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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Während die beiden Väter sich so in vollster Feindseligkeit gegenüberstanden, saßen ihre Kinder ganz friedlich und freundschaftlich bei einander. Hans Wehlau war von Tannberg herübergekommen, um seinen lieben Papa zu sehen und sich nach dem Befinden der Gräfin zu erkundigen. Das Letztere schien ihm aber das Wichtigere zu sein, denn er that es regelmäßig zuerst, und zwar holte er sich die Nachrichten nicht bei dem Vater, der sie ihm doch am besten hätte geben können, sondern – bei Fräulein von Eberstein, welche die gewünschte Auskunft stets selbst zu geben pflegte. Der Professor ahnte natürlich nichts von diesen Anfragen und Auskünften, sondern war der Meinung, sein Sohn komme direkt zu ihm, und freute sich über diese Anhänglichkeit, die offenbar neueren Datums war.

Auch heute hatte der junge Künstler sich bei dem gnädigen Fräulein melden lassen, und das gnädige Fräulein war schleunigst in das Empfangszimmer gekommen, wo sie nun schon länger als eine halbe Stunde bei einander saßen und wohl auch von anderen Dingen gesprochen hatten, als von der Krankheit der Gräfin; denn Hans sagte soeben:

„Sie haben es also Ihrem Herrn Vater noch nicht mitgetheilt? Er hält mich noch immer für einen Wehlau Wehlenberg?“

„Ich – ich fand noch keine Gelegenheit dazu,“ versetzte Gerlinde stockend. „Schreiben wollte ich es dem Papa nicht, denn ich wußte, es würde ihn kränken; deßhalb habe ich ihm unser Zusammentreffen ganz verschwiegen. Dann gingen wir nach Berkheim und als wir hierher kamen, erkrankte die arme Tante gleich am ersten Tage – da konnte ich vollends nicht von solchen Dingen sprechen.“

Die Worte klangen sehr ängstlich und zaghaft; Hans sah es deutlich, daß ihr nicht die Gelegenheit, sondern der Muth gefehlt hatte.

„Und überdies fürchten Sie den Zorn des Freiherrn gegen mich!“ ergänzte er. „Ich begreife das vollkommen und werde Ihnen selbstverständlich diese peinliche Auseinandersetzung ersparen. Ich fahre in den nächsten Tagen selbst nach der Ebersburg und bekenne dort reuig meine Sünden.“

„Um des Himmelswillen nicht!“ rief Gerlinde erschrocken. „Sie kennen meinen Papa nicht; er hat so strenge Grundsätze in dieser Beziehung und würde es nie zugeben –“

„Daß der bürgerliche Hans Wehlau als Gast in sein Haus kommt und mit seiner Tochter verkehrt – möglich! Die Frage ist nur, ob Sie mir das erlauben, mein Fräulein?“

„Ich?“ fragte das junge Mädchen in äußerster Befangenheit. „Ich habe ja nichts zu verbieten oder zu erlauben.“

„Und doch verlange ich die Antwort von Ihnen allein! Weßhalb glauben Sie denn, daß ich hierher gekommen bin? Doch nicht meiner Verwandten in Tannberg wegen! Ich hielt es nicht mehr aus in der Stadt, trotzdem mir die letzten Monate soviel Glück gegeben hatten. Der erste Erfolg eines Künstlers hat ja etwas Berauschendes, und mir ist er so ganz und voll zu Theil geworden, wie ich es kaum gehofft hatte. Von allen Seiten strömte es mir entgegen, und doch konnte ich eine Erinnerung, ein Sehnen nicht los werden, das immer wieder auftauchte, das mir keine Ruhe ließ und zuletzt so allmächtig wurde, daß es mich gewaltsam fortzog – meiner Sehnsucht nach!“

Gerlinde saß mit tiefgesenkten Wimpern und glühenden Wangen da. So jung und unerfahren sie auch noch war, diese Sprache verstand sie doch; sie wußte, wohin die Sehnsucht ihn gezogen. Er hatte sich erhoben und stand jetzt an ihrer Seite, und während er sich tief zu ihr niederbeugte, gewann seine Stimme wieder jenen weichen, innigen Ton, den man selten von den Lippen des übermüthigen jungen Künstlers hörte.

„Darf ich nach der Ebersburg kommen? Ich möchte sie so gern noch einmal erleben, die sonnige Morgenstunde auf den alten Burgtrümmern, hoch über dem grünen Waldmeer. Dort, an Ihrer Seite ist mir zum ersten Male die Poesie der Vergangenheit, die alte Märchenherrlichkeit aufgegangen. Durfte ich doch dem holden Dornröschen in die dunklen, träumenden Augen schauen. Ich habe diese Augen nicht wieder vergessen; sie sind mir tief in das Herz gedrungen – darf ich kommen, Gerlinde?“

Die Gluth in dem Antlitz des jungen Mädchens wurde tiefer, aber die gesenkten Augen hoben sich nicht, und die Antwort klang fast unhörbar.

„Ich hatte immer gehofft, Sie würden wiederkommen – den ganzen langen Winter hindurch – und immer vergebens.“

„Aber jetzt bin ich da!“ rief Hans aufflammend, „und jetzt gehe ich nicht wieder, ohne mir mein Glück zu sichern. Mein süßes kleines Dornröschen, ich habe es Dir ja schon damals gesagt, daß ein Tag kommen wird, wo der Ritter erscheint, der die Dornenhecke sprengt und die Träumende wach küßt aus ihrem Schlummer, und schon damals habe ich tief im Herzen den Wunsch gehegt, der Ritter möchte – Hans Wehlau heißen.“

Er hatte bei den letzten Worten den Arm um sie gelegt, Gerlinde schrak zusammen, aber sie entzog sich ihm nicht; langsam hob sie die dunklen „träumenden“ Augen zu ihm empor und leise, ganz leise, aber mit der ganzen Innigkeit des Glückes, sagte sie:

„Ich auch!“

Es war dem jungen Manne nicht zu verdenken, wenn er sich auf dies Geständniß hin nun auch genau an die Vorschrift des Märchens hielt und sein Dornröschen küßte, das sich an ihn schmiegte und glückselig zu ihm aufschaute. Aber als er sie nun fester in die Arme zog und sie seine süße kleine Braut nannte, fuhr Gerlinde auf einmal schreckensbleich empor.

„Ach Hans, lieber Hans, das geht ja nicht! Ich hatte es ganz vergessen – wir dürfen uns nimmer heirathen!“

„Weßhalb denn nicht?“ fragte Hans erstaunt.

„Mein Papa – er wird es niemals zugeben – wir stammen ja aus dem zehnten Jahrhundert!“

„Das zehnte Jahrhundert ist für mich durchaus kein Hinderniß, im neunzehnten zu heirathen. Mit dem Freiherrn wird es allerdings einen Sturm geben. Darauf bin ich gefaßt, aber ich bin ziemlich sturm- und wetterfest in solchen Dingen. Ich weiß aus reichlicher Erfahrung, was es heißt, einem wüthenden Papa Stand zu halten und schließlich doch seinen Willen durchzusetzen.“

„Aber wir werden ihn nicht durchsetzen,“ klagte das kleine Burgfräulein trostlos. „Es wird uns gehen wie Gertrudis von Eberstein und Dietrich Fernbacher, die sich auch so sehr liebten. Aber Gertrudis ward vermählt an den Edelherrn von Ringstetten, und Dietrich zog hinaus in den Kampf gegen die Ungläubigen und kam nimmer wieder!“

„Das war sehr unklug von dem Dietrich,“ erwiderte Hans. „Er hatte bei den Ungläubigen gar nichts zu schaffen! Er hätte daheim bleiben und seine Gertrudis heirathen sollen.“

„Aber sie durfte ihn uicht ehelichen, dieweil er nicht ritterlicher Abkunft, sondern der Sohn eines Kaufherrn war!“ rief Gerlinde, der die hellen Thränen in den Augen standen, während sie pflichtschuldigst den Wortlaut der alten Chronik wiederholte.

„Das war im Mittelalter,“ beruhigte sie Hans. „Jetzt ist man viel vernünftiger in solchen Dingen. Ich ziehe nicht gegen die Ungläubigen: ich laufe höchstens Sturm gegen die Ebersburg, und die nehme ich unter allen Umständen.“

„O Gott, mein Papa – das ist sein Schritt!“ rief Gerlinde, indem sie sich losmachte und schleunigst an das Fenster flüchtete.

„Hans, was fangen wir nun an?“

„Wir stellen uns ihm als Brautpaar vor und bitten um seinen Segen!“ erklärte der junge Mann kurz und bündig. „Einmal muß es doch geschehen, also je eher, desto besser.“

Man hörte in der That im Nebenzimmer den schweren, schlürfenden Schritt des Freiherrn und das Aufstoßen seines Stockes. Jetzt öffnete er die Thür, blieb aber wie erstarrt auf der Schwelle stehen. Er sah den „Menschen ohne Namen und Familie“ bei seiner Tochter, allerdings augenblicklich in respektvoller Entfernung von derselben; aber die bloße Thatsache dieses Beisammenseins genügte schon, ihn in Entrüstung zu versetzen; er trat langsam näher.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 832. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_832.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2022)