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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Herzenskrisen.

Roman von0 W. Heimburg
(Fortsetzung.)

In Hohenberg kam Lucie am andern Morgen an. Ein leichter Herbstnebel hing über der weiten Landschaft, undeutlich schimmerten die Thürme und Häuser der Stadt daraus hervor. Sie hatte kein Herzklopfen, als der Zug in den kleinen Bahnhof einfuhr, wie damals, als sie ihrem Glücke entgegen zu eilen vermeinte, auch nicht das peinliche Gefühl, wie bei der zweiten Ankunft, sie stand ruhig und müde am Fenster des Koupés und reichte Peter, der sie mit freundlichem Gesichte empfing, ernst nickend ihr kleines Reisegepäck zu. Die Woltersdorfer hatten wohl telegraphirt, daß sie ankomme. Die dicken Schimmel mit dem Landauer hielten vor dem Bahnhofe, sie stieg ein und fuhr durch die morgenstillen Gassen.

Frau Steuerräthin klopfte eben ein Wischtuch am offenen Fenster aus und sah verwundert ein wohlbekanntes blasses Gesichtchen in dem Wagen. „Da haben wir’s ja,“ murmelte sie vor sich hin, „und nun kommt das wieder hierher!“ Verdrießlich trat sie zurück und erschlug einen Brummer an der Gardine mit dem Tuch. „Unnützes Zeugs! Was sie hier nur will? – Die Frau Hortense wird wohl schon dahinter gekommen sein, was für eine Last sie sich und ihrer Familie aufgepackt hat mit solcher Freundschaft.“

In der Thür des Meerfeldt’schen Hauses stand Mademoiselle mit ausgebreiteten Armen.

O quel bonheur, Lucie!“ rief sie, „Gott segne es Ihnen! Es war absolument nicht mehr zu ertragen hier!“

Sie drückte die schlanke Gestalt an sich und liebkosend zog sie das Mädchen in ihr Zimmer. Sie ließ sie kaum zu Worte kommen, die ganze Leidensgeschichte des Barons, der unerhörte Schreck, als man ihn bewußtlos gefunden, seine Wuthanfälle, wenn er sich nicht verständlich machen konnte: Alles floß in unaufhaltsamem Redestrom in Luciens Ohr, während sie ohne Appetit vor dem heißen Kaffee saß und ihre schmerzenden Schläfen mit dem Tuche hielt.

„Die Nachtfahrt, ma petite! Ja freilich, das macht Kopfweh. Wie geht’s Hortense?“ 0, ich kann mir denken, wie verzweifelt sie über Ihren Weggang –. Zürnen Sie nur nicht, ich kam auf die Idee, Sie zu bitten, unsere barmherzige Schwester, unser Engel des Trostes zu werden. Sie haben so eine eigene Art, so leicht, so zart, und ich bin so ungeschickt, ich kann mich nicht drehen und wenden, nicht bücken. Kommen Sie, der Baron wartet mit Ungeduld.“

Lucie ging hinüber zu dem alten Herrn. Er lag in einem fahrbaren Krankenstuhl.

„Lucie, mein Kind,“ lallte er, „wollen Sie bei mir bleiben? Alter Krüppel geworden –. Danke Ihnen, Lucie,“ er zog ritterlich die kleine Hand an seine Lippen; „dankbar,“ stammelte er, „dankbar übers Grab hinaus.“

Sie setzte sich zu ihm und erzählte von Hortense, daß sie glücklich sei, von ihrer schönen Heimath, von ihrem Gatten, der sie auf Händen trage.

„Ehrenmann! Prächtiger Mann!“ sagte der alte Herr, und ein freudiger Strahl brach aus seinen Augen.

Als Doktor Adler, wie gewöhnlich seinen Krankenbesuch bei dem Baron machend, in das Zimmer trat, verschwand eben eine schlanke schwarze Gestalt hinter den Vorhängen der gegenüberliegenden Thür. Er blickte ihr befremdet nach.

„Doktor! Giebt noch Engel in der Welt, Kleine gekommen, mich zu pflegen. Bin so dankbar! Armes Kind! Schlechtes Vergnügen, einen Halbtodten zu versorgen!“

Adler’s Miene blieb finster. „Wie geht es Ihnen?“ fragte er dann, sich setzend und in gewohnter Weise seine Untersuchung des Kranken beginnend.




In ihrem alten Zimmer oben stand Lucie und blickte sich um; Alles unverändert. Dort lag der stille Garten vor den Fenstern, in den gelbseidenen Gardinen des Himmelbettes fand sie jeden Bruch, jede Falte wieder. Auf der Kommode aber prangte ein Strauß von Georginen und Astern und ein paar späten Rosen, die sich dazwischen sehr gedrückt zu fühlen schienen. Den hatte wahrscheinlich Mademoiselle hingestellt.

Eine furchtbare Müdigkeit überkam sie nach den zwei durchwachten Nächten, sie legte sich auf das Bett und schlief einen bleiernen Schlaf, der nicht erquickt, wie er nach großer Abspannung einzutreten pflegt. Erschöpft wachte sie auf, trocknete die feuchten Perlen von ihrer Stirn und begann ihr Tagewerk.

Bald lebte sie sich ein in die neuen Pflichten; es waren ihrer nicht viele, aber unendliche Geduld beanspruchten sie bei dem Kranken, dessen Sprache sie allein recht verstand. Und nun folgten sich die Tage in öder Einförmigkeit, die Stunden jedes einzelnen glichen sich genau in ihrer Wiederholung; wie eine aufgezogene Uhr spann sich das Leben ab. Es ist schlimm, wenn ein junges Herz den Schlaf herbeisehnt, um den Tag zu vergessen, der ihm nichts weiter bringt als Arbeit und Gram, schlimm, wenn es Morgens das Erwachen wie einen Schmerz empfindet und mit umflorten Augen in den goldigsten Sonnenglanz schaut, als wäre es ein grauer Regenhimmel. „Schon wieder ein Tag? Wäre er vorüber! Was soll ich noch auf der Welt, wozu lebe ich?“

Und Lucie stand vor dem Spiegel und wand ihr blondes Haar zu einem Knoten wie jeden Morgen, und wie jeden Morgen ging sie hinunter zu dem alten Baron und fragte, wie er geschlafen? und las ihm die Zeitung vor. Und jeden Morgen winkte Mademoiselle sie in ihr Zimmer und plauderte mit ihr über die kleinlichen Vorkommnisse des Städtchens. Und Mittags saßen sie sich gegenüber in dem großen kühlen Speisezimmer, und Peter brachte die Suppe, die Lucie vorlegte, und dann den Braten, den sie zerschnitt. Nachmittags hielt mit gewissenhafter Pünktlichkeit der Wagen vor der Thür, und nach der Uhr gemessen fuhren die Damen eine und eine halbe Stunde spazieren, immer den nämlichen Weg zum Wasserthor hinaus. Mademoiselle that es nicht anders, nach dieser Seite war keine Bahnlinie zu passiren, und Schienen, die den Weg kreuzten, machten sie stets nervös. Die dicken Schimmel kannten genau den Fleck, an dem umgewendet wurde, sie wandten jedesmal, ohne den Wink des Kutschers abzuwarten, und trabten in einem ein klein wenig schnelleren Tempo der Heimath zu.

Dann kam das Allerschrecklichste, die Zeit der Einsamkeit droben in ihrem Zimmer. Lucie konnte dort stundenlang sitzen, ohne sich zu rühren. Die kleinen Hände, die früher so fleißig gewesen am Nähtisch, lagen müde im Schoß, die Augen blickten in den stillen Garten hinaus, ohne etwas zu sehen. Zuweilen holte sie Bücher, als wollte sie sich Vergessenheit darin erlesen; aber sie hatte Unglück mit der Lektüre: Alles was sie las, verstimmte sie noch mehr. Sie hatte im „Manfred“ geblättert, und die düstere Verzweiflung des Helden schuf ihr eine bange schlummerlose Nacht:

„Es ist ein Wirken in mir, das mich hält
Und Weiterleben mir zum Schicksal macht,
Wenn Leben heißt, so einen öden Geist
In sich herumzutragen.“

Jetzt verstand sie es; hätte sie nie gelernt, es zu verstehen! Wie Recht hatte er!

Ein andermal ergriff sie Chamisso’s Gedichte, und ihre Blicke fielen auf folgende Strophen:

„Ich hätte nicht den reichsten, den schönsten nicht begehrt,
Nur einen, der mich liebe, der meiner Liebe werth,
Ja, keine Prunkgemächer, nur ein bescheiden Haus –“

Und da stand plötzlich neben den schwarzen Buchstaben, wie ein zierliches Aquarell, ein kleines von der Abendsonne beschienenes Haus – das Paradies, das sie verloren, auf ewig verloren durch eigene Schuld!

Sie warf das Buch auf den Tisch und lief in den Garten hinunter, um ihrer schmerzlichen Gedanken Herr zu werden, und dort fand sie sich an der Gartenmauer wieder, wie sie starr zu einem Paar purpurrother, wilder Weinranken aufsah, die vom Nachbargarten herübergeklettert waren. Sie nickten und winkten im Winde, als wollten sie sagen: „Sollten wir Dich nicht kennen, Du blondes Mädchen? Saßest Du nicht auf der Bank unserer Laube im vorigen Jahr mit Deinem Schatz? Damals konnten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_248.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)