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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Kora geleitete den Arzt auf Wunsch der Tante hinaus, und auf dem Flur suchte ihr Blick tief besorgt den seinen.

„Sie werden die Tante wiederherstellen nicht wahr?“ fragte sie mit bebender Stimme.

Er nickte.

„Ich denke, es ist kein schlimmer Bruch. Sorgsame Pflege, späterhin eben so kräftige wie leichte Kost, von Zeit zu Zeit ein Tropfen Wein sollen sie uns bald genug wieder in die Höhe bringen. Allerdings wird eine Nachkur in Wiesbaden unvermeidlich sein, gewöhnen Sie die alte Dame bei Zeiten an diesen Gedanken, Fräulein Adrian!“

Kordula starrte mit schmerzlichem Lächeln vor sich hin. Woher würde sie die Mittel nehmen, um das Alles schaffen zu können? fragte sie sich im Fluge. In diesem Augenblicke rief die Kranke nach ihr, und nach kurzem „Adieu“ flog sie in das Zimmer zurück.

Täglich kam der Doktor wieder, das Allgemeinbefinden Frau von Velsen’s hatte, ein paar Tage leichten Fiebers abgerechnet, nicht gelitten. Immer fand Kersten die kleine Behausung in tadelloser Ordnung, seine Anordnungen aufs Sorgsamste ausgeführt, Kordula selbst in der Nähe der Kranken, eifrig mit Handarbeit beschäftigt.

Nach und nach hielt er sich wohl ein paar Minuten länger als nöthig am Bett seiner Patientin auf, die ihm durch ihre bizarren Ansichten reges Interesse abgewann. Dagegen konnte er des Mißtrauens, welches er gegen die Jüngere gefaßt, durchaus nicht Herr werden. Korrekt in jedem Thun und Handeln, von einem gewissen selbstgefälligen geistigen Hochmuth beseelt, fühlte er immer eine gewisse innere Abneigung gegen die „abenteuerliche Person“, wie er gewohnt war, sie im Stillen zu nennen, und so kam es, daß sich die jungen Leute noch nach Wochen scheinbar auf derselben Stufe des Verkehrs befanden.

Als in dieser Zeit der Gipsverband abgenommen werden konnte, fand es sich, daß der gutartige Bruch des Gliedes zur Zufriedenheit verheilt und nur eine natürliche Schwäche zurückgeblieben war, die mit der Zeit schwinden mußte.

Frau von Velsen hatte bitter geklagt, als sie erfahren, daß Kordula, durch ungewöhnliche Ausgaben gezwungen, ein Werthpapier habe wechseln müssen, sich aber endlich doch hinein gefunden. Jetzt aber, als der Doktor von einem Aufenthalt in Wiesbaden sprach, weigerte sie sich energisch, seinem Wunsche nachzukommen.

„Ihr Aerzte seid alle unvernünftige Leute,“ polterte sie hervor. ,Ob es die offenkundigen Verhältnisse des Kranken erlauben oder nicht, Ihr fordert einfach das Blaue vom Himmel. Es geht nicht, sage ich Ihnen ein- für allemal; es wird mir schon schwer genug, für das Allernothwendigste jetzt die Hilfe Kordula’s annehmen zu müssen – aber auf ihre Kosten schlemmen, nimmermehr!“

„Aber, gnädige Frau,“ erwiederte Kersten, „hier fallen Sie selbst in eine starke Uebertreibung. Ausgaben, die im täglichen Leben Luxus scheinen, werden im Ausnahmsfall zur Nothwendigkeit, und bei den Vermögensverhältnissen Fräulein Adrian’s –“ Er hielt inne, durch ihr bitteres Lachen überrascht.

„Schöne Vermögensverhältnisse, hörst Du, Kordula? Er hält Dich für eine Erbin!“

„Ich wußte nicht anders, als daß Ihre Nichte wohlhabend sei.“

Nochmals stockte er, aber diesmal veranlaßt durch einen Blick auf Kordula’s leichenblaß gewordenes Gesicht und den angstvollen Ausdruck ihrer groß geöffneten Augen. Sie war der Verzweiflung nahe. Mußte nun dennoch die Entdeckung folgen? War ihre Reue und alles ehrliche Ringen doch umsonst gewesen? Alles um sich vergessend, drückte sie mit flehender Bitte den Finger auf ihre Lippen, und Kersten fragte nicht weiter. Während dessen hatte die alte Frau spöttisch erwiedert:

„Wenn Sie ein paar hundert Thaler ein Vermögen nennen, dann ist Kordula allerdings sehr wohlhabend.“

Die Blicke der beiden jungen Leute begegneten sich, dann beugte sich Kordula wieder tief über ihre Arbeit; doch eine dunkle Blutwelle zog langsam die Schläfe hinauf bis unter den dunklen Scheitel.

„Wie lieblich und mädchenhaft sie aussehen kann!“ dachte betroffen der Doktor. Dann begann er von Neuem. „Dennoch muß ich Sie bitten, sich mit dem Gedanken dieser Reise vertraut zu machen, die Kur ist durchaus nöthig für Sie, gnädige Frau!“

„Die Tante wird fahren, verlassen Sie sich darauf!“ antwortete statt ihrer Kordula. „Sie wird mir mit einer Weigerung nicht weh thun; sie weiß, wie glücklich es mich macht, einen winzigen Theil meiner großen Schuld an sie abtragen zu dürfen!“ Doch ihre Züge, gespannt und voller Sorge, widersprachen ihren Worten – sie wußte ja heute noch nicht, woher sie das Geld für die kostspielige Reise nehmen würde. Der Rest ihres kleinen Kapitals würde kaum für dieselbe reichen.

Als sie dann den Doktor durch das Nebenzimmer zur Thür geleitete, ließ er ein Weilchen schweigend seine Hand auf der Klinke ruhen, ohne sie niederzudrücken.

„Was bezweckten Sie vorhin mit dem Zeichen des Schweigens?“ fragte er plötzlich.

Kordula’s Kinn sank auf die Brust, dann warf sie kraftvoll den Kopf zurück.

„Ich wußte, daß Sie nie an die thörichte Millionenerbschaft geglaubt haben, dennoch zitterte ich, daß Sie Tante Renate davon sprechen könnten.“

„So war das Alles damals ein Märchen?“

„Das ich nicht ausgesprengt hatte, Herr Doktor!“

„Aber geduldet, daß man es sich in die Ohren flüsterte, so laut, daß Sie es hören mußten, Fräulein Adrian, und – dementiren!“

Der verächtliche Ton ließ ihre Augen zornig aufsprühen.

„Sie haben kein Recht sich zum Richter aufzuwerfen,“ sagte sie mit zuckenden Lippen. „Gehören Sie doch in die Klasse der Unversuchten, die nicht ahnen können oder – wollen, in welche Lagen das Leben Andere bringen kann! Wer nicht selbst eine Situation durchgemacht, hat kein Urtheil, was Andere darin thun oder nicht thun, hören Sie? gar kein Urtheil!“

Halb Aerger, halb Bewunderung sprach aus seinen Augen, mit denen er sie langsam vom Scheitel bis zur Sohle musterte. „Würden Sie mir noch eine Frage beantworten, mein Fräulein, nicht zum Zweck, ein Urtheil zu fällen,“ setzte er ironisch hinzu. „nur um mir zu beweisen, daß ich damals meine Diagnose richtig gestellt habe?“

„Sie können fragen, was Ihnen beliebt.“

„Sie haben überhaupt keine Erbschaft gemacht, sondern sich die Mittel zur Befriedigung Ihrer Eitelkeit aus – verzeihen Sie den vielleicht krassen Ausdruck – auf unrechtmäßige Weise verschafft?“

Sie starrte den Sprecher wie sinnlos an.

„Wer – wer sagt das?“

„Der Seelenarzt! Ich versuchte schon vor Monaten, Sie zu warnen – in der Form des Scherzes, doch Sie wollten nicht verstehen – schon damals sah ich deutlich hinter Ihrer krampfhaften Heiterkeit das geängstigte schuldbeladene Gewissen.“

Kordula wankte, doch keine Muskel ihres Gesichtes regte sich mehr.

„Ein bewundernswürdiger Scharfblick!“ spottete sie mit eisiger Kälte in der Stimme.

„Und – ist das Alles, was Sie mir antworten?“ fragte er, als sie verstummte.

Sie rang in unbeschreiblicher Aufregung nach äußerer Ruhe, aber es gelang nicht, der Sturm war zu heftig. Mit der Hand ihr Gesicht halb verhüllend, glitt sie abgewandt in einen Sessel und flüsterte. „Ja, ich trage eine Schuld, eine große Schuld sogar, aber sie ist völlig anders, als Sie wohl denken.“

Unwillkürlich kam ihm der Gedanke an ihr Spiel mit Stangen. „Und Sie mußten schwer büßen?“ fragte er leise und mitleidig.

„Ja – furchtbar schwer!“ kam es eben so leise von ihren Lippen, und ein verhaltenes Schluchzen erschütterte ihre ganze Gestalt.

In seltsamer Unruhe stand er vor ihr. Er wollte sprechen, trösten, doch es fehlten ihm die Worte; er hatte das Gefühl, daß hier kein Fremder eingreifen könne. Seinen Hut nehmend, empfahl er sich stumm mit einer fast linkischen Verneigung.




Die Forderungen des Arztes waren von nun an allein maßgebend für Kordula’s ferneres Handeln. Sie mußte das Geld für die Badereise schaffen um jeden Preis. Sie nahm jetzt auch noch die Nacht zu Hilfe, um ihren Erwerb zu vergrößern. Mit fieberhaft brennendem Kopf und schmerzenden Augen nähte sie Stich für Stich, nur wenige Stunden für den allernöthigsten Schlaf sich gönnend. Der junge Körper war zähe, er ertrug auch diese Lebensweise, nicht aber der Geist, der immer denken und grübeln konnte, den nichts abzog von seinen peinigenden Vorwürfen. Mit jedem Tage blickte sie apathischer drein, um

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