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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

entziehen, so kann er die Bepinselung mit Ichthyol am Morgen nach gebrauchtem Wasserdampf wiederholen, und das Heilmittel also in 24 Stunden zweimal einwirken lassen, was den guten Erfolg vergrößern und beschleunigen wird.

Von der großen Anzahl empfohlener Mittel hat doch fast jedes seine Eigenthümlichkeit; der einen Natur wird dieses, der andern jenes mehr nützen, weßhalb es recht klug ist, die Wahl jenem Arzte zu überlassen, der die Natur des Beschädigten kennt; denn alle Mittel, die kräftig und nützlich wirken, können bei unpassendem Gebrauche auch recht schaden. Leider treten aber gerade derartige Unglücksfälle oft in Situationen und an Orten auf, wo Aerzte nicht zu Gebote stehen, und deßhalb ist es vielleicht recht gut, wenn von diesen Verhältnissen auch Laien etwas wissen.


Sankt Michael.

Roman von E. Merner.
(Schluß.)


Es war zwei Tage später, im Hauptquartier des Generals Steinrück. Im Vorzimmer waren die Officiere versammelt, um die Befehle ihres Chefs für den Vormarsch zu empfangen, aber die Gesichter Aller waren ernst, und sie sprachen nur halblaut mit einander. Sie wußten ja schon, welcher schwere Schlag den Führer getroffen hatte. Sein Enkel, der schöne, ritterliche, lebensvolle Graf Raoul, war verunglückt, war bei einem Fehltritt in der Dunkelheit in den Fluß gestürzt und ertrunken.

Es war ein furchtbares Schicksal für den Greis, noch am Abend seines Lebens den Letzten seines Stammes und Namens in der Jugendblüthe dahinsinken zu sehen, und er konnte nicht einmal an seinem Sarge stehen, ihn nicht zur Gruft seiner Väter geleiten. Die Pflicht hielt ihn an der Spitze seines Korps fest; er hatte in der That seit vorgestern, wo die Nachricht eintraf, keine einzige dieser Pflichten vernachlässigt; empfing er doch eben wieder den Hauptmann Rodenberg, der mit wichtigen Depeschen eingetroffen war. Es ahnte keiner von den Officieren, welches Familiendrama dort hinter der geschlossenen Thür seinen letzten Abschluß fand. Neben dem General stand Michael, der soeben berichtete:

„Beim ersten Tagesgrauen hat man ihn gefunden, ganz in der Nähe des Hauses, wo wir weilten. Ich fand noch Zeit, die ersten und nothwendigsten Anordnungen zu treffen, dann mußte ich fort. Alles Uebrige habe ich in die Hände meines alten Lehrers gelegt, der auch die schwere Pflicht übernommen hat, der Mutter die Todesnachricht zu bringen und die Leiche nach Steinrück zu geleiten.“

Der General hatte schweigend zugehört, jetzt fragte er tonlos:

„Und es weiß Niemand –?“

„Niemand, außer uns Beiden! Clermont und seine Schwester werden schweigen, müssen es, um ihrer selbst willen. Sobald auch nur ein Wort von dem Geschehenen verlautet, sind sie unmöglich, wohin sie sich auch wenden mögen. Hier sind die Papiere. Ich lege sie in die Hände meines Generals zurück, und die Ehre des Namens Steinrück ist gerettet.“

Steinrück nahm die Papiere an sich; dann reichte er seinem Enkel die Hand.

„Ich danke Dir, Michael!“

Der junge Officier blickte ihn besorgt an; ihn täuschte diese starre, finstere Ruhe nicht; er wußte, was sich dahinter barg.

„Großvater,“ sagte er leise. „Jetzt könntest Du doch um ihn weinen!“

Der General schüttelte heftig den Kopf.

„Ich habe jetzt keine Zeit zum Weinen, und Thränen hat man nur für einen geliebten Todten. Daß er mir das anthat, anthun konnte – genug davon, laß ihn ruhen!“

Er schritt voran nach dem Vorgemach, wo sich die Officiere befanden, und wo er mit jener schweigenden Ehrfurcht empfangen wurde, die Jeder dem Unglücke zollt. Einer aus dem Kreise trat vor und sprach im Namen Aller dem greisen Führer die Theilnahme aus an dem schweren Verluste, der ihn getroffen hatte. Steinrück hörte das starr und scheinbar unbewegt an; er neigte nur zum Danke das Haupt gegen Alle.

„Ich danke Ihnen, meine Herren! Der Schlag, der in der nächsten Zeit Tausende treffen wird, er hat mich zuerst getroffen; aber der Himmel hat mir bereits einen Trost dafür gesandt, denn hier,“ jetzt brach es durch seine unheimliche Ruhe wie ein Aufflammen der alten Kraft, und die mächtige Greisengestalt richtete sich hoch empor, „hier an meiner Seite steht der Sohn meiner früh verstorbenen Tochter, mein Enkel, Michael Rodenberg!“


Ein Jahr war vergangen, ein Jahr voll schwerer Kämpfe und mächtiger Erfolge, voll Siegesjubel und Todtenklage, und als der Sommer wieder die Erde grüßte, grüßte er dort ein neu erstandenes Reich.

Auf der Bergstraße, die von Tannberg nach Schloß Steinrück führte, rollte ein offener Wagen dahin, in dem sich zwei Officiere befanden. In dem Hauptmann, der zur Rechten saß, hätte man auch ohne die Uniform den Soldaten erkannt; sein Gefährte dagegen, der die Abzeichen eines Reservelieutenants trug, hatte ein mehr künstlerisches als kriegerisches Aussehen, trotzdem auch er von Luft und Sonne tief gebräunt war.

„Du kannst von Glück sagen, Michael!“ sagte er mit dem alten Uebermuthe. „Du kehrst als gefeierter Kriegsheld zurück, in die Arme Deiner Braut. Mir wird es nicht so gut, ich habe noch eine heiße Schlacht zu schlagen. Mein kleines Dornröschen freilich hat sich tapfer und muthig gezeigt, aber die Dornenhecke starrt mir noch immer entgegen mit der ganzen Energie des zehnten Jahrhunderts. Eigentlich ist mir die Uniform hier auf der Reise sehr unbequem, aber ich hoffe, ihm damit zu imponiren, meinem Schwiegervater nämlich. Vielleicht macht es doch Eindruck auf ihn, wenn das neunzehnte Jahrhundert in seiner ganzen kriegerischen Pracht vor ihm erscheint.“

„Du nimmst die Sache wie gewöhnlich von der komischen Seite,“ entgegnete Michael. „Du solltest aber bedenken, daß nicht allein der alte Freiherr, sondern auch Dein Vater seine Einwilligung verweigert.“

„Ja, man hat seine Noth mit den Vätern; sie sind gar nicht mehr zu regieren!“ stimmte Hans bei. „Ich habe meinen Papa nun endlich durch Gerlindens Briefe, die ich ihm zu lesen gab, überzeugt, daß sie ganz vernünftig ist; aber er bleibt hartnäckig dabei, daß die Anlage zur Verrücktheit in der Eberstein’schen Familie erblich sei, und verlangt durchaus, daß ich auf künftige Generationen Rücksicht nehmen soll. Der Freiherr dagegen behauptet wieder, daß die Gottlosigkeit erblich ist. Uebrigens muß er eine Ahnung davon haben, daß ich jetzt, wo die Truppen entlassen werden, schleunigst auf der Bildfläche erscheine; denn er hat Gerlinde sogar verboten, nach Steinrück zu fahren. Als ob das uns hinderte! Ich berenne die Ebersburg als Ritter vom Forschungstein in aller Form, und vorläufig klettere ich noch einmal über die Burgmauer und finde auf der Terrasse mein Dornröschen, das schon ganz genau unterrichtet ist.“

Michael hörte etwas zerstreut zu, seine Aufmerksamkeit wandte sich Schloß Steinrück zu, das schon eine ganze Weile sichtbar gewesen war und jetzt dicht vor ihnen lag; er sagte nur flüchtig: „Ihr scheint ja in sehr lebhaftem Verkehr zu stehen. Der Briefwechsel wurde Euch ja wohl verboten?“

„Natürlich, von beiden Vätern. Deßhalb schrieben wir uns so oft während des Krieges. Wir müssen in unserem künftigen Hause zunächst ein Archiv anlegen, für all’ die Feldpostbriefe, in denen unsere Liebes- und Leidensgeschichte ruht. Aber nun hat sie lange genug gedauert, und wenn der Alte gar keine Vernunft annehmen will, so setzen wir ihn in das Burgverließ, wie den seligen Balduin von Ortenau vor sechshundert Jahren, der auch so lange darin sitzen mußte, bis er in die Heirath Kunrad’s von Eberstein und Hildegard’s von Ortenau willigte. O, ich bin schon sehr bewandert in der Geschichte meiner Verwandtschaft. Ich verwechsele nicht einmal die Namen mehr.“

Michael gab keine Antwort; jetzt, wo der Wagen den Schloßberg hinauffuhr, spähte er nur ungeduldig nach den Fenstern der Burg; Hans folgte der Richtung seines Blickes.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 914. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_914.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2022)