt an einem schicklichen Vorwand für Astolf gefehlt, mit seinem Oheim zu brechen und von der Bewerbung um Elliunr zurückzutreten. Sein Verhalten in dieser zarten Angelegenheit war wie immer „völlig korrekt“ gewesen. Von einer Auseinandersetzung mit Ellinor, welche noch an dem Gesellschaftsabend unter vier Augen stattgefunden, brauchte, als von einer durchaus persönlichen, die Welt nichts zu wissen und erfuhr die Welt nichts. Sie erfuhr nur, daß er dem Oberst seine Aufwartung gemacht und mit aller Achtung, welche er dem älteren Verwandten schuldete, die Unvereinbarkeit dargelegt habe, in welcher seine soldatischen Grundsätze und Anschauungen mit denen des Obersten ständen, um daran die Bitte zu knüpfen, daß ihm erlaubt sein möge, künftighin auch auf den persönlichen Verkehr, als auf einen für beide Seiten nur peinlichen, verzichten zu dürfen. Die Unmöglichkeit aber, eine Dame heirathen zu können, mit deren Vater man diese Sprache hatte führen müssen, lag so auf der Hand, daß es dafür eines Beweises nicht bedurfte, am wenigsten eines solchen, bei dem es ohne unliebsames Geräusch nicht abzugehen pflegt.

Daß Ulrich nur die volle Erinnerung unserer alten Freundschaft abgehalten hatte, diesen unliebsamen geräuschvollen Beweis mir (oder der Welt) gegenüber unnöthigerweise dennoch zu führen, bewies ein Brief von seiner schwerfälligen Hand, der, sobald der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 653. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_653.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2018)