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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

doch wieder bei einer unerwarteten Frage des Doktors zitternd aufzuschrecken, trotzdem dieser nie auch nur mit einer Silbe oder Andeutung an jene Unterredung erinnerte.

Kersten, trotz scheinbarer Gleichgültigkeit, hatte ein wachsames Auge auf das Mädchen und konnte sich einer wachsenden Besorgniß auf die Dauer nicht erwehren.

Frau von Velsen ahnte augenscheinlich nichts von dem Seelenzustand ihrer Nichte, die sich immer noch so weit beherrschen konnte, um ihre Fragen zu beantworten. An diese konnte er sich also nicht wenden, und so sann er lange hin und her, bis er endlich den Entschluß faßte, Kordula zu einer Aussprache unter vier Augen zu gewinnen. Er wußte, daß Frau von Velsen täglich ihr Mittagsschläfchen hielt, und so stieg er denn entschlossen eines Tages um diese Zeit die Treppe zu deren Wohnung empor. Als auf sein Klopfen kein „Herein“ erfolgte, klinkte er unbesorgt auf in der festen Zuversicht, Kordula in irgend ein Buch vertieft vorzufinden. Diese jedoch saß mit der Arbeit am Fenster, und in dem helleren Raum konnte er mit Schrecken bemerken, wie hier schleunige Hilfe Noth that.

Lautlos schritt er zu der überrascht empor Blickenden hin, sie sanft auf ihren Platz niederdrückend.

„Ich weiß, daß Ihre Frau Tante schläft,“ begann er hastig, „gerade darum komme ich her. Ich muß mit Ihnen sprechen, wie Ihnen zu helfen ist, denn so wie bisher darf es nicht mehr fortgehen.“

Einen Augenblick schlossen sich ihre Augen; dann athmete sie tief auf. „Mir ist nicht zu helfen!“ sagte sie einfach.

„Haben Sie ihn denn so sehr geliebt? Verdient er denn eine so tiefe Neigung?“ fragte er kurz entschlossen mit vor Aufregung leicht verschleierter Stimme.

Sie ließ die Hände einen Augenblick ruhen und sah ihn erstaunt an.

„Sie sind im Irrthum, Herr Doktor – ich habe noch nie einen Mann geliebt, weder glücklich noch unglücklich. Einen derartigen Luxus dürfen sich die Mädchen in meinen Verhältnissen nicht gestatten!“

Er überhörte fast den schneidenden Ton tiefer Bitterkeit über dem unerwarteten Aufschluß, den er erhalten, und der ihm ein seltsam angenehmes Gefühl erregte. Aber wie sollte er nun weiter fortfahren, ihren Kummer zu ergründen? Rathlos fragend blickte er ihr in die leidenden Züge.

„Fräulein Kora!“ begann er plötzlich in entschiedenem Ton, „wollen Sie mir nicht einmal ehrlich Ihr Inneres öffnen? Sie gehen bei dieser Verschlossenheit zu Grunde, und das kann – das will ich nicht mehr länger mit ansehen!“

Das Mädchen schüttelte finster den Kopf. „Ich könnte Ihnen nur Dinge enthüllen, welche Sie, einen ‚Gerechten‘, empören müßten, auch will und kann ich keinen Tadel darüber anhören. Ich habe mich selbst als schuldig erkannt, es ist nicht nothwendig, daß noch Andere mich verurtheilen. Zudem kann mich Keiner schlimmer richten, als ich das selbst schon thue!“

Er preßte die Lippen fest auf einander. „Dieser ‚Gerechte‘,“ sagte er endlich, „paßt vollkommen zu dem ‚Unversuchten‘ von neulich. Ich habe über das Wort nachgedacht, Fräulein Kora, und gestehe Ihnen ein, daß Sie berechtigt waren, es auszusprechen.“

Ihre düstere Miene veränderte sich nicht.

„Wohl Ihnen,“ sagte sie nur, „daß Sie jener Klasse angehören! Wünschen Sie auch nicht, mich milder beurtheilen zu können, denn dann müßten Sie ja die Macht eines verhängnißvollen Schicksalstages an sich erfahren haben.“

„Und doch lasse ich nicht ab, zu bitten, sich mir anzuvertrauen; ich will kein Richter, nur ein Helfer sein!“

„‚Wer keine Himmelsthür zu öffnen hat, lasse das Höllenthor lieber zu,‘ sagt irgend ein weiser Mann,“ murmelte das Mädchen mit unveränderter Festigkeit.

„Fräulein Kora!“ und in tiefer Bewegung nahm er ihre Hand in die seine. „Fräulein Kora, und dennoch sollen Sie mir Ihr schwerbelastetes Herz darlegen, denn Sie finden volles Verständniß bei mir. Wer so im Schatten wachsen und erblühen mußte, wie Sie, kann nicht süße Früchte bringen, diese Erkenntniß ist in mir gewachsen, seit den Wochen, in welchen ich Sie beobachte. Ich habe viel über Sie nachgedacht und gestehe Ihnen, daß es mich fast wie Scham überkam, wenn ich des sicheren Weges dachte, den ich, ein Mann, gehen durfte, im Vergleich mit Ihrem Los! Sorge, Entbehrung, nirgend ein Wesen, welches das junge heißschlagende Herz verstand, was Wunder, wenn es auf Abwege gerieth!“

Was nicht Härte und Ironie, nicht Gewalt gekonnt, that setzt die weiche, eindringliche Stimme neben ihr – heftig aufschluchzend barg sie plötzlich den Kopf in den Händen. Er ließ sie gewähren, nur, wie beruhigend, strich er leise über den dunkeln Scheitel, bis endlich das krampfhafte Weinen nachließ.

Nachdem sie die Augen getrocknet hatte, drückte sie ihm traurig die Hand. „Ich danke Ihnen. Das waren Worte echten Mitgefühles, welches ich in meinem Leben nicht oft erfuhr.“ Dann begann sie, nachdem sie vorsichtig an der geschlossenen Thür zum Schlafzimmer gelauscht, ihre Schilderung. Sie holte weit aus, von jenem ersten Ballabend an, und je länger sie sprach mit der resignirten müden Stimme, um so ernster wurde seine Miene. Endlich legte er die Hand über die Augen, nicht, daß er sich ihres feuchten Schimmers schämte, aber er wollte die Erzählerin nicht stören oder verwirren, und erst als diese mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung endete, ließ er sie langsam sinken.

„Wissen Sie auch, daß ich mit meiner Aeußerung damals schuld war an Ihrer Verirrung?“ fragte er. „Darum muß ich auch von nun an die Last auf mich nehmen und Sie können es getrost leiden, denn meine Schultern sind breiter als die Ihren,“ versuchte er zu scherzen. „Vor Allem werden Sie die noch fehlende Summe zum Reisegeld von mir annehmen!“

In Kordula’s Antlitz flammte es blutroth auf. „Nur das nicht,“ bat sie tief erschrocken, „demüthigen Sie mich nicht gar so tief, Herr Doktor!“

„Nicht doch, Sie bleiben meine Schuldnerin,“ wehrte er herzlich, „aber davon, daß Sie Ihre Gesundheit noch ferner zu Grunde richten, kann von dieser Stunde an nicht mehr die Rede sein. Habe ich doch als Ihr vertrauter Freund von nun an die Pflicht, über Sie zu wachen.“

Verwirrt schaute sie zu ihm auf. Wie ihr Herz in mächtigen Schlägen klopfte, in dem wonnigen Gefühle, Gegenstand so freundlicher Sorge zu sein! Widerspruchslos ließ sie es geschehen, daß er ihr die Stickerei aus der Hand nahm.

„Bevor Sie nicht wieder ganz frisch sind, dürfen Sie nicht in dieser Weise fortarbeiten; wollen Sie mir das versprechen, Kordula?“ Und als sie scheu nickend die kühlen Finger in seine ausgestreckte Rechte legte, fügte er im tiefsten Ernst hinzu. „Ich glaube Ihnen!“




Eine tiefinnerliche Ruhe war für Kordula die Folge jener Nachmittagsunterredung. Wie eine mildglänzende und wärmende Sonne ging es über ihrem freundlichen Dasein auf, sie fühlte, daß die furchtbar harte Bußezeit zu Ende gehe, und ihr glückentwöhntes Herz fing an, sich den milden Strahlen zu öffnen. Das wortkarge verschlossene Mädchen klagte dem Doktor jedes kleine Bekümmerniß, berichtete auch über das scheinbar unwichtigste Ereigniß, wenn er mit wichtiger Miene zu fragen begann. Ein leiser Frohsinn überkam sie jetzt manchesmal, und die Blässe ihrer Wangen machte wieder einer wärmeren Färbung Platz – wohlbemerkt vom Doktor, der seine Krankenbesuche nicht einstellte, ungeachtet seine Patientin durchaus nicht mehr seiner bedurfte.

Die saß schon wieder mit ihrer Strickerei im Lehnsessel und horchte unbeobachtet mit einem hin und wieder aufhuschenden sonnigen Lächeln auf das Geplauder der jungen Leute, und manchmal falteten sich die dürren Hände zum heißen wortlosen Gebet. Vielleicht schenkte ihr der Allmächtige doch noch ein leuchtendes Abendroth, ehe die lange Nacht anbrach.

Endlich hatten sich ihre Kräfte derartig gehoben, daß sie die Reise antreten konnte.

Kora beendete die geringen Reisevorbereitungen und zwar mit leichterem Herzen, als sie zu hoffen gewagt; denn noch brauchte sie nicht die Güte des Doktors in Anspruch zu nehmen, noch schien das kleine Kapital ausreichen zu wollen. Freilich, wenn sie zurückkehrte, stand sie völlig mittellos da. Doch das Gottvertrauen, über das sie früher gelächelt hatte, ließ sie jetzt muthvoll die schwere Last auf sich nehmen, das knospende Glückgefühl in ihr hatte sie vertrauensvoll gemacht.

Als die Stunde der Abreise schlug, kam Kersten selbst, um die Damen zur Bahn zu bringen. Sorgsam zog er den Arm der Blinden unter den seinen, vorsichtig hob er sie aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 382. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_382.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)