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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


versicherte höchstens auf Befragen, sie seien „verdammt guter Kneller“. Dagegen bekam er einen Wuthanfall, als der Hauptmann in seiner kurzen und scharfen Weise ihm erklärte, daß der gute Freund Mäpke künftig nicht mehr über seine Schwelle dürfe. Er begann, diesen lästigen Erzieher grimmig zu hassen, und beschloß in seinem Innern, nur noch eine Zeit lang zuzusehen. Um sich seliren zu lassen, war er nicht aus Amerika hergekommen!

Am besten kamen noch die Damen mit ihm aus. Frau Belzig freilich hob nach der ersten Besichtigung der amerikanischen Kalamität nur Schultern und Augen empor und stieß einen tiefen Seufzer aus: „Könnte man ihn nicht einfach hinaus werfen?“

„Wo denn hinaus?“ meinte Lolo voll Humor. „Aus Europa hinaus, meinst Du doch? Und warum denn? Er ist eigentlich ein drolliger Bursch – unser Neffe!“

Er seinerseits betrachtete die drei jugendlich reizenden „Tanten“ Olga, Litta und Lo als den angenehmeren Theil der dummen Komödie und hörte gemüthlich zu, wenn sie ihm für sein bevorstehendes Auftreten in der Welt die besten Rathschläge ertheilten: ein Amt, welches besonders Olga, als seine eigentlichste Tante, mit Feuereifer betrieb. Sie hatte sogar die Abreise nach England deßhalb verschoben.

Aber trotz aller Bildungsversuche war die allerseitige Ueberraschung groß, als der neue Baron Gamlingen endlich in der Freiheit erschien. Der Hauptmann hatte „ihm zu Ehren“ die Familie zu einem Mittagessen entboten. „Mein Gott, man muß doch einmal anfangen, ihn zu zeigen!“

So hatten sie sich ihn nicht gedacht! Nicht so unmöglich! So lange er noch in seiner Stube auf dem Sofa saß, den Arm in der Binde und all die Scherze und Experimente, die man mit ihm anstellte, all die deutlichen Winke und offenen Ermahnungen und systematischen Bildungsversuche ruhig über sich ergehen ließ, so lange er unter dem ersten Einfluß der Feerie stand: da schien noch Aussicht vorhanden, daß mit Geduld ein leidlicher Zustand der Civilisation zu erreichen wäre. Nun aber war es, als ob er mit der Armbinde auch den Schein der Zähmungsfähigkeit abgelegt.

Mühüller hätte seine Freude daran gehabt, wie roh und unbeleckt der Wilde sich darstellte. Keine Spur von einer Verbeugung, keine Idee von einem Bedürfniß, ein paar Worte der Entschuldigung zu stammeln, wenn man seinem Mitmenschen mit seinem breiten Lackstiefel auf die Füße getreten. Seine Bewegungen wären nicht ganz so täppisch und ungelenk erschienen, wenn er sich hier in der gedämpften und vornehm thuenden Atmosphäre nicht etwas gedrückt gefühlt hätte.

„Du wirst nachher Fräulein Lolo zu Tische führen,“ sagte Olga, mit einer gewissen Besorgniß in das Gesicht des Herrn Neffen emporblickend. „Nicht wahr, Du wirst doch artig sein – Du wirst brav und folgsam sein …“ ganz wie eine Mutter ihr Kind ermahnt, sich recht brav in der Schule zu verhalten.

Das herzige Püppchen, das ihn, Dicks, mit ihrem rührend lieben Stimmchen fragte, ob er artig sein würde! Er mußte lächeln. Und das Gelüste prickelte stärker denn je in seinen Fingern, zuzugreifen und das hübsche Blondköpfchen zwischen seine großen Hände zu nehmen.

„O der Deixel!“ rief er kräftig. „Warum soll ich nicht artig sein, Tante? Artig wie eine Auster, Tante!“

Und er hob sich auf einem Bein und senkte sich breitspurig aufs andere, so hin und her schaukelnd, dann setzte er sich auf den Rand des nächsten zierlich gedrechselten Tischchens, das unter seiner Last mit einem kläglichen Aechzen zusammenknickte. Und es war ein Hochzeitsgeschenk!

Melitta warf ihm einen Blick des Jammers zu, den er nicht bemerkte.

Er führte also Lolo zu Tisch, wie er es bei den Anderen gesehen, ihren Arm mit dem Fächer fest, als hätte er sie arretirt, zwischen den seinen geklemmt. Ihm war so seltsam schwül. Sie lachte hell auf – ihre Zähnchen schimmerten und ihre braunen Augen strahlten ihn schelmisch an.

„O, Sie – Du mußt mich auch nicht gar so fest fassen, Neffe!“ lachte sie, ihren nackten Unterarm, den ein kostbarer Reif zierte, aus seinem Arm herauszwängend. „Sieh, so –“ und sie tauschte die Rolle, nahm seinen Arm und legte ihn feierlich in den ihren. „So ist’s!“

„Blitz nochmal!“ entfuhr es ihm. Es war die Berührung ihrer Hand, die ihn so seltsam erregte.

Dann das Diner mit seinen neuen Qualen für die versammelten Erzieher.

Als Dicks gegen den Schluß desselben unterhaltend wurde und eine Mordgeschichte aus Kalifornien zum Besten gab, bei welcher er keineswegs bloß die Nebenrolle gespielt, da hob Frau von Gamlingen entrüstet die Tafel auf und „Tante Olga“ zog den Ahnungslosen mit sich in den kleinen Salon hinein.

Sie führte ihn vor den Stammbanm, der an der dunklen Wand des Zimmers, wie absichtlich dem neugierigen Tageslichte entrückt, ziemlich unbeachtet hing. Sie hielt es für ihre Pflicht, den Familiensinn in ihm zu wecken. Gelang das, so war Alles gewonnen.

„Unser Stammbaum!“ sagte sie hinanweisend.

„Carambal!“ sagte er, das Bild anglotzend.

Sie erklärte ihm die Bedeutung. Er schien nicht recht zu begreifen.

„Ein schöner Baum!“ sagte er. „Ein verblitzt schönes Exemplar von einem Baum. Bei uns dahinten giebt es noch größere und viel dickere!“

„Das hing über Papas Bett, als er starb,“ sagte sie, den Einwand mochte sie nicht gehört haben – ihre Stimme vibrirte wie durch Thränen. „Dein Großpapa!“ fügte sie hinzu.

„O!“ rief er aus mit wirklichem Bedauern. „Ein schöner Baum,“ wiederholte er dann, um die Pause auszufüllen. „Ein verdammt schöner Baum!“

Sie brachte ihn darauf, daß er von seinem Vater und von seinen Schicksalen erzählte. Es war Alles so selbstverständlich – was ist da zu erzählen? Von seinem Vater wußte er nicht viel. Dieser hatte ihn, als er ungefähr zehn Jahre alt war, der Obhut eines Freundes anvertraut, um nach Europa zu fahren. Was er da wollte, wußte Dicks nicht. Er hat ihn auch nicht wiedergesehen. Dann war Dicks der lästigen Obhut entschlüpft und hatte sich auf eigene Faust versucht. Was er getrieben? wo er gewesen? – er hat einfach Alles getrieben und ist überall gewesen! Damit fertigte er summarisch jede Nachfrage ab.

Bald darauf saß Dicks wieder unter den Anderen im Salon. Was für lächerliche Babytäßchen sie doch zum Kaffee nehmen! Und diese winzigen goldenen Löffelchen, die man am liebsten gleich mit hinabschluckt! Wieder ärgerte er sich über Walther, der ihm geradeheraus untersagte, seine Füße, mit deren gleißenden Lackstiefeln er sich doch gewiß nicht zu schämen brauchte, auf die mit Plüsch bezogene Etagère zu legen!

Da wurden Baron und Baronin Kehren gemeldet. Walther fuhr heftig auf: mußten die auch gerade heute hereinplatzen!

„Wir haben Besuch, gnädige Frau“ – Melitta fand es für nöthig, dies vor der Vorstellung zu erläutern – „aus Amerika,“ fügte sie in ihrer Angst mit Nachdruck hinzu.

„Ah, sehr interessant – wir haben schon davon gehört!“ lächelte Frau von Kehren in ihrer schnippischen Art.

„Baron Kehren –“ stellte Walther vor, ohne mit einer Miene die Verlegenheit zu verrathen – „Baron Kehren –“ und etwas weniger laut, mit einer flüchtigen Bewegung nach Dicks weisend. „Freiherr von Gamlingen.“

Dicks rührte sich mit keinem Härchen. War er gemeint? Ah so! es galt ihm, der Freiherr und die famose Verbeugung, die dieser blitzblanke Officier machte! Einfach glotzte er ihn ganz vergnügt mit seinen hellsten Augen an.

„Wie gefällt es Ihnen hier in Europa?“ näselte Kehren, der sich durch nichts überraschen ließ.

Damned! ganz wunderbarl“ rief Dicks.




24.0 Das A B C.

So konnte es nicht fortgehen! das war klar! Der Familienrath beschloß also, Dicks’ versäumte Bildung gründlich nachzuholen, und auf Adolf Eff’s Rath wählte man in der Lindenstraße ein Institut, das unter der deckenden Firma einer Handelsschule die Korrektur zurückgebliebener Söhne und unorthographischer Töchter als diskrete Specialität betrieb.

„Ich verstehe schon,“ nickte der kleine bucklige Inhaber des Instituts, als ihm von Gamlingen der Fall erläutert wurde; „verstehe schon! Kommt übrigens oft genug vor. Wir haben da einen Professor, der sich auf solchen Unterricht vorzüglich versteht. Sie werden zufrieden sein, Herr Hauptmann!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_406.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)