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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

sind. – Sie haben keine Idee, wie niedergeschlagen er ist; und er hat Grund, verdrießlich zu sein, denn sein Benehmen Ihnen gegenüber ist gar nicht zu rechtfertigen. O, ich habe es ihm gestern wieder gesagt, ich fürchte mich nicht vor ihm. Und wenn Sie sähen, wie klein er sich macht! Er ist einen Kopf größer als ich, aber wenn ich Ihren Namen ausspreche, dann sinkt er zusammen und reicht mir nicht bis zur Schulter. Sie wissen, daß er unter keinen Umständen als Ihr Ankläger auftreten wollte. Hätte es in seiner Macht gelegen, so wäre die ganze Sache zurückgezogen worden. Aber es ist gut, daß der Staatsanwalt sich veranlaßt gefühlt hat, auf die Anzeige der Polizei hin gegen Sie vorzugehen; denn Sie müssen die Genugthuung haben, vom Gericht für unschuldig erklärt zu werden. Und das wird geschehen! – Und dann, Büchner, dann versprechen Sie mir, wieder ein vernünftiger Mensch zu werden. Wollen Sie, Büchner? Versprechen Sie es mir!“

Der lange Holländer lächelte traurig. „Sie sind ein guter Freund,“ sagte er.

Jeden Abend um neun Uhr begab sich Büchner zu Frau Onslow, wo er seine Braut antraf und sodann in Gesellschaft der beiden Damen etwa zwei Stunden verblieb. Daß dies geschah, war Frau Onslow’s Werk. Büchner hatte an demselben Tage, an dem er mit Rawlston gebrochen, einen betrübten, aber keineswegs kläglichen Brief an Edith geschrieben und ihr auseinandergesetzt, weßhalb er sich für verpflichtet halte, ihr ihre Freiheit wiederzugeben: als er um sie geworben, habe er geglaubt, sie glücklich machen zu können, wenn sie ihr Schicksal an das seinige knüpfen wolle, nun dürfe er dies nicht mehr hoffen, denn er sei plötzlich ein unglücklicher Mensch geworden. Er sage ihr Lebewohl, und er bitte sie, ihm ein gutes Andenken zu bewahren. Als Antwort hatte er auf einer offenen Karte den kurzen Bescheid von Frau Onslow erhalten, sie bitte ihn, am Abend um neun Uhr im engsten Kreise den Thee bei ihr einzunehmen. – Büchner war erschienen und hatte Herrn und Frau Onslow angetroffen, von denen Ersterer nach kurzer, herzlicher Begrüßung wieder verschwunden war, wogegen die Dame des Hauses ihm eine längere Rede gehalten hatte, um ihm klar zu machen, daß in seinem Verhältniß zu Edith nichts geändert werden dürfe.

„Wofür halten Sie denn meine junge Freundin? – Für ein leichtfertiges Geschöpf, das ihr Herz heute giebt und morgen zurücknimmt? Man sieht, daß Sie ein Europäer sind, der nicht ahnt, was ein ordentliches amerikanisches Mädchen werth ist. Edith wird Sie nicht verlassen, sie hat sich Ihnen versprochen und sie gehört Ihnen. Ihr Glück liegt da, wo ihr Herz und ihre Pflicht sie hintreiben: bei Ihnen. – Herr Büchner, es giebt eine Art schlecht verstandenen Edelmuthes, der in seinen Folgen ebenso traurig ist wie beabsichtigte Bosheit. Wenn Sie Edith jetzt verlassen wollen, nachdem sie Ihretwegen mit James gebrochen hat und mit der ganzen Welt brechen würde, so wäre das eine schlechte Handlung, gleichviel ob Edelsinn oder Feigheit Sie dazu triebe. Seien Sie ein Mann! Sagen Sie nicht: Alles ist verloren. Das soll ein Mann, der das gute Recht auf seiner Seite hat, nicht thun. Kämpfen Sie bis zum Ende um das höchste Gut, das Ihnen auf Erden beschieden ist: um ein reines, treues Frauenherz.“

Es bedurfte nicht so langer Reden, um Büchner zu überzeugen. Er wünschte nichts sehnlicher, als was Frau Onslow ihm aufdrang. Er drückte ihr tief bewegt die Hand und sagte: „Ich danke Ihnen.“

Darauf erhob sich Frau Onslow triumphirend und kehrte nach wenigen Minuten mit Edith zurück, die blaß und niedergeschlagen aussah, aber deren Wangen sich rötheten und deren Augen aufleuchteten, als Büchner ihre kleine Hand nahm, sie sanft streichelte und dazu leise sagte: „Mein ganzes Leben kann Ihnen nicht für diese Stunde danken.“

Ja, Edith fühlte sich glücklich. Ihre Liebe zu Büchner hatte, ohne sein Zuthun, in wenigen Tagen erstaunliche Fortschritte gemacht. Das unverdiente Unglück, unter dem sie ihn leiden sah, machte ihn in ihren Augen nur noch liebenswerther. Ihr ganzes Streben war darauf gerichtet, ihm sein schweres Los zu erleichtern und es ihn womöglich vergessen zu machen.

„Du bist zu gut, meine Edith,“ sagte er. „Wie kann ich es Dir je vergelten?“

„Warte nur,“ antwortete sie lächelnd, „bis Du wieder sorglos und heiter bist, dann werde ich Dich schon genug quälen. Du sollst mit schweren Zinsen zurückzahlen, was Du jetzt empfängst.“

Wenn Büchner am Abend den dunklen Wussongfluß entlang über den verödeten „Bund“ nach seiner entfernten Wohnung heimkehrte, dann dachte er darüber nach, was Edith ihm gesagt hatte. Konnte er je wieder froh werden?

Der Wussong ist ein breiter, tiefer Strom. Inmitten einer baumlosen sumpfigen Ebene wälzt er seine gelben, schlammigen Wasser dem riesigen Yang-tse-kiang zu. Zur Zeit der Ebbe, die sich bis weit hinter Shanghai fühlbar macht, verfolgt er in wilder, wüthender Hast, gurgelnd und zischend, seinen mächtigen Lauf. Dies Gurgeln und Zischen schien einen eigenthümlichen Reiz für den langen Holländer zu haben, denn oftmals blieb er stehen und lauschte dem unheimlichen Getöse. – Konnte er je wieder froh werden? – In seiner Wohnung angelangt, entkleidete er sich langsam und suchte das Lager; aber er fand keine Ruhe. Dann erhob er sich wieder und trat auf die Veranda. Dort hörte er das Rufen des dunkeln Stromes! Ueber ihm breitete sich der tiefe, mit unzähligen Sternen besäete Nachthimmel. Und sein Blick richtete sich immer und immer wieder auf einen und denselben Stern, der im Zenith, aus unergründlichen Fernen in kaltem, ruhigem, wunderbarem Lichte auf ihn herabstrahlte. Mit welchen Gedanken sich seine Brust dabei füllte, das kann kein Mensch wissen; aber sie mußten bitter und schwer sein, denn er blickte in solchen Augenblicken hilflos, verzweifelt um sich, und dann sank er ganz geknickt zusammen und stöhnte laut. – Wenn er nur Ruhe finden, wenn er nur schlafen könnte! – Er trat in das Zimmer zurück, füllte ein großes Glas mit Brandy und leerte es. Dann steckte er einen Cheroot an und begann zu rauchen. Die Augen wurden ihm schwer, und er schloß sie. – Aber plötzlich fuhr er aufgeschreckt in die Höhe. – Wer hatte ihn gerufen? – Tiefe Stille ringsumher. Das ununterbrochene Gurgeln und Zischen des dahinschießenden Wussong, das deutlich vernehmbar war, gehörte zu der Stille der Nacht. – Er trank ein zweites Glas Brandy und dann warf er sich auf sein Lager, wo er in schweren unerquicklichen Schlaf versank, aus dem er am Morgen mit einer Last auf dem Herzen und dumpfem Kopfschmerz erwachte. – So lebte er nun seit drei Wochen, und es fiel Allen auf, wie sehr er sich in dieser kurzen Zeit verändert hatte, wie sehr er gealtert war.

Auch James Rawlston war nicht mehr der Alte. Freude und Jugend hatten sein Haus mit Edith verlassen. Verdrießlich verbrachte er den Tag in seinem Arbeitszimmer, verdrießlich saß er des Abends einsam bei Tische, von stummen, gleichgültigen Dienern umgeben, und verdrießlich bis spät in die Nacht hinein auf der Veranda, allein mit unerfreulichen Gedanken. Denn Büchner’s Freunde ließen ihn fühlen, daß sie sein Benehmen diesem gegenüber mißbilligten. Sie vermieden ihn. Er war zu stolz, Annäherungsversuche zu machen, und so blieb er allein, vereinsamt in dem großen Hause, in dem noch vor wenigen Wochen mit und um Edith frisches, junges Leben geherrscht hatte. Von Zeit zu Zeit ließ er Herrn Wallice oder Herrn Prati bitten, mit ihm zu speisen. Herr Wallice erschien mit dem Glockenschlage sieben, in schwarzem Frack und tadelloser, weißer Binde. Er aß und trank guten Appetits und war in dieser Beziehung ein vorzüglicher Tischgenosse, aber er sprach unaufgefordert kein Wort, und er hatte ein eigenthümliches Talent, auch verwickelte Unterhaltungsgegenstände durch kurze Antworten zu erschöpfen. Die langen Pausen, die oftmals eintraten, machten Rawlston geradezu verlegen, Herr Wallice schien sie nicht zu bemerken, sondern saß, wenn er nicht mit Essen beschäftigt war, kerzengrade hinter seinem Teller, den Blick sinnend auf die Blumen gerichtet, die in der Mitte des Tisches standen. – Prati war eine redseligere, aber deßhalb für Rawlston nicht gerade angenehmere Gesellschaft, denn er schien sich die Aufgabe gestellt zu haben, seinem Vorgesetzten Vorwürfe über dessen Benehmen Büchner gegenüber zu machen; und zwar wußte er dies in so höflicher Form zu thun, daß Rawlston, der an seinem Tische einem Gaste gegenüber artig bleiben wollte, ihn nicht zur Ruhe verweisen und dem Gespräch eine andere Wendung geben konnte.

„Was verlangen Sie eigentlich von mir?“ fragte Rawlston eines Abends, nachdem Prati sich wieder in der ihm eigenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_470.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)