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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

nachgeht, in der Welt zu leben verlernt, ein Egoist wird und unfähig …“

„Andere glücklich zu machen,“ fällt sie schnell und etwas muthwillig ein, denn sie hat begriffen, weßhalb er stockt, „was, wie Sie gestern behaupteten, noch schwerer ist, als ein Bild malen oder gelehrte Dinge studiren. Darum schlägt ein solcher Egoist armen kleinen Ausländerinnen auch ab, ihnen Unterricht zu geben – darum er hält ihnen Strafpredigten, ehe er noch weiß, ob sie verdient sind! Darum ist er grausam!“

Halb muthwillig, halb vorwurfsvoll sieht sie ihn dabei von unten herauf an. Der Blick verwirrt ihn … wäre es doch möglich? Sein Herz pocht zum Zerspringen.

„Ich grausam gegen Sie … gegen Sie! …“

Lucie findet nicht nöthig, ihm noch eine weitere Aufklärung zu geben. „Ich gefalle ihm sicher!“ denkt sie – „ich merke es ja, wenn er mich ansieht. Warum er nur so zurückhaltend ist? Ich habe doch immer gehört, daß Künstler gar nicht schüchtern wären. Ich wollte, Mama forderte ihn nicht auf, mich zu zeichnen. Ich bin sicher, ich werde roth dabei, und das ist peinlich … Mama – Ihr kommt ja gar nicht nach!“ ruft sie, sich umwendend. „Sieh doch diese reizende Partie hier am Wasser … dort der Tempel, wie schön beleuchtet! Wollen wir nicht etwas Kahn fahren?“

„Dieser Ort ist angenehm, um auszuruhen,“ entgegnet Frau Dunby, sich auf einer Bank niederlassend, welche einen dicken Lindenstamm umschließt. „Wie wäre es, Herr Schaumlöffel, wenn Sie hier das Album öffneten? … Sie sollen es nicht umsonst getragen haben.“

„Lieber Kahn fahren, Mama!“

„Nein, Du bist viel zu erhitzt, um auf dem Wasser zu fahren. Still sitzen wird Dir gut thun.“

„Da sind Leute; sie werden zusehen, wenn ich gezeichnet werde!“ ruft Lucie abwehrend.

Aber Oskar will sich den Vortheil nicht entgehen lassen; zum ersten Mal ist ihm der wahre Nutzen seiner Zeichenstudien klar geworden. Er spitzt bereits den Bleistift mit sichtbarem Eifer. Mama Dunby zupft an Luciens ganzem Anzug herum, als sollte sie en pied gemalt werden. Diese setzt sich auf eine gegenüberstehende Bank, steif, verstimmt.

„So geht das nicht – so habe ich die Sonne im Gesicht!“ ruft Oskar, der sich in einer kleinen Entfernung von ihr auf der Erde niedergelassen hat.

„Warum gehen Sie nicht auf die andere Seite?“ bemerkt das Modell.

„Richtig!“ Oskar, dem jetzt doch zu Muthe ist, als sollte er hingerichtet werden, verändert seinen Platz.

Papa und Mama Dunby haben sich unmittelbar hinter ihm aufgestellt. Lucie ist außer sich, daß sie als „Profilmodell“ keine Gelegenheit hat zu sehen, wie ein großer Künstler eine kleine Bleistiftzeichnung beginnt.

„Da sollte doch … wenn ich für diese Amerikaner nicht ein kleines Profil zu Stande brächte, wie jeder andere zeichnende Dilettant!“ sagt Oskar sich vor. „Es muß gehen! Ich will an das reizende Modell nicht denken – nur zeichnen … zeichnen, als hätte mich mein Lebtag nichts Anderes interessirt … Kein Gummi! – Da muß ich doppelt aufpassen!“

„Wie so ein Künstler das gleich anfängt! Der erste Strich und es scheint mir, ich sehe schon die Ähnlichkeit …“ lobt Dunby.

„Ein bloßer Strich – und ähnlich? Dann muß ich wie ein Stock aussehen!“

„Still – bewege Dich nicht! Mehr links … nein, das ist zu viel!“ ermähnt Frau Dunby, welche die Sitzung überwacht, als sollte sie ein Protokoll darüber aufnehmen.

„Ganz die Nase – der kleine Bug – akkurat!“ ruft der gefällige Papa. „Aber finden Sie nicht, Herr Schaumlöffel, daß Luciens Oberlippe ein klein wenig kürzer ist? Ich finde, ihr Mund ist die hübscheste Partie in ihrem Gesicht.“

„Ganz recht – sehr wahr!“ pflichtet Oskar träumerisch bei; es sind ihm bei der Betrachtung dieses reizenden Mundes eben Gedanken gekommen, die mit der Zeichnung nichts zu thun haben; er bemüht sich sie zu verscheuchen, drückt dabei den Bleistift zu hart auf und bricht die Spitze ab.

„Zieh die Achseln nicht in die Höhe – Herr Schaumlöffel macht Dir sonst einen Buckel!“

Lucie zieht sie noch etwas höher. Papa Dunby lacht: Oskar attackirt mit der neuen Spitze die langgeschwungenen Augenwimpern; er giebt an der Länge noch etwas zu.

„Es ist ein charmantes Bildchen! Wir werden es einrahmen lassen!“ ruft der entzückte Vater.

Oskar ist selbst erstaunt; die Aufregung hat ihm einen gewissen Schwung verliehen; es ist nicht gerade die Lucie, wie sein Vetter sie koncipirt hätte, aber immerhin eine niedliche Zeichnung, geeignet in einem Salon-Album zu paradiren.

„Jetzt hältst Du Dich ganz schief …“

„Wenn Ihr mich Alle anseht, so sitze ich nicht länger! Geh’ doch mit Papa spazieren!“ ruft Lucie aufspringend und auf Oskar zueilend, „ich will die Zeichnung jetzt ansehen.“

Oskar hat nach Dilettantenart das Buch schnell zugeklappt: „Erst wenn ich sie beendet habe, mein Fräulein!“ Er fürchtet Luciens Urtheil, die ihn verwundert anblickt.

„Wie wäre es, Karoline,“ sagt Mr. Dunby, seiner Frau den Arm bietend, „wenn wir unterdeß das Rokokoschlößchen in Augenschein nähmen, das sich hier ganz in der Nähe befinden muß?“ Er hat in seinem Handbuch kurz vorher den Plan studirt.

Frau Dunby ist nicht sehr geneigt, aber der Wunsch, die Zeichnung zu besitzen, macht sie nachgiebig. „Ich will nur Lucie vorher wieder in ihrer Stellung sehen …“ ruft sie; Lucie ist schon auf ihren Platz zurückgekehrt.

„Sieh’ nur – wie er sie ordentlich mit den Augen verschlingt!“ flüstert Frau Dunby ihrem Gatteu zu; sie hat sich in einer kleinen Entfernung noch einmal nach Maler und Modell umgedreht.

„Wie kann er sie denn zeichnen, wenn er sie nicht ansieht!“ entgegnet er, die Frau mit sich fortziehend.

Lucie bereut jetzt fast, die Eltern fortgeschickt zu haben; die Stille beängstet sie nun. Auch die Fremden, welche vorhin auf einer der benachbarten Bänke ausruhten, sind weiter gegangen. Es ist ihr auf einmal, als ob sie des Zeichnenden Auge auf sich ruhen fühle.

„Woran arbeiten Sie jetzt?“ fragte sie, ihre Verlegenheit zu verbergen.

„An den Haaren,“ antwortet der arme Künstler, der es nicht mehr wagt, die Profillinie zu berühren, aus Furcht, sie zu verderben.

„Werden Sie schattiren?“

„Nein. Aber wenn Sie mir ein ander Mal … im Atelier … etwas mehr Zeit geben wollten …“

„Wie lange etwa?“ Dabei hat sie sich umgewandt und ist seinem sehnsüchtigen Auge begegnet. Sie ist tief erröthet. Er muß es bemerkt haben – die Situation wird unerträglich.

„Sie sind müde!“ ruft er, um sie zu erlösen, „es ist auch nicht anders möglich! Der Hals muß Ihnen ja weh thun …“

„Kann ich die Zeichnung jetzt sehen?“

„Gewiß!“

Es ist ihm gleichgültig, was sie darüber denkt; er ist ja kein Maler. Er ist aufgesprungen und hat sich neben sie auf die Bank gesetzt. Ihre Brust fängt an sich schneller zu heben und zu senken …

„Ich konnte auch nicht länger zeichnen,“ ruft er mit halberstickter Stimme und reicht ihr das Album. Sie nimmt es mit zitternder Hand und schaut schweigend auf den einfachen Schattenriß nieder. Wie muß er mich lieben, denkt sie, daß er es nicht besser gemacht hat! …

Er aber ist nur von ihrer Nähe erfüllt. Schweigend legt er seine Hand auf die kleinen bebenden Finger, welche das Buch halten. Sie wendet sich etwas ab … „Dort setzen sich eben zwei Herren auf die nächste Bank und sehen herüber …“ flüstert sie.

„Meinetwegen,“ ruft Oskar. Er möchte ihr so gern sagen: ich habe Dich lieb – über Alles lieb! Aber das starke Gefühl benimmt ihm fast den Athem – die Worte wollen ihm nicht gehorchen … er ist so ungeübt in den landläufigen Ausdrücken der Liebe – ihn macht sie stumm.

Lucie aber sitzt neben ihm, halb selig, halb schmerzbeklommen. Warum spricht er nicht? denkt sie. Er muß es doch merken, daß ich ihn gern habe! Und daß er mich lieb hat, das fühle ich doch auch … Die Stille wird ihr unerträglich … „Da kommt die Mama!“ ruft sie wie erleichtert, sobald sie diese erblickt, und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 870. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_870.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)