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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

drängte es ihn heraus aus dem Menschengewimmel, zu seinen Bergen, wo die goldene Sonne über alle Gipfel strahlte, wo die duftenden Blumen im Morgenthau erglänzten, wo er sein Lied aus voller Kehle über Klüfte und Höhen erschallen lassen konnte, daß es widerhallte in hundertfachem Echo – wo er am Waldquell, dort unten im kühlen Abendschatten, bei Schwester Speranza sitzen und den wunderbaren Märchen lauschen durfte, die sie ihm erzählt, von Rittern und Königinnen, von bösen Zauberern und verwunschenen Prinzessinnen! Saß sie nicht selber vor ihm wie solch eine verwunschene Prinzessin, in ihrer hohen, lieblichen Würde, mit ihrem Antlitz, drauf ein Schimmer von königlicher Hoheit zu ruhen und mit ihrem Auge, draus ein Strahl von himmlischer Liebe zu blitzen schien?

„O Schwester Speranza,“ hatte er einmal zu ihr gesagt, als sie sich erhoben und ihm zum Scheiden die Hand gereicht hatte; „bleib’ immer hier im Kloster und niemals denke daran, es zu verlassen; denn wo Du bist, ist Leben und Sonne, und solltest Du abziehen von hier, mir wäre es, als fiele der Deckel meines Sarges über mir zu!“

Mit stillem Sinnen war bei diesen Worten ihr Auge auf dem Knaben ruhen geblieben; liebkosend hatte ihre Hand in seinen Locken gespielt, und leise hatte sie vor sich hingeflüstert: „Armes Kind!“

Aber wild war da der Knabe aufgesprungen.

„Ein Kind?“ hatte er ausgerufen; „ein Kind bin ich nicht mehr! Und wollte es die Madonna, wohl würde ich Dir es beweisen!“

Bewiesen hatte er es an diesem Tage, wo er mit dem Feldsteine des Ungethüms Kopf zerschmettert hatte. Von oben, aus dem letzten Bergesvorsprung, hatte er Speranza’s Schrei gehört.

„Madonna!“ rief sie schreckensvoll, und ein anderer Name noch war ihren Lippen entflohen, ein Name, den er nicht kannte, nicht verstand. „Gonzaga, zu Hilfe!“

Und über das Felsengeröll war er geflogen, in wildem, jähem Sprunge – und ein Kind durfte Speranza ihren Retter nicht mehr nennen!

Auch Nino lauschte an diesem Abende in seines Vaters Hütte dem langen, langen Läuten der Ave Maria-Glocke, und andächtig betete er zur Madonna; denn besser als die Andern wußte er ja, warum Schwester Speranza das Glöcklein so lange ertönen ließ; sie dankte der heiligen Jungfrau für ihre wunderbare Errettung, und auch seiner gedachte sie in ihrem Gebet! Auf seine Lippen preßte Nino das goldene Kreuz; Thränen rollten aus seinen Augen auf die weißen Perlen, und still betete er zur Madonna: „Segne und beschütze auf immer die Schwester Speranza, mein einziges Heil und meine einzige Liebe!“

Als er aber am andern Morgen mit seinen Ziegen auszog und ihn sein Weg wie gewöhnlich vor der Klostermauer vorbei führte, und als er mit lauter Stimme Speranza’s Namen zum kleinen Fenster hinaufrief, da war es nicht Speranza, die ihm antwortete, sondern die alte Josefa:

„Ziehe Deine Wege, Nino,“ rief sie ihm durch ihren halb geöffneten Fensterladen herunter, „und laß mir Schwester Speranza in Ruhe! Zum spanischen Ritterspielen bist Du zu jung und gegen die reißenden Wölfe bedürfen wir Deiner nicht!“

Schmetternd fuhr der Fensterladen zu; Nino aber blieb stumm an der Mauer stehen. Was wollte die alte Josefa mit dem spanischen Ritterspielen meinen? Das seltsame Räthselwort vermochte er zuerst nicht zu verstehen; als er es aber zu deuten versuchte, da ward es ihm, als gerinne all sein Blut in seinen Adern und als wolle sein Herz zerspringen. Ein spanischer Name war es, der gestern hilferufend an sein Ohr geschlagen war!

Wie ein ängstliches Fragen klang’s an diesem Abend durch seine Stimme, als er unter dem jetzt geöffneten Fenster Speranza’s Namen hinaufrief. Von dort antwortete aber Niemand. Aus der Kirche tönte ein leises Beten. Bis zur Schwelle trat er zögernd; dann wandte er seine Schritte zu seines Vaters Haus. Einen Strauß von duftenden Thymianblumen, den er auf den Bergen gepflückt hatte, warf er aber durch das offene Fenster in Speranza’s Zelle.

Dem alten Letterio bedeutete am folgenden Morgen Schwester Josefa, sein Sohn thäte besser daran, seine Ziegen zu hüten, als den Klosterjungfrauen Blumen durchs Fenster zu werfen; was er thue, wisse er freilich nicht; Nino sei ja noch ein halbes Kind; der Vater aber verstehe schon, was sie meine, und die Schwestern wie gewöhnliche Mädchen zu behandeln, mit denen man verliebte Scherze treiben dürfe, das solle der Vater dem Knaben untersagen.

„Und wenn ich der Schwester Speranza Blumen bringen will, wer darf mir es wehren?“ erwiderte trotzig dem Vater der junge Hirt; „mit Blumen schmückt man auch den Altar der heiligen Jungfrau Maria; und was für die Madonna erlaubt, das wird doch wohl für Schwester Speranza nicht verboten sein! Und von der alten Josefa laß ich mir erst recht nichts verbieten!“

Und sie mochte es anfangen wie sie es auch wollte, jeden Morgen und jeden Abend lag ein Thymianstrauß auf Schwester Speranza’s Gesimse oder mitten in ihrer Zelle, auf dem Estrich; und gerade auf dem Berge, der dem Kloster gegenüberlag, weidete von nun an Nino seine Ziegen; unverwandten Blickes schaute er nach Speranza’s Fenster; mit lauter Stimme jubelte er ihr seinen Gruß zu, wenn er sie von weitem erblickte, und jubelnd zog sein Singen bis hinter die Mauern ihrer Zelle, wenn Josefa vor dem zudringlichen Sänger die Fensterläden schmetternd schloß. Speranza aber mußte traurig vor sich hinlächeln, wenn sie hörte, wie Nino ihren Namen in alle seine Lieder hineindichtete, und wie im wiederkehrenden Schlußverse des alten Volksliedes, das er jeden Abend wie einen Schlafgruß zu ihr hinauf sandte, immer und immer wieder ihr Name wiederklang:

„Sterb’ ich einmal, so kommen die Doktoren, und suchen, ob am gebrochenen Herzen ich starb. Und siehe! mit scharfen Messern öffnen sie meine Brust. Ein Herz aber finden sie nicht darin. Mein Herz, mein Herz, es liegt in Deiner Brust, Speranza! und zwei Herzen hast Du jetzt, Speranza! das Deinige und das meinige dazu!“

(Fortsetzung folgt.)




Sagen und Gebräuche aus dem Paznaunthal.
(Schluß.)


Wenn man erwägt, daß man sich in einem Hochthale befindet, dessen Hauptorte Ischgl 1442 Meter und Galthür 1537 Meter hoch liegen, und daß rechts und links vom Thale, das manchmal nur die Breite des Trisannabettes hat, mächtige Berge sich himmelhoch emporthürmen, dann kann man sich auch alle Fährlichkeiten vergegenwärtigen, welche ein solches Thal heimzusuchen pflegen. Wer aber noch keine Vorstellung von den Mühseligkeiten des Lebens in den Bergen oder von der Vorsicht hat, welche man gebrauchen muß, der mag sich von dem rührigen Postmeister in Ischgl in den Abendstunden bei einem Glas trefflichen Tirolerweins davon erzählen lassen. Aber trotz aller Vorsicht können nicht alle Unglücksfälle verhütet werden. Im menschlichen Leben geht es indeß so: von dem Unglück der Einen leben die Andern. So hat auch im Paznaun das Unglück eine eigenartige Kunst, freilich in der primitivsten Form, hervorgerufen, deren Vertreter der Tuifele-Maler ist. Einen solchen Kollegen, eine Charakterfigur des Thales, hat Mathias Schmied gezeichnet, wie er gerade mit den Werken seiner Kunst hinauswandert, um sie abzuliefern (vergl. S. 33). Reich, das sieht man ihm an, macht seine Kunst nicht, und kostbare Leistungen sind seine Werke auch nicht; aber er ist mit seinem Erwerbe zufrieden, denn er hat Absatz. Es sind zum Theil „Marteln“, welche an ein Unglück erinnern oder sich mit dem Jenseits beschäftigen, indem der Tuifele-Maler in der bekannten drastischen Weise „die armen Seelen im Fegfeuer“ anschaulich macht, um die Vorübergehenden sowohl zum Gebete für dieselben zu veranlassen, wie an ihr eigenes Seelenheil zu erinnern. Es kommt mir vor, wie wenn dieses Bild von einem eigenartigen Humor durchhaucht wäre. Und es kann in der That nicht anders sein. Ist es doch schon in hohem Grade drollig, wenn eine Geisterhand einen Tuifele-Maler sich zum Gegenstande nimmt und so vollendete Kunst und die Leistung eines Dorfpfuschers zugleich zur Darstellung bringt. Der Kontrast springt in die Augen und muß nothwendig erheiternd wirken. Hoffentlich ist aber der Tuifele-Maler kein verkanntes Genie, der es Mathias Schmid verübelt, seine bescheidene Wirksamkeit der großen Welt enthüllt zu haben, sondern freut sich herzlich, daß ihm dieses Glück widerfahren ist. Für die Paznauner ist auch er ein Bedürfniß und füllt seine Stelle aus. Ihr Thal kann wohl grosse Künstler hervorbringen, aber nicht beschäftigen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_031.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2023)