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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Prachtstück“ von Marlittsheim, ein uralter Schreibtisch mit Aufsatz und Kommode, gar kunstvoll ausgelegt, von Meisterhand gearbeitet und hell polirt; die Messingbeschläge blitzen geheimnißvoll: sie schmücken ja einen Reliquienschrein; in seinen Fächern und Kästen und im glasthürverschlossenen Mittelfach liegen sie alle, die vergilbten, verblichnen, verwelkten und doch so beredten Erinnerungszeichen vergangener Tage; auch jenes schlichte, braune Buch, das „Herbarium“, hatte darin seinen Platz. Bilder hängen zu des Schrankes Seiten, auch ein kleines von Freundeshand schlicht gemaltes Mädchenstübchen – Marlitt’s Wohn- und Studirzimmerchen in Wien. Die Mittelthür vom Flur und die an der südlichen Wand, vom Salon herüber, verhüllen braune Portièren; die Ecke zwischen beiden füllt der große, weiße Porcellanofen und neben diesem steht ein brauner „Großvaterstuhl“, in welchem Marlitt’s greiser Vater zu sitzen pflegte, wenn er manchmal während des Tages die fleißig schaffende Tochter zu „stören“ kam.

In Wirklichkeit störte er nie; sie saß arbeitend auf ihrem braungepolsterten Fahrstuhl vor dem Schreibtisch; am zweiten Fenster nach Osten, der gemüthlichen Ofenbank gegenüber, steht dieser Tisch. Er erscheint ein Bischen derb für Damendienst; seine lederüberzogene Platte trägt das große hübsch ausgelegte Schreibzeug – ein Geschenk der Fürstin – und alle nöthigen Schreibutensilien; daneben liegen Hof- und andere Kalender, Uhr und Thermometer, das Fernglas, welches ihre geliebten, bewaldeten Berge näher rückt; zu jeder Jahreszeit aber schmückt ihn eine Fülle von Blumen und Blümchen, welche Bruderhand für die Schwester gezogen, oder welche Nichten aus Wald und Feld, manchmal auch für schwer erübrigte Sparpfennige herbeigetragen. Zur Linken das große Buch mit gelbem Hängeschloß ist der Manuskriptenkasten, zu welchem der Schlüssel an seidener Schnur nie von Marlitt’s Halse kam.

Eugenie John.
Nach dem Gipsrelief ihres Bruders Hermann John
aus dem Jahre 1849.

Manchmal, mitten im Schreiben, fächelte und nickte sie nach dem Vater oder sonst einem ihr lieben Gesicht hinüber oder sie blickte zur Linken: dort zwischen den beiden Fenstern hängt über einer Marmorkonsole der „Verräther“, ein großer Spiegel, der alles draußen Vorüberhuschende, -gehende und -fahrende getreu vor ihre Augen hinmalte. Rechts, von dem epheuumrankten Gestelle sowie von der braun und weiß tapezierten Wand herab grüßten sie die Bilder ihrer Lieben – Vater und Mutter in Pastell, von Ersterem gefertigt, Bruder, Schwester, die längst verstorben; dort hängen auch zwei kleine Gemälde aus Elfenbein, von der Künstlerhand des Vaters dereinst gemalt. Unter ihnen erblicken wir einen zweiten hellpolirten Schreibtisch ohne Aufsatz; er ist der treueste Freund früherer Tage, scheint aber seine einstige Bestimmung vergessen zu haben; denn willig beut er seine Fläche mancherlei Kästen und Vasen und Bildergestellen mit Ansichten aus dem bayerischen Gebirge, wo die Dichterin so oft und gern mit der Fürstin geweilt, und vor Allem der wohlgetroffenen Photographie Ernst Keil’s.

Eigenartig war Marlitt’s Schaffen. Des Morgens im Bett schrieb sie auf einzelne Blätter mit Bleistift und am Nachmittage wurde das Geschriebene verbessert sogleich ins Reine übertragen. Das geschah in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch. So fest und stilfertig waren diese Reinschriften, daß fast nie eine Korrektur vorkam.

Aber wie sicher verwahrte die Dichterin ihr entstehendes Werk vor jedem fremden Auge! Der Bruder und die Schwägerin, die doch Beide sonst in engstem, herzinnigem Verkehr, in regem Gedankentausch mit ihr lebten, wußten nie mehr als den Titel des neuen Werkes, oft diesen nicht.

Als einmal ein von der Dichterin beschriebenes Blatt ihren Händen entglitt und zu Füßen ihrer Schwägerin niederfiel, hob diese es auf und warf unwillkürlich einen flüchtigen Blick darauf. Sofort zerriß Marlitt das Blatt: so sehr störte es sie, wenn ein Wort ihrer Arbeit verrathen worden war. Sie ging sehr vorsichtig zu Werke; alle beschriebenen Blätter wanderten in den erwähnten Manuskriptenkasten. War aber das Manuskript vollendet, dann kamen für die treuen, geduldig Ausharrenden wahrhafte Feierstunden von inniger, unbeschreiblicher Schönheit: die Lese-Abende!

Punkt halb acht Uhr rollt der Fahrstuhl in das Arbeitszimmer herein – Marlitt hält das Buch mit dem Manuskript auf dem Schoße. Das Schloß wird geöffnet und der Titel klingt von ihren Lippen! Nach so langer Zeit der Spannung endlich die Enthüllung! Getragen von der Poesie ihres eigenen Schaffens, ihr klangvolles, wunderbar biegsames Organ jeder Wendung anschmiegend, reißt die Vorleserin die Herzen mit sich fort, hinauf, hinab, durch Schmerz und Freude. Sie liest prachtvoll; wie ausdrucksvoll ist diese Aussprache, wie tief dieses Verständniß und Gefühl! An der spannendsten Stelle schließt sie mit übermüthigem Lachen, ihr kleines Publikum auf „morgen Abend“ vertröstend.

Diese an Freuden und Ehren so reiche Dichterlaufbahn wurde vor einigen Jahren durch einen schrecklichen Zwischenfall unterbrochen. In der Zeit, als Marlitt an ihrem letzten Roman „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“ schrieb, weilte sie einmal, wie öfter; in dem Thurmzimmer ihrer Villa. Als sie dann in ihrem neuen Tragstuhl heruntergetragen wurde, kam sie zu Fall und stürzte zu Boden. Schwer krank mußte sie lange Zeit ihren Beruf ganz unterbrechen. Von diesem Fall hat sie sich nie wieder erholt. Die Vollendung dieses Romanes war ein Kraftstück geistigen Sieges über den Schmerz. Trotzdem füllte schon wieder Blatt um Blatt die geheime Mappe, als sie im Oktober vorigen Jahres an einer Rippenfellentzündung erkrankte, zu der sich später ein Magenleiden gesellte. Dasselbe wurde zwar durch Massage momentan gelindert, wiederholte sich aber öfter. So währten die Leidenstage fort, bis zuletzt bei der schweren Erkrankung Bruder und Schwägerin kaum von ihrem Schmerzenslager wichen. Der Name des geliebten Bruders „Alfred!“ war ihr letztes Wort.

Zeugnisse der tiefen Trauer, die ihr Tod überall erweckt, nicht nur in den höheren Kreisen, sondern auch beim Volk, sind die vielen Sendungen von Sarg- und Grabschmuck und von Briefen und Gedichten aus allen Kreisen. – Marlitt’s Wirken war volksthümlich, haben wir in der Einleitung gesagt, und in der That, die meisten Beileidsbriefe von unbekannten Lesern, welche sowohl der trauernde Bruder wie auch die Redaktion der „Gartenlaube“ erhalten hatten, entstammen einfachen Bürgerhäusern und schlichten Arbeiterhänden. Dort hat sie ja den meisten Sonnenschein verbreitet, und dies ist ihr herrlichstes Verdienst.

Aber auch aus fernen Ländern kommen Worte der Trauer und des Beileids, und an den Gestaden Neapels singt Woldemar Kaden der Marlitt nach:

„So lange deutsche Lenze blüh’n,
Wird Dein Geschaffnes blühen;
So lange junge Herzen glüh’n,
Und segnend übers Grab hinaus
Gehst Du noch spät von Haus zu Haus!“

Noch einmal wird die Feder Marlitt’s die Spalten der „Gartenlaube“ schmücken; denn wir können allen unseren Lesern und Leserinnen die erfreuliche Nachricht geben, daß die Dahingegangene ihren letzten Roman „Das Eulenhaus“ zwar nicht vollendet, aber doch so weit gefördert hat, daß derselbe in ihrem Sinne von einer dazu berufenen Kraft vollendet werden kann. Wir sind bemüht, dieser uns von der Verstorbenen überkommenen Verpflichtung in pietätvoller Weise gerecht zu werden, und können unseren Lesern schon heute mit Sicherheit versprechen, daß das hinterlassene Werk E. Marlitt’s spätestens zu Anfang des nächsten Jahres erscheinen wird.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_476.jpg&oldid=- (Version vom 29.7.2023)