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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Huldigung für Lolo gipfeln. Eben, nach einer Pause, während welcher die Finger ein paar großartige Oktaven auf dem Tischtuche griffen, schickte sich der Redner an, seinen Zorn über die ungeheuerliche Tücke des Schicksals auszugießen, die den „erlauchten Bräutigam“ (wie schön das klingt!) aus dem Kreise der Glücklichen bannte und ihn auf dem Schmerzenslager in Ungeduld und Sehnsucht sich winden ließ – da hallten Stimmen vom Ende der Zimmerflucht her. Friedrich huschte, die Champagnerflasche in der Hand, in die Thüröffnung, um nachzusehen, wer hier in solch weihevollem Momente zu stören wagte – gleich darauf aber wich er mit einer plötzlichen sehr bedeutenden Verkleinerung seines linken Auges zur Seite. Dumpfe Tritte näherten sich auf dem Teppich – eine Faust, die einen verzogenen und verpreßten weißen Handschuh umfaßt hielt, schob den herabgebauschten Hang der Portière zur Seite und – da war er!

Wer denn? – Nun, natürlich er – der auf dem Glatteis Verunglückte, der durch die ungeheuerliche Tücke des Schicksals aus dem Kreise der Glücklichen Ausgeschlossene – erstanden von seinem Schmerzenslager! Jedenfalls hatte ihm die Sehnsucht keine Ruhe gelassen …

Mit der harmlosesten Miene seines flaumbedeckten Kugelkopfes stand er da, verwunderter denn je mit seinen runden gewölbten Augen in die Scene hineinguckend. Ein paar Mal blinzelten die Wimpern wie die eines Kindes, das man eben aus dem Schlafe gerissen. Auch die starke Rosaröthe, die das Antlitz bedeckte, konnte von solchem gewaltsam aufgestörtem Schlafe herrühren; der sonst so elegant geschwungene und zugespitzte Schnurrbart war an seinen Enden besenartig zerzaust. Das brünette Habichtsgesicht eines langen Herrn tauchte hinter dem Kugelkopfe auf.

Er –! Allgemeine Erstarrung – sie hatten ihn eben noch in Sehnsucht und Unruhe sich winden sehen, den Aermsten! Da stand er, hergezaubert wie eine Erscheinung, wie heraufbeschworen durch Perkisch’ Redegewalt.

„Famos!“ – Ein sehr ausdrucksvolles, vieldeutiges „Famos“ von dem Filialtische her fuhr in die Stille hinein.

Und der Ausruf löste die Erstarrung. Nun, was ist denn? Er hat sich aufgerafft und den Schmerz verbissen – das, was der Hauptmann von ihm verlangt hatte. Warum saß dieser wie versteinert, das flammenrothe Antlitz mit zornigen Augen auf den Ankömmling gerichtet?

Es ist mehr als die Verstauchung! Er ist, er ist … wir Officiere haben einen Blick für dergleichen – Menschlichkeiten! Die schlaftrunkenen blinzelnden Augen, die Rosaröthe, der struppige Schnurrbart, die ganze widerliche Naivetät der Erscheinung – Teufel, er hätte für diesen Fall doch wegbleiben sollen, er hätte die Verstauchung, wenn überhaupt eine solche stattgefunden, aufrecht erhalten sollen! – Aber keine Moral! Er ist da – die Ehre des Hauses steht in Gefahr – man darf kein Wesen davon machen – man muß die Sache durch Harmlosigkeit zu vertuschen suchen!

Und Walther erhob sich.

„N’Tag, ah, da sind Sie ja, mein lieber Schwager!“ rief er laut. „Sie kommen gerade zum Toast zurecht!“

Perkisch hielt den Kopf in der affektirten Pose des Redners noch immer nach hinten geneigt und seine geöffneten Lippen wiesen die häßlichen, lückenhaften Zähne; die klavierspielenden Finger hielten inne. Jetzt erst wußte er, daß Alles vorbei sei, daß seine Siebentausend wirklich davongerutscht. – Was? Der Mann stolpert ja – aber es ist nicht der verstauchte Fuß – jetzt, wie er die Hand von Frau Belzig fassen will, um sie zu küssen, greift er daneben in die Luft. Verdammt – der Kerl ist ja betrunken! Das war zu viel!

Mit der Betrunkenheit war es doch nicht so schlimm, wie der Hauptmann und Perkisch glaubten. Es kam dazu nur ein hochgradiger Anfall von Verwirrung, die ihn hier in dem lichtdurchflutheten Saale, im Feuer all der Augen und neugierigen Mienen ergriffen.

Frau Belzig klammerte sich ganz verzweifelt an die Grafenkrone. Auch das wird man noch verwinden und vertuschen können! Mit ihrem Spitzenbattisttuche die Spur der Rührungsthränen von vorhin von den hochroth erhitzten Wangen tupfend, erheuchelte sie große Freude: „Welch eine freudige Ueberraschung, daß Sie dennoch gekommen, Herr Graf! Gott sei Dank, daß es doch nicht so schlimm gewesen …“

„Es geht, es geht – danke, danke –“

Er hätte zwei Stunden gebraucht – zwei Stunden hätte er gebraucht – stammelte er. Wozu denn? Es kam nicht heraus.

„Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meinen Freund – Herrn M… vorstelle.“ Ein ausbrummendes M., weiter verstand man nichts.

Man hatte sich erhoben, die Schadenfrohen jauchzten innerlich vor Freude: welch ein herrlicher Skandal!

Herr Belzig stellte den Freund des Grafen vor. „Herr M…“ und das unverständliche Gebrumm.

„Mein Gott! nicht einmal ein von!“ jammerte Frau Belzig in sich hinein. „Ein simpler M!“

Und Lo? Und Lo?

Auch an dem Tisch der jungen Leute hatte man sich erhoben. Nur sie allein war sitzen geblieben. Sie war blaß wie Marmor und marmorn der Ausdruck ihrer Miene. Nur unter dem Schatten ihrer halbgesenkten Wimpern hervor lohte es mit zornigen Flammen. So, gerade aufrecht sitzend, das Gesicht ins Leere gerichtet, als ginge sie das Alles nichts an, erwartete sie ihn.

Und nun, da er dicht vor ihr stand und im Begriffe war, ihre Hand zu fassen, ward der starre Ausdruck plötzlich wie mit einem Ruck in ein Lächeln, ein äußerliches Pflicht- und Scheinlächeln, das der Kodex der guten Gesellschaft vorschrieb, umgewandelt, fortan den ganzen Abend über verließ es ihr Antlitz nicht mehr, dies Lächeln, es schien ebenfalls aus Marmor gemeißelt.

Sie fühlte ihre Hand zittern zwischen seinen Fingerspitzen. Das Zittern theilte sich ihr nur von seinen Fingern mit, ein so häßliches Zittern, das ganz irgendwo anders herzurühren schien, als von der Erregung dieses Augenblicks, sie fühlte es.

„Lo …“

Nicht ihren Namen! Nicht das! Nicht aus seinem Munde!

Sie zuckte zusammen. Langsam entzog sie ihm ihre Hand. Und ganz wie es der Kodex der Gastlichkeit gebot, begann sie sich mit ihm in kühler Gleichgültigkeit zu unterhalten. Man hörte sogar das nervöse Staccato ihres Lachens, aber sie zwang ihn dabei, den verschwommenen Blick seiner Augen fortwährend gesenkt zu halten – nieder mit dem Blick! nieder vor der unverwandten Beharrlichkeit ihres großen, weiten, richtenden Auges!




10.0 Ein guter Rath.

Er hatte ja auch Alles aufgegeben: den Goldfisch, die Heirath, Alles. Er war ja auch nicht gekommen, um noch einmal die erbärmliche Schwäche dieser Menschen, die den Namensgötzen anbeteten, auf die Probe zu stellen, sie noch einmal mit dem Glitzern seiner Grafenkrone zu hypnotisiren.

Er hatte sich selbst aufgegeben, nach dem was geschehen. Nicht der Rausch, nicht das Zuspätkommen, bagatelle Vergehen gegen die Spießbürgerlichkeit der Lebensart, sondern viel Schlimmeres. Eine dämonische Lust zur Selbstbuße hatte ihn erfaßt, und er hatte der Katzenjammeridee nachgegeben und war erschienen. Vielleicht ein Rest von Anstand, der auch noch unter diesem Wust von Leichtsinn und Verwerflichkeit sich regte und der ihm gebot, hinzugehen und ein Wort der Entschuldigung zu stammeln für das, was geschehen, und das, was noch kommen mußte. Dann wollte er zur Seite schleichen – wohin? Ah, er hätte auf seinem Vorwerke bleiben, er hätte seine gar nicht so üble Wirthschafterin heirathen und sein Leben lang Gänse mästen sollen! Die Berliner Luft hatte ihn überwältigt; er war nicht zu retten, es war das Ende!

Es war eine sehr fragliche Rolle, die er den Rest des Abends über spielte. Aber er fühlte das Alles nur wie durch eine Dämmerung. Viele dieser Leute redeten mit ihm, aber es geschah mit so erzwungener Höflichkeit. Die meisten mieden ihn und gingen um ihn herum, wie man in Castan’s Panoptikum die tätowirte Sehenswürdigkeit eines ausgestellten Wilden, der von seinem Podium unter das Publikum herabgetreten ist, umschleicht. Ein paar Mal gerieth er unter die Officiere, diese hieltet ihn jedenfalls zum Besten mit dem vieldeutigen Jargon ihrer Anzüglichkeiten. War er denn betrunken oder war er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 307. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_307.jpg&oldid=- (Version vom 14.11.2023)