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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Hände vor das Gesicht – sonst lag sie geduldig, wie es ihre Art war, und allein, und Niemand hörte ihr Husten und ihr banges Athmen.

Es schüttelte sie wie im Fieber; sie kannte den Husten und die Rosen auf den Wangen der schlanken Frau, schon lange hatte man gefürchtet für sie. Wäre es denn möglich? Und so rasch, so rasch? Nein, es konnte, es durfte nicht sein! – Sie sprang empor, zündete Licht an und holte den kleinen Reisekoffer aus einem Winkel hervor. Sie hatte keinen anderen Gedanken als den:

Fort! Zu ihr, die sie gehegt und gepflegt wie ihr eigenes Kind!

Da ging die Thür auf und Hortense kam herein. „Was willst Du thun?“ fragte sie unsicher.

„Zu Mathilde! Ich sagte Dir ja, Mathilde ist krank.“

„Ist es denn so schlimm?“

„Ich fürchte es.“

„Du willst mich allein lassen – hier – jetzt?“

„Geh zu Deinem Großvater so lange, Hortense, was thust Du hier? Es ist –“

„Nein! Und tausendmal nein!“ rief die junge Frau außer sich, „ich gehe nicht!“

Lucie packte eben ein Morgenkleid in die Tasche. Sie hielt inne und sah erschreckt in das blasse Gesicht der Freundin. Hortense wich dem Blick aus und wandte ihr langsam den Rücken, als wollte sie gehen.

„Sei nicht so furchtbar hart!“ rief Lucie ihr nach.

Hortense kam zurück. „Lucie,“ sagte sie und kniete vor ihr nieder, „in einigen Tagen heirathet Wilken, hier in Dresden, in diesem Hôtel feiert er seine Hochzeit – Du kannst mich nicht allein lassen, Du kannst nicht!“ Sie hatte das Gesicht in den Schoß des Mädchens geborgen, ihr ganzer Körper bebte. „Du weißt ja nicht,“ murmelte sie, „Du weißt ja nicht, wie es aussieht in mir.“

„Komm mit, Hortense,“ sagte Lucie ergriffen, beugte sich zu ihr hernieder und streichelte ihr Haar, „wir haben ein hübsches Logirstübchen in der Oberförsterei, es ist so still und heimlich dort – das wird Dir gut thun. Du kannst, Du darfst nicht hier bleiben!“

Hortense sprang empor. „Ich gehe nicht! Willst Du mich denn gar nicht verstehen?“ rief sie außer sich. „So geh’ Du und laß mich allein an diesen schwersten Tagen meines Lebens; mag werden was da will.“

„Halt ein, Hortense!“ schrie das Mädchen angstvoll, „ich bleibe bei Dir.“

Ihr war so bange. Sie kannte dieses Zucken der Lippen, diese großen verstörten Augen, sie meinte auch den süßen schrecklichen Geruch von Chloroform zu spüren. Und wieder kam Hortense zu ihr zurück und hing an ihrem Halse. „Du konntest auch nicht fort, Lucie, Du konntest nicht!“ rief sie. Und als das Mädchen schwieg, sprach sie hastig weiter, sie auf ihren Schoß ziehend. „Wie, wenn Du nun verheirathet wärst? Du hättest vielleicht ein krankes Kind – dann könntest Du doch auch nicht zu Deiner Schwester, und wäre die Gefahr noch viel tausendmal größer. Denke, ich wäre Dein Kind, Lucie! Sieh doch nicht so an mir vorüber, wir stehen uns doch am nächsten in der Welt, Du weißt es ja. Und ist nicht ein seelisches Leiden genau so traurig, so schwer wie die Krankheit des Körpers? Und in der Krise wolltest Du mich verlassen?“

Es klang so ergreifend.

Lucie schmiegte ihren Kopf an die Schulter der jungen Frau. „Vergieb mir,“ weinte sie, „und versprich mir –“

„In acht Tagen reisen wir, Liebling, ich verspreche es Dir! Ich selbst bringe Dich zu Deiner Schwester.“ Sie küßte das Mädchen auf die Stirn. „Mein guter Engel!“ sagte sie dabei.

Sie schliefen Beide nicht in dieser Nacht, blaß und verwacht fanden sie sich am andern Morgen beim Frühstück. Lucie schrieb dann an ihre Schwester, aber es wurde nicht so, wie sie wollte, denn wenn sie ihrer Angst Ausdruck gab, so fragte sie sich: „Und Du sitzest noch hier?“ Sie zwang sich, ruhiger zu scheinen, aber in Wirklichkeit preßte die Sorge ihr fast das Herz ab. Als der Brief fertig, da war er ein sonderbares Schriftstück geworden, es klang wie lauter Phrase.

Nur am Schluß stand: „So Gott will, bin ich in acht Tagen bei Dir.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Todtenbeschwörung.
Von Rudolf Kleinpaul.

Wenn wir zu Johannis oder am Allerseelentage auf den Friedhof gehen und das Grab einer Person besuchen, die uns im Leben theuer gewesen ist, so thun wir es nicht, ohne einen Kranz und Blumen, mitunter im Ueberflusse, mitzunehmen, und wenn uns gesagt wird, daß der reiche Blumenschmuck mehr um der Lebenden als um der Todten willen da ist, welche Letzteren nichts davon haben, so schütteln wir den Kopf, denn wir mögen von dem Glauben nicht ablassen, noch in einer gewissen Verbindung mit den Abgeschiedenen zu stehen, sie besuchen und ihnen etwas mitbringen zu können. Reiner und seliger, wie man zu sagen pflegt, verklärt, scheinen sie aus höheren Regionen auf uns herabzusehen und uns mit ihrem lichten und himmlischen Einfluß fort und fort zu leiten und zu segnen, aber an der Stätte, wo ihre irdischen Reste ruhen, sind sie uns vorzugsweise nahe, auf den grünen Hügeln schwebt es mit lautlosem Flügelschlag um uns wie ein Nachtvogel oder wie ein grauer Abendfalter. Das ist der Schatten oder der Geist des Verstorbenen, der gleichsam sein Bild lebendig erhält, nachdem er selbst erstarrt und als Leiche ein überirdisches, grauenvolles, verhülltes Wesen geworden ist, das Schauer erregt – es ist die unsterbliche Seele, die den Leib wie ein Gefängniß verlassen hat. Seele, was heißt Seele? Aller höheren Psychologie zum Trotze ist die Psyche für uns nichts weiter, als ein Gespenst, das bei Lebzeiten in der zerbrechlichen Hülle des Körpers spukt und das, nachdem die Hülle eingefallen, außerhalb derselben umgeht.

So haben die Menschen allezeit gedacht: die Mehrzahl bleibt immer in der Kindheit, und gewisse Irrthümer scheinen zur Natur des menschlichen Geistes zu gehören. Der Verkehr mit den Abgeschiedenen war bei den alten Griechen und Römern gerade so wie bei uns, nur noch materieller. Auch die Alten hatten ihre Allerseelentage und ihre Todtenfeste, an denen sie die Gräber ihrer Lieben besuchten, mit Guirlanden bekränzten und mit Lampen erleuchteten; aber mit diesen dürftigen Liebeszeichen begnügten sie sich nicht; sie erwiesen den Manen eine solidere Pietät. Sie brachten ihnen auch zu essen und zu trinken, als ob sie das noch im Stande gewesen wären – namentlich zu trinken; denn feste Speisen konnten die Schatten allerdings nicht mehr gut zu sich nehmen. Man setzte ihnen also Mehl, Oel, Milch, Honig, Wein und das frische Blut von Opferthieren vor, die man ihnen zu Ehren schlachtete, zum Beispiel das Blut eines schwarzen Schafes oder einer unfruchtbaren Kuh, zugleich machte man ihnen noch andere Geschenke. Das Todtenfest der alten Römer, an welchem allgemein Speisen auf die Gräber getragen wurden, war die Cara Cognatio, das heißt, die Liebe Verwandtschaft, sie fiel auf Ende Februar, denn der Februar galt bis zu Cäsar’s Kalenderreform für den letzten Monat des Jahres, und das Todtenfest beschloß das heidnische Jahr, wie unser Todtensonntag oder das katholische Allerseelenfest das Kirchenjahr beschließt. Die Cara Cognatio dauerte bis tief in die christliche Zeit hinein und wollte sich durchaus nicht ausrotten lassen. Die Kirche wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie wie so oft das heidnische Fest in ein christliches verwandelte: aus den Todtenmahlen wurden Liebesmahle zu Ehren des Apostelfürsten, und es entstand das Fest Petri Stuhlfeier, welches am 22. Februar gefeiert wird.

Weßhalb aber eiferte die Kirche gerade gegen dieses unschuldige Fest, das der natürlichen Pietät gegen die Verstorbenen entsprang? Weil viel heidnischer Zauber damit verbunden war. Solcher Zauber mußte sich bei dem Kultus der Todten leicht einschleichen. Da man sich einmal in Verbindung mit Wesen fühlte, die man für weise und für prophetisch ansah, da man in der Lage war, sie zu beschenken und einzuladen, so kam man auf den Gedanken,

sich diese Annäherung zu nutze zu machen und die Geister wie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_120.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)