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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

sich zur Faust; eine zweite Enttäuschung würde er nicht ertragen. Vorbei für immer! Was sind Worte, ihre Worte gar? Er brauchte nur an die Kinder im Forsthause zu denken, die Abends mit großen furchtsamen Augen in ihren Bettchen lagen und um die todte Mutter weinten, an den verlassenen Platz vor dem Nähtischchen Frau Mathildens. Fort, vorüber!

Er richtete sich auf und trat plötzlich in den Speisesaal, so ruhig und gemessen, als habe kein heißer Gedanke sein Herz klopfen gemacht, über das weiße schlanke Mädchen streifte sein Blick kühl und gleichgültig. Er nahm Platz zwischen den Herren, die sich eine Cigarre angezündet hatten, und schien es nicht zu bemerken, daß Lucie den Saal verließ, zu Mademoiselles größtem Aerger, die sich als einzelne Dame ungemüthlich zu fühlen begann und wider Willen ihr folgen mußte. Sie konnte ihrem Unmuth nicht einmal Worte verleihen: Lucie verschwand schon oben im Dunkel des Korridors.

Sie ging in die Zimmer der jungen Frau; sie waren leer, die Bewohnerin hatte sie verlassen für immer. Die Dämmerung des Sommerabends webte schon in den tiefen Ecken; ein starker Duft von welkenden Rosen und Orangeblüthen drang betäubend auf sie ein. Auf dem Sessel lag noch das feuchtgeweinte Taschentuch von Hortense, dort über der Chaise longue, gespensterhaft anzuschauen, das eilig abgeworfene Brautkleid. die weißen Atlasschuhe, es hatte noch Niemand aufgeräumt, nachdem sie hinausgegangen; es war so still, so unheimlich still in den beiden Gemächern. Eine namenlose Angst packte das Mädchen – wenn sie Hortense nicht wiedersehen sollte, wenn sie ihre Liebe verlieren könnte! Dann hatte sie nichts mehr, nichts weiter auf der Welt. „Hortense, verlaß mich nicht!“ flüsterte sie und preßte die Hände in einander, „verlaß mich nicht,“ wiederholte sie, als könnte die junge Frau sie hören.

Sie saß dann in ihrer Stube am offenen Fenster und schaute in den dämmerigen Garten hinunter, den die Centifolien durchdufteten. „Verlaß mich nicht, bleibe mir gut; ich habe Niemand weiter als Dich, Hortense, Niemand weiter!“

Im Speisesaal unter ihr mochten jetzt die Fenster geöffnet sein. Sprechen und Lachen scholl herauf, man saß noch beim Glase Bier. Lucie unterschied deutlich eine tiefe, wohlbekannte Stimme. Von drüben her tönte eine Harmonika über die Gärten, und eine Altstimme sang dazu ein altes, schwermüthiges Lied:

„Er hat’s mir oft gesagt,
Wenn ich ihn hab’ geplagt:
Du wirst noch manchmal, manchmal um mich weinen.“

Hastig schloß sie das Fenster und legte den Kopf gegen die hohe Lehne des Stuhles; langsam rannen die Thränen über ihre blassen Wangen.




Mademoiselle hatte keine Ruhe im Hause. Sie nahm ein Tuch um und ging durch die dunklen Straßen zu Fräulein Dettchen, sie mußte Jemand haben, dem sie ihr Herz ausschütten konnte über die Ereignisse des festlichen Tages.

Die alte Dame saß im Garten, in der Laube und wartete auf ihren Neffen. Sie hatte den Abendimbiß zurecht gestellt und strickte nun im Finstern. Kein Lüftchen regte sich; nur das Wasser gluckste und murmelte leise, das hinter der Laube vorüber zog.

Mademoiselle war ganz echauffirt; sie küßte erregt das kleine rundliche Fräulein auf die Wangen und setzte sich athemlos auf die Bank. „O mon dieu, nun ist’s vorüber, sie sind fort! Es war ein anstrengender Tag.“ Und ohne Tante Dettchen zu Worte kommen zu lassen, schilderte sie in den glänzendsten Farben die Braut, die Geschenke, das Menu und schließlich auch den Unfall, welcher den Baron betroffen. „Ihr Neffe, Liebste, ist noch da, die Herren nahmen eben ein Glas Bier; Lucie –“

Ein schrilles Klingeln an der Pforte unterbrach sie; Tante Dettchen, die den Weg entlang geeilt war, kam mit einer langen Gestalt an ihrer Seite zurück.

„Erlauben Sie, Mademoiselle,“ sprach sie in die finstere Laube hinein, „meine Schwägerin, Frau Steuerräthin Adler.“

Die Damen verbeugten sich und Frau Adler tastete nach einem Sitz. „Es ist doch unerhört, daß diese alte Schachtel spät Abends noch die Leute überfällt,“ dachte sie und holte das Strickzeug aus der Tasche. Eine Weile hörte man weiter nichts, als das Klappern der Nadeln unter den Clematisblättern.

„Selma kommt nach,“ begann endlich die Frau Steuerräthin, „sie ist nur zu Bäcker Schulzens gegangen, um Kirschkuchen zu holen, wir haben nämlich noch kein Abendbrot gegessen, waren spazieren und hielten uns etwas lange auf.“

Sie verschwieg, daß sie mit Fräulein Selma zwei Stunden lang auf dem Bahnhofe gesessen bei einem Glase Bayerisch, um „ganz zufällig“ mit anzusehen. wie Herr Weber und seine junge Frau in das Koupé stiegen. Da die Trauung nicht in der Kirche stattfand, mußte sie sich auf andere Weise überzeugen, daß wirklich diese Hortense verheirathet sei. Und nun galt es noch zu erfahren, was aus Lucie würde.

„Ist Alfred nicht zu Hause?“ fragte sie jetzt.

„Er ist noch beim Herrn Baron, welcher einen leichten Anfall hatte, sich aber bereits wieder besser befindet, ich erzählte es eben,“ tönte Mademoiselles Stimme.

„Da kommt er ja,“ bemerkte Dettchen.

Das Gitterthor fiel eben ins Schloß und den Weg herauf klang ein fester Schritt.

„Alfred!“ rief die Mutter, „hier – in der Laube!“

Er kam herüber und blieb am Eingange stehen.

„Das Thor offen?“ fragte er, nachdem er guten Abend geboten.

„Selma kommt noch.“

„Ah so!“ Er machte Miene zu gehen.

„Alfred, bleib’ doch! Man sieht Dich so selten.“ bat die Mutter und rückte etwas herauf, „so, ich habe Dir Platz gemacht, setze Dich einen Moment.“

Er that es auch wirklich. Mademoiselle sah nur die dunklen Umrisse seiner Gestalt und das leuchtende Pünktchen der Cigarre.

„Da wird es wohl sehr still werden in Ihrem Hause?“ nahm Frau Steuerräthin endlich das Wort, nach der Richtung sprechend, wo Mademoiselle saß.

„Bei uns? O entsetzlich!“ antwortete diese, „zumal Fräulein Walter –“

„Sie hier, Mademoiselle?“ fragte Adler erstaunt.

Mais oui! Ich kam, um mit Fräulein Dettchen zu plaudern.“

„Ah, deßhalb haben wir Sie auch vergebens gesucht. Herr Weber, der eben nach Hamburg zurückreist, wollte sich von den Damen verabschieden; wir glaubten schließlich, als auf das Klopfen keine Antwort erfolgte, Sie schliefen oder stellten sich schlafend. Er läßt sich Ihnen angelegentlich empfehlen. Eben bringt ihn der Major von Schenk in seiner Equipage zum Bahnhof.“

„O, ich bedaure herzlich! Aber Lucie – Fräulein Walter – sie war doch oben! Vermuthlich hat sie sich eingeschlossen und weint Abschiedsthränen.“

„Vermuthlich,“ sagte er.

„Fräulein Walter geht nun wohl nach Bornrode zu ihrem Schwager?“ erkundigte sich Frau Steuerräthin. Endlich war sie im richtigen Fahrwasser.

Quelle idée!“ rief Mademoiselle, „sie wird mit Hortense in Woltersdorf leben; so war es von Anfang an bestimmt; sie haben nicht daran gedacht, sich zu trennen.“

Keiner sprach ein Wort in den nächsten Minuten.

„Und das läßt er sich gefallen?“ fragte endlich die Mutter.

„Er?“ betonte Mademoiselle mit erhobener Stimme.

„Nun, Herr Weber.“

„Ah so! Aber wie soll ich das verstehen, Madame?“

„Ich meine, Mann und Frau haben an einander genug, und ein Dritter ist da überflüssig. Wenn die Frau den Mann lieb hat, so kann man eine Freundin entbehren.“

„Sie vergessen, daß es sich nicht um kleinbürgerliche Verhältnisse handelt, meine Beste,“ unterbrach Mademoiselle scharf, „Schloß Woltersdorf ist groß genug, um beiden Theilen neben der Freude des Beisammenseins völlige Freiheit zu gewähren. Und außerdem ist Madame in der Lage, sich eine Gesellschaftsdame zu gestatten.“

„Ach so! Das ist freilich etwas Anderes, die kann man hinausweisen, wenn sie lästig wird. Ich dachte, Fräulein Walter sei ihre Freundin?“

„Das ist sie auch, Madame, und zwar eine treue Freundin; sie werden ein beneidenswerthes Leben führen,“ gab Mademoiselle zurück, empört von der Art und Weise, wie man sie ausfragte.

Aber Frau Steuerräthin blieb kühl; sie sprach nur ein paar Worte, deren Sinn Mademoiselle nicht verstand. „Warte ab, sagt Tuckermann.“

„Wie?“

„Man soll den Flegel nicht früher aufhängen, ehe das Korn gedroschen ist, und den Tag nicht vor dem Abend loben.“

„Aber ich verstehe Sie nicht.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_186.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)