Seite:Die Gartenlaube (1887) 334.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

dorthin, wo jetzt die Wasser des Baches noch wilder tosten und schäumten, dorthin wo der Körper Hilty’s unter den Baumstämmen sichtbar war, regungslos wie diese, welche sich zwischen den Felsen fest eingeklemmt hatten. Als Erster war der Mönch zur Stelle, und als die Gefährten des Verunglückten auch nach und nach anlangten, da hatte Notker, des Wassers nicht achtend, das ihm die Kutte, die nackten Beine netzte, bereits den Körper untersucht und den Tod des Armen erkannt. Einer der Querbalken hatte ihn an der Schläfe getroffen; denn dort rieselte ein schmaler Blutstreifen unaufhörlich dem Nacken zu und färbte das schäumende Wasser an dieser Stelle mit einem leichten Roth. Der Tod mußte augenblicklich eingetreten sein; denn die Züge lächelten noch: mit einem frohen Gedanken an sein armes Liebchen, wohl auch beruhigt durch den empfangenen Segen des Priesters, war er hinübergegangen.

Den kurz und bestimmt gegebenen Befehlen Notker’s gehorchend, schafften die Arbeiter den Baumstamm, welcher den leblosen Körper gefangen hielt, bald zur Seite, und mit einer Kraft, die man der kleinen, schmächtigen Gestalt des Mönches nimmer zugetraut haben würde, lud dieser den Todten sich auf die Schulter. Die anderen Männer, welche tief ergriffen kaum eine laute Klage wagten, halfen nach, und unter Anspannung aller Kräfte erreichte die Gruppe mit ihrer schweren Bürde auch glücklich die Höhe – von neuen herzzerreißenden Klagen empfangen. Das arme Anneli war, von dem Krachen und Poltern der in die Tiefe stürzenden Balken aufgeschreckt, in einer wahren Todesangst herbeigeeilt, um hier den Mann, den sie eben noch in voller Lebenskraft geschaut, der sie in Liebe umfangen gehalten hatte und morgen schon ihr Gefährte für das Leben werden sollte – todt und verstümmelt zu ihren Füßen zu sehen. Ein Augenblick hatte ihr Jauchzen und Singen in Weinen und Klagen, ihr Hoffen auf ein sonniges Lebensglück in Trauer und Oede gewandelt!

Notker tröstete die Jammernde, so gut er es vermochte; dann ordnete er an, daß die Leiche nach dem Kloster gebracht werde, und bald setzte sich der Trauerzug, nur von dem Weinen des armen Mädchens begleitet, nach dem Hause des heiligen Gallus, dem der Todte als Werkmann angehört hatte, in Bewegung.

*           *
*

Noch bis spät in der Nacht saß Notker, der Stammler, in seiner Zelle und dachte nach über das Schreckliche, was er am Tage erlebt, über die Lehre, welche er dadurch empfangen hatte. „Freude und Trauer, Leben und Sterben reichen sich die Hand: mitten im Leben ist der Mensch vom Tod umfangen!“ Also sagte er sich mit tiefernstem Sinnen. Dann ergriff er Pergament und Stift, gab seinen Gedanken Worte, Rhythmus und Töne und schrieb:

Media vita in morte sumus.
Quem quaerimus adjutorem, nisi te Domine?
Qui pro peccatis nostris juste irasceris,
Sancte Deus, sancte fortis, sancte et misericors salvator:
Amarae morti ne tradas nos.

Nun malte er über die Worte allerlei seltsame Zeichen, Striche, Punkte, Häkchen und kleine Schnörkel, die damalige Schrift der Noten, Neumen genannt. Er benutzte dazu einzelne Theile eines orientalischen, von der griechischen Kirche der lateinischen übermittelten Gesanges, im 4. Jahrhundert von dem heiligen Ambrosius, Bischof zu Mailand, bei dem Gottesdienste eingeführt, und über das Ganze schrieb er:

Antiphona de morte.

Am folgenden Sonntagmorgen, nach dem feierlichen Hochamt, wurden die sterblichen Ueberreste des Verunglückten auf dem stillen Klosterfriedhofe unter Beistand des Abtes und sämmtlicher Mönche des heiligen Gallus zu ewigen Ruhe bestattet. Alle Dienst- und Werkleute des Klosters, alle Bewohner und Bewohnerinnen der Wohnstätten, welche um das Gotteshaus entstanden waren, wie auch die aus Nähe und Ferne Herbeigeeilten, wohnten tief ergriffen der Grablegung bei. Die Mönche intonirten im Chor die von Notker Balbulus in der Nacht gesungene Antiphona de morte. Mit einer Mark und Bein durchdringenden Gewalt wirkten auf die beim Grabe Versammelten die Nothschreie. „Heiliger Herre Gott! Heiliger starker, heiliger und barmherziger Heiland! Laß uns nicht Gewalt anthun des bittern Todes Noth!“ von den Mönchen mit tiefer Ueberzeugung und Ergriffenheit ausgestoßen, und die Menge vermochte nur zagend, mit gedämpfter Stimme das gewohnte „Kyrie eleison, Christe eleison!“ als Antwort hervorzubringen. Wie auf das Volk, so übte der Todtensang auch auf die Mönche eine erschütternde Wirkung aus, und im Innersten ergriffen verließen Alle den Friedhof des heiligen Gallus.

*           *
*

Das „Media vita“ des St. Gallener Mönches sollte noch ganz andere folgenschwere Wirkungen erzielen und die seltsamsten Schicksale erleben. Wie Notker es geahnt und wohl auch bezweckt, hatte das Volk sich des Sanges bemächtigt; er verbreitete sich mit der Zeit immer mehr – durch ganz Deutschland, und wurde ein Schlachtgesang, dem man Wunder-, sogar Zauberkraft zuschrieb. Durch sein Anstimmen vor dem Kampfe sollte der Sieg gebannt werden, und wer ihn zuerst intonire, der sei gefeit, hieb- und stichfest, also glaubte man. Bekannt ist, daß schon 933 bei der Schlacht im Merseburger Lande unter Kaiser Heinrich I. die Priester und Mönche ihn sangen und die deutschen Heerscharen mit dem „Kyrie eleison, Christe eleison!“ die wilden Ungarn schlugen; wie ferner 1233 in dem Kreuzzug wider die armen Stedinger die Priester des Erzbischofs von Bremen sich auf eine Anhöhe stellten und das „Media vita“ intonirten, während die Ritter und Knechte des Bischofs die schuldlosen Feinde, Männer und Frauen, erschlugen. 1315 sangen es die Eidgenossen in der Schlacht am Berge Morgarten wider den Herzog Leopold von Oesterreich (Sohn des erschlagenen Kaisers Albrecht I.), dessen Ritter dabei den Tod auf dem Schlachtfelde fanden, indeß der Herzog sein Leben nur mit Mühe durch die Flucht zu retten vermochte. Dieser Sieg des einfachen Hirtenvolkes über ein Heer von Fürsten und adeligen Herren, damals unfaßbar und wie ein Wunder erscheinend, das nur mit Hilfe eines im Grunde geistlichen Sanges hatte erreicht werden können, sowie der Mißbrauch, der anderwärts mit dem „Media vita“, als vermeintlichem Zaubersang getrieben wurde, mögen wohl die Hauptursache gewesen sein zu dem Beschluß der im Jahre nach der Schlacht 1316, zu Köln abgehaltenen Synode, daß von nun an Niemand die Antiphona des St. Gallener Mönches ohne Erlaubniß seines Bischofs singen dürfe. Doch die Eidgenossen kehrten sich nicht an diesen geistlichen Befehl, oder sie umgingen ihn mit einer naiven Geschicklichkeit, indem sie Notker’s lateinische Verse in ihre deutsche Sprache übersetzten, wodurch der fromme wunderthätige Sang erst recht Gemeingut des Volkes werden mußte.

Im Laufe des 14. Jahrhunderts entstand diese erste Verdeutschung; sie mag nicht viel anders als die aus dem folgenden 15. Jahrhundert gelautet haben.

„In mittel unsers Lebens zeyt, im tod seind wir umbfangen.
wen suchen wir, der uns Hilffe geyt, von dem wir Huld erlangen?
dann dich Herr alleine,
der du umb unsre missethat rechtlich zürnen thuest.
Heiliger Herre got, heiliger starker got!
Heiliger und barmhertziger, heiligmacher Got!
laß uns nit gewalt thun des bittern todes not!“ –

Mit diesem Sang und „Kyrie eleison!“ griffen 1386 die Schweizer Herzog Leopold III. von Oesterreich, Enkel Kaiser Albrecht’s, bei Sempach an. – Sie hatten sich vorher auf die Kniee geworfen und gebetet. Da sollen mehrere Ritter des Herzogs spöttisch gerufen haben. „Die zagen Leute fallen auf die Kniee und wollen um Gnade bitten!“ worauf ein Klügerer antwortete: „Wohl bitten sie um Gnade, aber nicht uns, sondern Gott, und was das bedeutet, werden wir bald erfahren.“ Und es bedeutete: Sieg den Schweizern, Tod und Untergang dem stolzen Herzog und seiner ganzen glänzenden Ritterschar.

Etwa hundert Jahre später, 1476, im März und Juni, bei Granson und bei Murten, kämpfte das „Media vita“ wiederum mit den Schweizern gegen den mächtigen und prunkliebenden Karl den Kühnen, Herzog von Burgund. Bei Granson verlor der Stolze seine Ehre, bei Murten seine reichste Habe – wie er bald darauf bei Nancy sein Leben verlieren sollte. Ulrich Barnbühel, der Hauptmann und Anführer der Schweizer von St. Gallen in beiden Schlachten, wird wohl nicht der Letzte gewesen sein, der den feierlichen Schlachtgesang seiner engeren Heimath mit einer frommen Begeisterung gesungen.

Am Abend der Schlacht bei Murten erklang auch zu Freiburg das „Media vita“, doch nicht als Schlachtgesang, sondern als

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_334.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2023)