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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Sogleich erhob sich die Stickerin. „Immer herein, Melly,“ rief sie der Freundin entgegen, die sich bereits in gewohnter Lebhaftigkeit im Vorflur des nassen Mantels entledigte.

„Und bei solchem Wetter komme ich, nach Ihnen zu sehen, liebste Frau von Velsen – ist das nicht lobenswerth?“ plauderte die junge schöne Frau im Eintreten und rückte sich rasch einen Stuhl neben den der Greisin. „Nein, wie frisch Sie wieder aussehen!“ unterbrach sie sich. „Ihr liebes Gesichtchen im Rahmen der blüthenweißen Haube mag ich gar zu gern! Ich wünschte nur, mich auch einmal so vortrefflich konserviren zu können!“ Dann lehnte sie sich selbstzufrieden zurück, um verstohlen der Freundin zuzuwinken.

„Sie kommen gewiß wieder mit irgend einer Einladung für Kordula, Frau von Wolfersdorff,“ wehrte die alte Dame kühl ab, „und wollen mich dafür in möglichst gute Laune versetzen, nicht wahr? Nun, ich bin Ihnen ja dankbar, das wissen Sie wohl,“ warf sie, ihre schroffe Art zu begütigen, freundlicher ein, „doch es taugt nicht für Kora. Das Geschick hat sie einmal bestimmt, abseits des Weges zu gehen, und jedes Fest macht ihr nur von Neuem klar, wie es ist und wie es hätte sein können!“

In ihrer ungestümen Art faßte die junge Frau die beiden Hände der Greisin. „Errathen!“ lachte sie, „errathen – aber Ihre Bedenken lasse ich allesammt nicht gelten! Kordula muß doch, ums Himmels willen, etwas erleben, damit sie späterhin sich an etwas erinnern kann,“ sprudelte sie unbedacht hervor, „und ihr Dasein in diesen vier Wänden eignet sich wirklich nicht dazu.“

Frau von Velsen schwieg. Glückliche Menschen sind rücksichtslos, das hatte sie in ihrem Leben zu oft erfahren müssen, da aber die kleine Frau es in ihrer Art gut meinte, grollte sie ihr nicht. „Was haben Sie denn wieder mit dem Mädchen vor?“ forschte sie dann gelassen – mit der größten Sorgfalt eine neue Reihe an ihrer Arbeit beginnend.

„Ein Maskenball im Kasino, denken Sie nur!“ beeilte sich Melly erfreut zu antworten. „Kordula wünschte sich schon lange, ein derartiges Fest mitzumachen, und ich werde so lange betteln, gnädige Frau, bis Sie uns Kora auch diesmal anvertrauen!“

Das bisher blasse Gesicht des Mädchens röthete sich leise. Unter der Maske würde sie sich wie andere Leute fühlen können, und erwartungsvoll blickte sie nach der Tante hin.

Diese indessen wiegte mißbilligend den Kopf hin und her. „Meine beste Frau von Wolfersdorff, ein Maskenkostüm ist ein theueres Vergnügen – wir sind nicht in der Lage, unnöthige Ausgaben machen zu können.“

„Das sollen Sie auch nicht, gnädige Frau! Unter den früher von mir benützten Quadrillenanzügen findet sich ganz gewiß etwas Passendes für Kora!“

Diese bückte sich rasch zu ihrer Arbeit nieder. „Ich danke für Deine Güte, ich würde mich nie in geliehenen Kleidern behaglich fühlen! Aber ich denke, Tante,“ wandte sie sich im ungewohnten Ton einer Bitte an letztere, „ein Domino würde sich leicht herstellen lassen. Bitte, erlaube mir, Melly zu begleiten!“

Frau von Velsen sann schweigend nach. „Mein braunseidner Rock mit seiner altmodischen Weite ließe sich dazu verwenden. Was meinen Sie, kleine Frau?“ wandte sie sich jetzt, schon halb gewonnen, Melly zu, welche ein wenig schmollend die Arme unter der zierlichen Büste verschränkt hatte. „Nun, meinetwegen denn,“ gab sie gleich darauf ihren Entschluß kund, „mag sie mit Ihnen gehen. Wann findet denn diese Maskerade statt?“

Melly, schnell versöhnt, nannte den kommenden Sonnabend, dann beschrieb sie den aufmerksamen Zuhörerinnen die Maske, welche sie für sich ausgesonnen, plauderte noch von diesem und jenem, rühmte zu guter Letzt die wonnige erfrischende Ruhe dieses Stübchens, wirbelte dann wie der Lenzwind von dannen, und nur ein feiner Maiglöckchenduft erinnerte die Zurückgebliebenen an die kurze Unterbrechung ihres Stilllebens.

Doch nein, die leichte, nervöse Unruhe der jungen Frau schien jetzt über Kordula gekommen zu sein. Sobald die Tante sich frühzeitig, wie immer, zur Ruhe begeben hatte, trat sie zu dem eichenen Schrank in der Ecke, um schon heut an die Fertigstellung des Dominos zu gehen. Wie dünn und abgetragen dieses Seidenkleid war! Muthlos ließ sie die Arme sinken, daß es ihren Händen entglitt. Als sie sich niederbeugte, es aufzuheben, stieß sie hart gegen die alte Truhe am Boden, die Tante Renate’s Schatz barg, und plötzlich flog es wie ein Zittern durch ihre Glieder. Da drinnen lag ein Stoff, der im Schimmer eines Ballsaales in märchenhafter Pracht erglänzen mußte, der seine Trägerin vor Allen herausheben würde! Und ehe sie sich noch recht besonnen, drehte sie schon den Schlüssel herum, der stets im Schlosse steckte, schlug den Deckel zurück und griff nach dem schweren Brokatkleid.

Die lange Schneppentaille war der Mode einer längst vergangenen Zeit entsprechend geformt, eben so der faltenreiche Rock mit dem gelblichen Spitzengekräusel. Gepuderte Haare, mit ein paar Blumen oder Federn geschmückt, mußten ein Kostüm vollenden, wie sie es kostbarer oder schöner nicht zu wünschen gewagt hätte. Doch die Tante gab es zu diesem Zweck nimmermehr her, das wußte sie nur zu gut, und traurig begann sie, es wieder in das Behältniß zurückzulegen, während doch jede Arabeske des Brokats ihr in die Augen lachte. Ihre Finger zögerten – da stand sie wieder einmal, wie so manches Mal in ihrem Leben, und sah die goldenen Früchte hangen und durfte nicht nach ihnen greifen; denn sie war zum Hungern und Dürsten verdammt! – Doch wie thöricht, sich zu betrüben! Wußte sie denn, ob das Kleid ihr überhaupt paßte? Und wie um sich selbst zu beruhigen, zog sie es von Neuem hervor. Mit unruhigen Händen löste sie dann die Bänder und Knöpfe ihres Hauskleides, um geräuschlos den seidenen Rock überzuwerfen. Das schwere Gewebe bauschte sich in unverwüstlicher Pracht um ihre Glieder und ließ gerade noch die Spitze ihres Fußes sehen. Alle ihre Pulse begannen zu fliegen und mit glühenden Wangen zog sie die Taille an – auch diese paßte, sie saß, als sei sie für ihren Körper gearbeitet!

Mit weitgeöffneten Augen starrte sie dann ihr Spiegelbild an. Wie stolz aufgerichtet stand sie jetzt! Der tiefe Ausschnitt der Taille ließ einen zarten, tadellos geformten Nacken von blendender Weiße sehen, die blitzenden Augen mit den dunkelbewimperten Lidern, die glühenden Wangen gehörten ihr an; eine zauberhafte Wandlung war mit ihr vorgegangen – o, der Doktor hatte damals Recht: so brauchte sie keiner Andern mehr als Folie zu dienen, und wäre es selbst eine Melanie von Wolfersdorff!

Sie konnte sich nicht sattsehen an ihrem Spiegelbild, das ihr völlig fremd erschien. Endlich, nachdem mehr als eine halbe Stunde verflossen, riß sie sich los. Langsam, mit fest auf einander gebissenen Zähnen entkleidete sie sich, und als die Freude an der eigenen ungeahnten Wohlbildung geschwunden war, trat eine tiefe Zerknirschung an ihre Stelle. Ihr Thun erschien ihr wie ein Kirchenraub, wie ein Frevel an Tante Renate’s Heiligthum, und tief geängstet beeilte sie sich, das Kleid in die Truhe zu legen, als sie plötzlich am Boden derselben ein Kästchen bemerkte, von dessen Vorhandensein sie bisher noch nichts gewußt hatte. Als sie es emporhob und öffnete, entfloh ihrem Mund ein halberstickter Laut grenzenloser Ueberraschung, denn im matten Schein der Lampe blitzte es ihr in allen Farben des Regenbogens entgegen: herrliche Diamanten, wenn auch altmodisch geschliffen und gefaßt. Wie kam die Tante zu diesem kostbaren Schmuck? Und im Anschauen des flimmernden Arm- und Halsgeschmeides stieg ein bitteres Gefühl in ihr auf, das sich nach und nach bis zum offenen Groll steigerte. Sie mußte um ihrer dürftigen Kleidung willen Nichtachtung und Spott ertragen, während die Tante herrliche Kleinodien im Kasten vergraben hielt! Fast heftig schleuderte sie das Etui in die Truhe zurück, bettete das Kleid darauf und schlug den Deckel zu, um dann stundenlang im Zimmer auf und nieder zu wandern. So oft sie jedoch am Spiegel vorüber kam, wandte sie finster den Kopf ab – ihr Bild jetzt und vorhin bildete einen zu schreienden Gegensatz, als daß er unbemerkt hätte bleiben können.




Eine ruhelose Aufregung hatte Kordula ergriffen und nahm mit jedem kommenden Tage zu, welcher sie dem Fest näher brachte. Ihr Bild im Brautkleide der Tante verließ sie nicht mehr, eine bisher nie geahnte Eitelkeit hob sich aus todestiefem Schlaf und rang nach fernerer Befriedigung. Dennoch nähte sie in den stillen Abendstunden an dem Domino, der sie in seiner Dürftigkeit fraglos jedem Bekannten verrathen mußte. Aber dabei wuchs immer übermächtiger der Wunsch, das Kleid auch ohne die Erlaubniß der Tante zu tragen. Konnte sie nicht den Schlüssel von

der Truhe abziehen, oder auch für den Abend als unauffindbar

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_362.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)