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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Böhme, so erhält dieser selbstverständlich den Brief. Aus dem Inhalte des Briefes wird der Altenaer Empfänger zwar bald ersehen, daß der Brief nicht für ihn bestimmt und daher nach Wiederversiegelung mit entsprechendem Vermerk versehen der Post zurückzugeben ist. Leider wird jedoch, wie erfahrungsmäßig feststeht, ein solches, wie man glauben sollte, selbstverständliches Verfahren der Rückgabe fremden Eigenthums keineswegs immer beobachtet. Es giebt Menschen von einer solchen Gemüthskälte oder im günstigsten Falle geistigen Beschränktheit, daß sie in Fällen dieser Art, ohne eine Regung des Mitleids mit dem Geschädigten zu empfinden das für den Letzteren vielleicht werthvolle Stück Papier zum Pfeifenanzünden benutzen.“

In diesem Augenblicke brachte der zum Meldeamte geschickte Bote dem Sekretär den Zettel zurück. Der Beamte warf einen Blick auf das Papier und las: „Ingenieur Müller, in der Maschinenfabrik des Herrn R. beschäftigt, vor 3 Tagen hier gemeldet, wohnt …straße Nr. 18.“

„Damit,“ meinte der Beamte, „wird vermuthlich das Räthsel seine Lösung und bald auch der Brief seinen richtigen Empfänger gefunden haben. Ich werde das Weitere sogleich besorgen und freue mich, daß dieser Fall regelrecht erledigt wurde, während in so manchen ähnlichen Fällen ohne Verschulden der Post Briefe in unrechte Hände gerathen, um nie wieder zum Vorschein zu kommen, und dann vom Absender ganz kaltblütig die Schuld der Post aufgebürdet wird, ‚bei der der Brief wohl verloren gegangen sein werde‘.“

„Ist mir gleichfalls lieb,“ erwiederte ich, „daß in diesem Falle die Sache ihre Erledigung gefunden haben dürfte, wie aber, frage ich Sie, Verehrtester, wird es in den voraussichtlich noch öfters eintretenden künftigen gleichartigen Fällen mit der Briefbestellung gehalten werden? Wie Sie wissen, wohne ich hier seit sechs Jahren. Ohne daß eine Wohnungsangabe nöthig wäre, die auch kaum jemals stattfindet, gelangten bisher alle meine Briefe sicher in meine Hände. Lassen aber die Korrespondenten meines unbekannten Herrn Kollegen nun auch Straße und Hausnummer fort, wie sollen dann die Briefträger es anfangen, den richtigen Empfänger herauszufinden?

Schweigend griff der Beamte nach einem in seiner Nähe liegenden Buche, schlug es auf und sagte, indem er auf einen kurzen Satz zeigte: „Ihre Frage ist leicht beantwortet; § 5 der Postordnung, die für die Beziehungen zwischen Post und Publikum maßgebend ist, besagt: ‚In der Aufschrift müssen der Bestimmungsort und der Empfänger so bestimmt bezeichnet sein, daß jeder Ungewißheit vorgebeugt wird.‘

Diese Ungewißheit besteht fortan aber thatsächlich bei allen hier ankommenden Briefen, die ohne Vornamen oder Wohnungsangabe lediglich die Adresse des Ingenieurs Müller tragen; folglich bleibt der Postbehörde, sofern die Herren Namensvettern, was, wie meistens, so wohl auch in diesem Falle geschehen wird, sich nicht gütlich über die Sache verständigen, gar nichts Anderes übrig, als die ungenau adressirten Briefe mit dem Vermerk: ‚Welcher von zwei Empfängern gleichen Namens?‘ nach dem Ausgabeort zurückzuschicken.“

„Unangenehme Aussichten in der That!“ konnte ich nicht umhin, zu bemerken. „Vielleicht könnnnten Sie,“ wandte ich mich an den Beamten, „in dieser Beziehung mich mit gutem Rath unterstützen.“

„Es ist gar nichts weiter zu machen,“ war die Antwort, „als Mittheilung der Sachlage an die betheiligten auswärtigen Korrespondenten und Aufforderung, künftig Vornamen (falls dieser nicht etwa auch übereinstimmt) und Wohnung anzugeben. Zugleich aber, da nicht darauf zu rechnen ist, daß diesem Ersuchen auch regelmäßig Folge gegeben wird, muß Ihr neu angekommener Herr Kollege veranlaßt werden, eine beglaubigte Erklärung hier einzureichen, welcher zufolge er damit einverstanden ist, daß bezüglich aller, lediglich an ‚Ingenieur Müller‘ adressirten Postsendungen Sie als der berechtigte Empfänger gelten. Die Sendungen, von denen Sie nach Handschrift und Ausgabeort annehmen, daß Ihr Kollege der Empfänger sei, würden Sie dann diesem kurzer Hand zuzustellen haben. Selbstverständlich steht auch nichts im Wege, daß umgekehrt Sie Ihren Namensvetter bevollmächtigen.“

Ich dankte dem gefälligen Beamten für die erhaltene Auskunft, wollte aber doch die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, womöglich noch über einen letzten Punkt Klarheit zu erlangen. „Was aber,“ fragte ich, „würde mir geschehen sein, wenn ich den für meinen Kollegen bestimmten unrichtig an mich gelangten Brief widerrechtlich zurückbehalten, vielleicht sogar vernichtet hätte?“

„Die Frage ist nicht so ohne Weiteres zu beantworten,“ entgegnete der Sekretär, „da hier Alles davon abhängt, ob Sie im ‚guten Glauben‘ den Brief als für Sie bestimmt ansehen oder aber ob Sie das Bewußtsein haben bez. bei gewöhnlicher Ueberlegung haben müssen, der Brief gehöre Ihrem Namensvetter und sei nur durch Irrthum oder Zufall in Ihre Hände gelangt. Im ersteren Falle wird Ihnen selbstredend Niemand etwas anhaben können; daß aber der letztere, mit empfindlicher Strafe (Verletzung fremder Geheimnisse und bez. Unterschlagung §§ 246 und 299 des R. St. G.) bedrohte Fall vorliegt, das müßte Ihnen jedenfalls bewiesen werden, und ein solcher Beweis ist unter den obwaltenden Verhältnissen, namentlich sofern es sich nur um einen gewöhnlichen Brief ohne Einlage von wichtigen Schriftstücken oder Werthsachen handelt, wohl meistens nicht leicht zu führen.“

Dem Beamten nochmals meinen Dank sagend, begab ich mich jetzt vom Postamte direkt zur „Ressource“ in der Hoffnung, dort vielleicht Gelegenheit zu haben, meinen Namensvetter und Kollegen zu treffen, dessen Chef ein eifriger Besucher der Gesellschaft war und sicher nicht verabsäumen würde, seinen neuen Ingenieur baldigst dort einzuführen.




Meine Hoffnung hatte mich getäuscht. Nur einige wenige alte Bekannte waren am „Räsonnirtische“ versammelt. Ich setzte mich zu ihnen und unterließ nicht, meinen Beitrag zu den Kosten der Unterhaltung durch Mittheilung meiner heutigen „Briefgeschichte“ zu liefern. Inzwischen hatten sich noch einige neu hinzugekommene Herren dem Kreise angeschlossen und wurden nun bald in bunter Reihe „interessante Fälle“ aus der postalischen Praxis der Herren vorgetragen.

„Schändlich,“ sagte der Kommerzienrath, „schändlich, welches Pech ich ’mal wieder gehabt habe. Schickt da meine Frau vor ein paar Monaten ihrer Schwester durch die Post scherzeshalber zwei Flaschen ihres selbstbereiteten Johannisbeerweins. Die Verpackung, das will ich zugeben, mag wohl nicht gerade besonders solide gewesen sein, kurz, die Flaschen zerbrechen unterwegs und der rothe Saft durchdringt unter Anderem auch ein Packet mit einem weißen Atlaskleide. Viel Aerger und Schererei dieserhalb gehabt, meine Herren, und das Ende vom Liede – habe gestern dem Eigenthümer des Kleides 160 Mark Schadenersatz bezahlen müssen. Theurer Wein das, nicht wahr?“

„Das ist ja ärgerlich genug,“ meinte der Herr Kreisrentmeister, „aber doch eine Kleinigkeit gegen den Verdruß, den neulich mein Bruder in Folge seiner Unkenntniß der Posttaxen gehabt hat. Mein Neffe also will sich verheirathen, der Schwiegervater ist Gutsbesitzer auf dem Lande, der Hochzeitstag ist festgesetzt; alle Vorbereitungen sind getroffen und Gäste – wir waren auch dabei – schon Tags zuvor versammelt. Mein Bruder, der erst am Hochzeitstage eintreffen konnte, schickt am Tage vorher noch eine für den Standesbeamten nothwendige Bescheinigung an diesen per Post ab. Damit aber ja keine Verzögerung eintritt, schreibt mein Bruder die sofortige Eilbestellung des Briefes vor, frankirt natürlich den Brief, klebt für Bestellung noch eine 50-Pfg.-Freimarke extra auf und steckt den Brief wohlgemuth in den Postbriefkasten. Der Eilbote mit dem Briefe kommt Abends ins Regenwetter und auf grundlosen Wegen am Bestimmungsorte an, der Standesbeamte jedoch feiert mit der Hochzeitsgesellschaft Polterabend und ist nicht zu Haus. Seine Frau aber, etwas beschränkt und geizig, verweigert die Bezahlung des vom Ueberbringer geforderten Botenlohnes von 1 Mark. Der Bote steckt ruhig seinen Brief wieder bei und wandert den beschwerlichen Weg zum Postamte zurück. Als nun mein Bruder am andern Morgen kommt, wartet der Standesbeamte schon mit Ungeduld auf die noch fehlende Bescheinigung. Die Sache klärt sich jetzt, allerdings in höchst unerwünschter Weise, auf. Ein reitender Bote wird schleunigst zum Postamte geschickt, um den Brief wo möglich zurückzubringen. Jedoch vergebens, der Brief ist bereits wieder nach dem Ausgabeorte gesandt. Die standesamtliche Trauung wie auch die Hochzeit müssen in Folge dessen verschoben werden, einzelne Gäste können

nicht bis zum folgenden Tage, an dem das telegraphisch beorderte Schriftstück zum zweiten Male einging, warten und reisen ab; kurz, die Festfreude war aufs Gründlichste gestört, und weßhalb das Alles? Nun einfach, weil mein Bruder nicht beobachtet

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_458.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2023)