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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

000 Lieber Leser, kannst du dir vorstellen, was bei Schauspielern „Steckenbleiben“ bedeutet?

Steckenbleiben entwickelt sich stufenweise! Es ist zuerst nur das plötzliche Vergessen eines Wortes; dann wird es durch Schreck verursachte Lähmung des Erinnerungsvermögens, ferner Aufhebung aller Verstandeskräfte … schließlich, im letzten Stadium, Hilflosigkeit neugeborener Kinder. Ein unsichtbarer Dämon ist schnell in die feinen Triebräderchen unserer Gehirnthätigkeit mit einem Halt! eingesprungen; das Gedächtniß ist geschwunden! Ganz geschwunden! Jede Erinnerung!

Ich hörte nichts mehr! Nicht die Stimme des Souffleurs im Kasten nicht die Stimme Dingelstedt’s in der Loge, nicht die Stimme des Regisseurs in der ersten Koulisse; Alle bemühten sich vergeblich, mir die fehlenden Worte laut und vernehmlich, vernehmlich für das ganze Publikum, zuzurufen!

Ich blieb momentan taub! Es war ein so ausgesprochenes, so vollkommenes Steckenbleiben, wie nur eines in den Annalen der schauspielerischen Unglücksfälle verzeichnet sein kann! –

Wie lange die Pause währte, bis ich wieder zum Bewußtsein kam und in der Recitation des Prologs fortfuhr:

„Dann stiege wohl der Geist des großen Todten
Zu uns hernieder“ u. s. w. u. s. w.

wußte ich selbst nicht zu beurtheilen; ich glaube – sie war so lang wie der Tag vor Johanni; denn Dingelstedt versicherte mir später: die Birch-Pfeiffer wäre im Stande gewesen, während meiner Pause einen Roman zu dramatisiren, und Eugen Sue, die „Geheimnisse von Paris“ zu schreiben!

Wer war unglücklicher als ich! Eine große schauspielerische Auszeichnung war mir durch Anvertrauung des Prologes zugedacht; ich trug eine Fülle von Lorbeern auf dem Haupte, die schon allein ruhmverheißend sein mußte; Keiner im Publikum zweifelte, daß ich mich mit meinen auch in Weimar geschätzten, vielversprechenden Qualitäten eines jungen Talentes überaus günstig der gewordenen Aufgabe entledigen würde – und doch, so nahe beim Kapitole ward mir der tarpejische Felsen! Eine moralische Zerschmetterung!

Nach Schluß des Prologes und nach dem Fallen des Vorhanges applaudirte man stürmisch. Dingelstedt stand bereits in der ersten Koulisse und rief mir zu: „Wenn aufgezogen wird, verbeugen Sie sich mit einer sehr deutlichen Handbewegung nach meiner Loge hin!“

Ich verstand ihn wohl; das sollte heißen: der Hervorruf gilt nicht Dir! Der Dank des Publikums richtet sich selbstverständlich heute nur an die Adresse des Autors. O weh!

Am andern Tage sprach Alles von dem fürchterlich dicken Lorbeerkranze und dem fürchterlichen Steckenbleiben. Mein Gott! Für den ersteren war der Hofgärtner verantwortlich, und was das Steckenbleiben anbelangt – je nun! ich will den erdgebornen Schauspieler sehen, der sich so frei fühlt, den ersten Stein auf mich zu werfen. Ich ging allerdings eine Zeit lang allen Bekannten wiederum aus dem Wege.

Aber Charlotte von Hagen, die liebenswürdige, theilnehmende Künstlerin, sandte mir nach der Prologaffaire eine kleine Visitenkarte mit folgenden Worten:

„Verzweifeln Sie nicht! Es kann Einem ja nichts Besseres passiren – als in so viel Lorbeeren stecken zu bleiben!“

Ich hatte nun plötzlich mein Autograph! Ob es mich aber so ganz mit Genugthuung erfüllte? Diese Frage habe ich immer – auch für mich – offen gehalten!




Blätter und Blüthen.


Ausstellung der Adressen zu Kaiser Wilhelms 90. Geburtstage. In dem prächtigen Berliner Kunstgewerbemuseum, welches mit seinen großen Schätzen alter und neuer Vorbilder eine Hauptstelle unter den Sehenswürdigkeiten der Reichshauptstadt einnimmt, waren vor einiger Zeit die sämmtlichen Adressen der deutschen Städte und Genossenschaften ausgestellt: vier große Gestelle voll der reichsten und mannigfachsten Bände, Mappen, Schreine, Pergamenttafeln, die fortwährend von Zuschauern umdrängt wurden. Die Mitte des Ganzen nimmt ein origineller, mehr als mannshoher Aufbau ein; auf reichdrapirtem Sammtsockel erhebt sich eine prachtvolle gotische Holzarchitektur mit der Inschrift: „Dem erhabenen Baumeister des Deutschen Reiches gewidmet von den vereinigten deutschen Baumeistern.“ Eine goldene Germania thront unter dem Baldachin, dessen gothisches Dach überragt wird von den farbigen Reichsstandarten und dem Adler. Farbige Frucht- und Blumenthürme umziehen den reichen Bau, dessen vier Ecknischen von kraftvollen Männergestalten, Bauhandwerkern mit ihrem Geräth, ausgefüllt werden.

Reizend stellt sich die Gabe der „Frauen und Jungfrauen von Wiesbaden“ dar: im reichen moosgrünen Plüschrahmen, auf einer sechs Fuß hohen Staffelei, die ganz aus lebenden Rosenkränzen gebildet ist, ein liebliches Aquarellbild, eine Jungfrau im Rosenhag vorstellend, die dem Kaiser den Kranz entgegenreicht. Amoretten spielen in den Zweigen und tragen hoch oben die Kaiserkrone.

Gegenüber ragt ein schwerer Schrein aus Eichenholz, dessen rother Sammtgrund eine kostbare Pergamenttafel umschließt mit der Widmung des Großlogenbundes. Sie ist umrahmt von reichstem gothischen Goldornament und Lorbeerzweigen mit goldenen Früchten.

Wahre Prachtbände, Meisterwerke deutscher Buchbinderei, umschließen die künstlerisch ausgestatteten Adressen der deutschen Bühnenangehörigen, der Kölner Frauen und Jungfrauen (Pergament mit edelster Randpressung und silbergetriebener Germania), der Stadtbehörde Breslau (gelbe Seide mit Malerei, reich gesticktem Ornamentrand und schweren Schmuckrosetten).

Die Adressen der Kunstakademien von München, Frankfurt, Karlsruhe, Weimar u. a. O. sind einfacher in der Ausstattung, dagegen meist mit Aquarellbildern von Künstlerhand geziert.

Ein wirkliches Kunstwerk von Metallarbeit ist auch das ganz eigenartige Geschenk der Stadt München: eine reiche Emailtafel im Renaissancegeschmack, welche die Inschrift trägt, nach Art eines Altarblattes mit Thüren zu schließen, die, in Silber getrieben und vergoldet, prächtige Ornamentfiguren zeigen. Ein herabhängendes köstliches Siegel von Krystall in edelster Fassung bildet den Abschluß des höchst originellen Werkes.

Unter dem vielen Kunstvollen sei zum Schluß noch Eins hervorgehoben, eine eben so sinnige als liebliche Gabe aus dem badischen Schwarzwalde. Es ist eine freistehende Uhr im Holzgehäuse, mit verschiedenen Zifferblättern, die alle umrahmt sind von reizenden Malereien auf Goldgrund, ländliche Embleme zeigend, auch zwei schmucke Schwarzwälderinnen, welche die Huldigung darbringen. Unten steht die herzenswarme Inschrift:

„Ein Schwarzwaldkind, geschmückt mit Kränzen,
Spricht heute Dir von neunzig Lenzen;
Es mißt die Uhr mit sicherm Schlag
Des Kaisers Fest, des Volkes Jubeltag.
Fortan nur frohe Tage soll sie zeigen,
Doch siegend über alle Zeit
Bleibt Ihm die Liebe, Treue, Dank zu eigen
In Ewigkeit!“

Nachklänge zur Uhland-Feier. In der von Karl Emil Franzos herausgegebenen Zeitschrift „Deutsche Dichtung“ finden sich 31 Lieder und Epigramme Uhland’s, welche weder in den bisherigen Sammlungen des Dichters, noch in der Cotta’schen Jubiläumsausgabe, noch in einer seiner Biographien enthalten sind. Darunter giebt es sehr werthvolle Liederspenden, wie z. B. das folgende schöne Gedicht:

 Naturfreiheit.
Leben, das nur Leben scheinet,
Wo nicht Herz, nicht Auge spricht,
Wo der Mensch zur Form versteinet,
Machst du ganz mein Herz zu nicht’?
Die mich oft mit Trost erfüllet,
O Natur, auch du so leer?
Tief in Schnee und Eis gehüllet,
Blickst du frostig zu mir her.

Hör’ ich nur ein Waldhorn klingen,
Hör’ ich einen Feldgesang:
Rühret gleich mein Geist die Schwingen,
Fühlt der Hoffnung frischen Drang.
O Natur, voll Muttergüte,
Gieb doch deine Kinder frei,
Sonnenstrahl und Quell und Blüthe,
Daß auch ich gerettet sei!

Mit den Lüften will ich streifen
Rauschend durch den grünen Hain;
Mit den Strömen will ich schweifen
Schwimmend in des Himmels Schein;
In der Vögel Morgenlieder
Stimm’ ich frei und fröhlich ein:
Alle Wesen sollen Brüder,
Du, Natur, uns Mutter sein!

Ein Werk von Georg Hassenstein: „Ludwig Uhland. Seine Darstellung der Volksdichtung und das Volksthümliche in seinen Gedichten“ (Leipzig, Karl Reißner) verdient ebenfalls als ein Beitrag zum Uhlands-Jubiläum betrachtet zu werden. Der Verfasser sucht die volksmäßigen Bestandtheile der Uhland’schen Dichtungen nachzuweisen und giebt Uhland’s Abhandlung über die deutschen Volkslieder im Zusammenhang, aber mit Ausschluß alles speciell Gelehrten wieder, um Freunde des Meisters auf die Schätze wahren dichterischen Genusses hinzuweisen, die auch in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen enthalten sind.

Auch das im Stuttgarter Hoftheater aufgeführte Festspiel zur Uhland-Feier von Friedrich Theodor Vischer ist jetzt im Druck erschienen (Stuttgart, Adolf Bonz u. Comp.). Der Genius Schwabens, der Genius Deutschlands, der Genius der Menschheit feiern den Dichter und krönen am Schluß gemeinsam seine Büste. Von den schwunghaften Versen führen wir die folgenden an, welche dem Genius Schwabens in den Mund gelegt sind:

„Bei Dir sein, Deinen Lebenshauch verspüren,
Heißt athmen in gesunder freier Luft,
Heißt Balsamduft in Fichtenwäldern trinken.
Du Braver, Laut’rer, Ungebroch’ner, Ganzer!
Du Mann, von dem man sagen darf: sein Leben
Liegt vor uns wie ein unbeflecktes Tuch!
O selten in der argen Welt und herrlich,
Wenn eine Seele wie ein Kind so rein,
So schlicht, so mild, so innig und so keusch,
So liederreich, von Feeenhand gesegnet,
Des Lebens herben, undurchsicht’gen Stoff
In Rosenlicht des jungen Tags zu tauchen,
Mit Dämmerschein des Mondes zu umweben,
Mit sinnigen Gedanken zu durchwirken –
Wenn diese Seele stark ist wie von Stahl,
Wenn Mark der Menschheit nicht im Liede nur,
Auch in der That sich offenbart und draußen
Im Lebenskampf, im Ringerkampf ums Recht
Nicht wankt und weicht und schmerzlich Opfer bringt.“  

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_399.jpg&oldid=- (Version vom 16.6.2023)