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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


alten schönen Dame in Straßentoilette, deren Züge den seinen glichen. Im Vorbeigehen hörte Lucie, wie er „Mutter“ zu ihr sagte. Ein unendliches Mitleid ergriff sie, sie flog die Treppe hinan und zu Hortense, welcher sie weinend um den Hals fiel.

Der Tag verging. Gegen Abend erhob sich die junge Frau, es war doch noch ein Brief gekommen, aber von Mademoiselle. Ein kleiner Brief mit Wappensiegel und ausländischer Marke war eingelegt. „Von meinem Vater!“ sagte Hortense und schob ihn zurück. Sie überflog das französische Gekritzel Mademoiselles. „Es ist Alles beim Alten, sie spielen Schach und die Pferde sind gesund,“ sprach sie und begann den andern Brief ungelesen mit einer Schere in tausend kleine Stücke zu zerschneiden.

Lucie blickte sinnend hinaus auf den schönen Platz. der im Duft der Abendsonne vor ihr lag. Die zahlreichen Statuen der Hofkirche waren wie in rothes Gold getaucht. Ueber den durchbrochenen Thürmen der evangelischen Kirche, die sich wie Spitzengrund von dem stahlblauen Himmel abhob, stand scharf die Mondsichel. Im Theater brannten die Lampen und die letzten Besucher schritten eilig den Portalen zu. Die Luft war erfüllt von dem Duft, den der Westwind aus Gärten und Anlagen herübertrug.

Nun rasselte eine elegante Equipage über das Pflaster, Lucie sah hinunter, als der Wagen vor dem Portal hielt. Wilken in Uniform half seiner Braut beim Aussteigen, die Eltern folgten. Das junge Mädchen im rosa Seidenkleide trug ihre blonden Zöpfe heute aufgesteckt und hielt ein Rosenbouquett in der Hand. Lucie schreckte empor, Hortense hatte plötzlich neben ihr gestanden.

„Soll ich Dir vorlesen?“ fragte sie; „ich sehe eben die Tauben über der Hofkirche in den Abendhimmel flattern, ich mußte an Venedig denken. Weißt Du noch, wie wir dort ‚Childe Harold‘ lasen und den ‚Kaufmann von Venedig‘?“

In diesem Moment klopfte es, der Kellner meldete Herrn Weber. Hortense nickte bejahend.

„Ich hatte gar nicht erwartet, daß ich Gnade finden würde vor Ihren Augen,“ sagte er scherzend zu Hortense, „ich hörte mit Bedauern, Sie seien krank, gnädige Frau, und wollte mich bei Fräulein Walter nach Ihrem Befinden erkundigen. Ich danke herzlich,“ sagte er, den Sessel ablehnend, den die junge Frau ihm bot, „ich will durchaus nicht stören, ich sehe, daß Sie noch leiden, Sie sind blaß. Ich beklage nur lebhaft, daß dieses Zauberfest da unten Ihnen die Nachtruhe stören wird. Es ist unglaublich, daß Leute, die eine so schöne Wohnung besitzen wie der alte Herr von Norbert, im Hôtel Familienfeste feiern.“

Hortense, die sich wieder in den Fanteuil gesetzt hatte, fragte: „Kennen Sie die Herrschaften?“

„Flüchtig, sie haben ein Gut in der Nähe meiner Besitzung. Ich bin im Klub mit ihm zusammengetroffen und auch einmal im landwirthschaftlichen Verein. Er ist ein wunderlicher Heiliger, aber ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, alle Achtung vor seinen Lebensanschauungen. Die Damen kenne ich freilich gar nicht,“ fügte er noch hinzu. „ich weiß nur, daß Marie von Norbert als ein wohlerzogenes gutes Kind gerühmt wird. Aber verzeihen Sie, gnädige Frau, Sie sehen wirklich krank aus, wollen Sie nicht den Arzt –“

Hortense schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie mich heute Abend –“

Er empfahl sich mit besorgter Miene.

„Es ist eine schwüle Luft,“ sagte er leise zu dem jungen Mädchen, „ich meine, wir werden über Nacht ein Gewitter haben.“

Hortense saß, den Kopf an das Polster gelegt, ohne ein Wort zu sprechen. Es war still in dem Zimmer und so schwül. Dann schreckte sie empor, die ersten Laute des Hochzeitsmarsches aus „Lohengrin“ drangen jubelnd herauf.

„Ich glaube, in meiner Stube wird es ruhiger sein,“ sprach Lucie.

„Laß mich!“

Das Mädchen setzte sich stumm ihr gegenüber. Die wundervollen Klänge wogten durch das Gemach, dann ward es still, und nun hob die Musik wieder an. Ein Walzer! Jetzt hat er seine Braut im Arm und fliegt mit ihr durch den Saal, und diese Braut hat einen Vater, der ist ein Ehrenmann, dachte Lucie. Arme, arme Hortense!

„Eine Depesche für Fräulein Walter!“ rief der Kellner, dessen Klopfen überhört worden war, reichte Lucie das kleine gefaltete Papier, zündete eilig eine Kerze an und verschwand.

„An mich?“ sagte das Mädchen tonlos. Sie wußte, was es war, ohne daß sie gelesen. Die Hände, welche die Oblate öffneten, zitterten, und als sie hineingeschaut, stand sie still, das Haupt tief gesenkt, als habe sie einen Schlag empfangen.

„Was denn?“ fragte Hortense und kam herüber. Sie nahm das Papier aus der schlaff herabhängenden Hand. „Mathilde heute Mittag sanft entschlafen. Georg“, las sie.

Sie wagte nicht. Lucie anzusehen, still legte sie das Blatt auf den Tisch. Die Musik unten war verstummt, man hörte nur das bange thränenlose Schluchzen des Mädchens. Dann raffte Lucie sich empor, eilte in ihr Zimmer und kam mit Hut und Mantel zurück.

Hortettse faßte sie am Arm. „Was willst Du thun?“

„Fort will ich!“ war die Antwort.

„In dieser Nacht noch? Ich beschwöre Dich. Lucie. Du kannst nicht reisen, Du bist furchtbar erregt. Geh’ erst morgen!“

Lucie band, ohne zu antworten, die Schleife des Regenmantels um die Taille.

„Sei doch vernünftig, Lucie; Du kannst ja nicht mehr helfen, Du kommst morgen noch früh genug, Du –“ Aber sie schwieg betroffen, so zornig trat das Mädchen auf sie zu.

„Du!“ kam es von den bebenden Lippen, „versuche es nicht noch einmal, mich von meiner Pflicht abzuhalten! Um ihr letztes Wort hast Du mich betrogen, Du –!“ Sie stockte, nach Athem ringend, und wandte sich um. Auf dem Tische lagen Handschuhe und Schleier, sie riß sie an sich und ging zur Thür hinüber.

Hortense stand unbeweglich auf der nämlichen Stelle. „Lucie!“ rief sie. Das Mädchen hielt ein und schaute zurück.

„Ich habe Angst um Dich, so allein.“ sprach Hortense.

Lucie sah sie an mit verstörten Augen. „Angst? Warum kommst Du nicht mit?“

„Weil – weil wir unser Ziel diese Nacht doch nicht erreichen würden; ich weiß es genau, der Zug hat keinen Anschluß. Morgen, Lucie – bleibe hier!“

Das Mädchen stand zögernd. Aber dann trat ein stilles blasses Antlitz vor ihre Seele, das lag, als ob es schliefe. „Ich muß fort!“ sagte sie. „halte mich nicht, ich kann nicht bleiben!“ Und im nächsten Augenblick schlug die Thür hinter ihr zu.




Lucie wußte selbst kaum, wie sie auf den Bahnhof und in das Koupé kam, und wie die Nacht verging und die drei Stunden des Wartens auf der kleinen Station, wo sich die Bahnstrecke ihrer Heimath von der großen Linie trennt. Sie hatte nur einen Gedanken, den einer bittern Reue, sie sah nur ein Bild vor sich: das waren die Augen Mathildens, wie sie in Thränen schwammen vor Sehnsucht nach der jungen Schwester, die da draußen in dem schönen glänzenden Leben ihrer vergessen hatte.

Als der Zug endlich vor dem Perron stand, dämmerte eben der Morgen herauf. Fröstelnd stieg sie in das leere Koupé und starrte in den Dunst des trüben Junimorgens, der erst nach und nach einen lichteren Schein annahm. Sie kannte die Gegend, die sie durchfuhr, die umnebelten Berge dort hinten, die Ausläufer des Harzes, und die Dörfer, die noch im Morgenschlummer ruhten. Die Wolken im Osten wurden allmählich durchsichtiger, aber die Sonne vermochte sie nicht zu zerstreuen, und endlich begann es zu regnen, ein leiser feiner Regen, der die ganze Gegend in graue dichte Schleier hüllte. Auf den kleinen Haltestellen, die der Zug gewissenhaft einhielt, stiegen Bauerweiber ein mit Marktkörben, hier und da ein paar Herren, die ebenfalls nach der Kreisstadt wollten, einige Augenblicke drängten sich Regenschirme und Kiepen durch einander; dann ward es wieder still, und der Zug ging weiter. Auf dem Bahnhofe der Stadt war schon mehr Gedränge, auch gab es längeren Aufenthalt. Wie im Traum hörte sie das Getriebe der Menschen und den Regen, der einförmig auf die Dächer der Wagenreihe schlug.

Dann sprang sie empor und ließ das Fenster herunter. Durch die Menge schob sich ein Kind, ein ohngefähr zwölfjähriger Knabe, das schmale Gesicht unter der weißblauen Gymnasiastenmütze hatte einen eigenartigen Ausdruck von Wichtigkeit und Trauer.

„Konrad!“ rief das Mädchen; „Konrad!“ Der Kleine stutzte und kam herüber. „Steig’ ein!“ sagte Lucie. „willst Du nach Hause?“

Er hatte die Mütze abgenommen und nickte. Aber er wies auch zugleich sein Billett. „Ich muß ja die Dritte,“ sagte er.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_134.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)