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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

wäre es mir unmöglich, nicht daran zu denken, wenn ich ihn sähe; und so lange ich dies fühle, ist es besser, wir gehen ein Jeder unsere eigenen Wege.“

Rawlston fühlte sich so unglücklich über die Wendung, welche die Dinge genommen hatten, daß er eines Tages den Entschluß faßte, China auf längere Zeit zu verlassen. Es schmerzte ihn, daß er an dem Tage der Verheirathung seiner Schwester in Shanghai sein sollte, ohne der Vermählung beizuwohnen, und er bereitete sich darauf vor, nach Amerika abzusegeln. Dort und in Europa wollte er ein Jahr oder länger verweilen. Während seiner Abwesenheit überließ er seinen Vertrauensmännern, den Herrn Wallice und Prati, die Leitung des Geschäfts. Er wußte, daß er sich auf die Sachkenntniß, Vorsicht und Ehrlichkeit dieser bewährten Diener seines Hauses vollständig verlassen konnte. Zwei Tage vor der Abreise schrieb er einen herzlichen Brief an Edith. Er sagte darin: er wäre sich nicht bewußt, ihr ein Unrecht zugefügt zu haben. Was er gethan, das sei aus Liebe für sie, aus Furcht, sie könne unglücklich werden, geschehen. Wenn er sie dadurch beleidigt habe, so betrübe ihn das in tiefster Seele, denn es lebe Niemand auf der Welt, der ihm seine Schwester je ersetzen könnte; sie werde in ihm stets einen treuen Bruder finden, und er bäte sie, ihm eine gute Schwester zu bleiben.

In der Dunkelheit ließ sich Edith durch Frau Onslow zu ihrem Bruder begleiten. Tief verschleiert, so daß sie von den Dienern nicht erkannt wurde, betrat sie sein Zimmer, während Frau Onslow in einem Nebengemach auf sie wartete. Sie fiel ihm um den Hals und sagte:

„Nur wenige Worte, James. Zwischen uns Beiden kann kein Haß leben. Ich bin und bleibe Deine treue Schwester. Aber das darf heute Niemand wissen als Du und ich und Frau Onslow. Lebe wohl! Auf Wiedersehen! Möge es Dir nur gut gehen!“

„Ein Wort, Edith,“ sagte Rawlston.

„Nein, James, laß mir meinen Frieden! Es ist unrecht von mir, daß ich ohne Georg’s Erlaubniiß zu Dir gekommen bin. Aber ich konnte nicht anders; es war mir unmöglich, Dich scheiden zu sehen, ohne mich mit Dir versöhnt zu haben. Aber weiteres Unrecht will ich nicht thun. Also lebe wohl, mein lieber, lieber Bruder!“ – Sie umarmte ihn noch einmal. „Schreibe an Georg, aber sprich nicht von unserer Zusammenkunft!“ Und gleich darauf war sie verschwunden. – Der Auftritt hatte kaum zwei Minuten gedauert.

Zwei Tage später brachte Prati dem langen Holländer einen Brief. Dieser erkannte auf der Adresse die Handschrift Rawlston’s und behielt das Schriftstück unentschlossen in der Hand, die leise zitterte.

„Nun, lesen Sie nur! Unangenehmes enthält das Schreiben nicht. so viel ist gewiß. Rawlston ist heute früh nach Kalifornien abgesegelt.“

Darauf erbrach Büchner den Brief. Derselbe enthielt folgende Zeilen:

„Geehrter Herr! Ich will Shanghai nicht verlassen, ohne Ihnen zu Ihrer bevorstehenden Vermählung mit meiner Schwester meine Glückwünsche darzubringen. Das Schicksal hat Sie in letzter Zeit hart angegriffen; aber indem es Ihnen die Liebe Edith Rawlston’s gab, war es gütig für Sie, und dessen freue ich mich. Glauben Sie an meine unveränderliche freundschaftliche Gesinnung. – Aufrichtig der Ihrige J. R.“

In Büchner’s Gesichte bewegte sich während des Lesens dieses Briefes keine Muskel. Prati, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, schien etwas Anderes erwartet zu haben und sagte verdrießlich:

„Es ist wirklich nicht leicht, Sie zufrieden zu stellen.“

Büchner sah seinen Freund eine Weile groß und stumm, abwesenden Blickes an, dann erwiederte er leise: „Es kann nie wieder gut werden.“ Daraus fuhr er, wie im Selbstgespräch, fort: „Heute Nacht träumte mir, ich sei verurtheilt worden und säße im Gefängniß. Das war auch nicht schlimmer, als was da ist. – Am liebsten wäre ich ganz allein, weit von hier, und sähe Niemand, der mich kennt.“

„Wie können Sie so undankbar und ungerecht sein! Auch Edith Rawlston möchten Sie nicht mehr sehen?“

„Es wäre besser für sie, ich sähe auch sie nicht wieder,“ sprach er finster.

Er erhob sich langsam, strich sich mit der Hand über die heiße Stirn und näherte sich dem Buffet, auf dem die Flasche stand. Prati folgte seinen Bewegungen mit aufmerksamen Blicken. Der lange Holländer nahm wieder einmal eine starke Dosis der von ihm beliebten Medicin gegen Unruhe und Traurigkeit.

„Sie trinken reinen Brandy bei dem heißen Wetter?“ bemerkte Prati. „Thun Sie das nicht, Sie schaden Ihrer Gesundheit. Ich trinke nie etwas Aufregenderes als Rothwein und Wasser.“

Büchner hatte das Glas bedächtig geleert und athmete befriedigt auf. „Ich trinke auch nichts Aufregendes, lieber Freund,“ sagte er in einem ganz anderen, in einem freundlichen Tone – „Beruhigendes!“

„Aber Brandy kann Sie doch nicht beruhigen!“ Der Andere nickte verschiedene Male und blinzelte dabei verständnißvoll mit den Augen, worauf Prati sich mit sorgenschwerem Gesicht entfernte. Die Zuneigung, die der Italiener zu dem langen Holländer gefaßt hatte, war geradezu rührend, und dabei war Prati nicht etwa ein Mensch, der sein Herz auf der Hand Jedermann entgegentrug; er war im Gegentheil ein recht zurückhaltender kleiner Mann, der wohl wegen seiner Höflichkeit und Gefälligkeit beliebt, aber eigentlich, ehe seine Zuneigung zu Büchner so zu Tage getreten war, keinen intimen Freund im ganzen „Settlement“ gehabt hatte.

Wenige Tage später fand die Vermählung zwischen Edith Rawlston und Georg Büchner in Frau Onslow’s Hause statt. Auf Büchner’s Wunsch waren nur wenige Einladungen zu der Feier ausgesandt worden, aber Prati hatte dabei natürlich nicht gefehlt. – Das junge Paar machte eine Hochzeitsreise von vier Wochen nach Nagasaki und kehrte sodann nach Shanghai zurück. Prati und Frau Onslow benutzten diese Zeit, um die neue Wohnung einzurichten, die Büchner in einem stillen Viertel der fremden Niederlassung gemiethet hatte. Es war ein hübsches, neues, kleines Haus, das Prati vor etwa sechs Monaten gekauft und das er seinem Freunde zu einer verhältnißmäßig billigen Miethe überlassen konnte. Er hatte nämlich mit dem Ankauf des Hauses ein gutes Geschäft gemacht, und es lag ihm besonders daran, einen ordentlichen Miether dafür zu finden. Er konnte sich deßhalb mit einem bescheidenen Zins begnügen. Büchner war mit dieser Anordnung wohl zufrieden, denn er mußte sich zunächst einfach einrichten. Das kleine Vermögen von achttausend Dollars, das er sich erspart hatte, lag auf dem amerikanischen Konsulat „zur freien Verfügung der Herren Rawlston & Co.“, und er hatte, seitdem er seine alte Stelle verlassen, noch keine Beschäftigung gefunden. Das machte ihm jedoch wenig Sorge. denn er hatte nur zu wählen zwischen einem halben Dutzend guter Anstellungen, die ihm angeboten waren, und wußte, daß er jeden Tag mit Leichtigkeit so viel verdienen könnte, wie er gebrauchte, um mit Edith ohne Geldsorgen zu leben. Einstweilen machte er ruhig von dem Kredit Gebrauch, den Prati ihm als etwas ganz Selbstverständliches eröffnet hatte. Alle diejenigen seiner Bekannten, die wohlhabend genug dazu waren, hätten dasselbe gethan, denn man war damals in Geldsachen nicht kleinlich in Shanghai, wo das Geschäft blühte und das Geld sozuagen auf der Straße lag.

Edith’s Mitgift betrug fünfzigtausend Dollars. Sie hatte darüber freie Verfügung, denn dies Geld war ihr Antheil aus der Hinterlassenschaft der verstorbenen Eltern. Büchner hatte mit seiner Braut nie ein Wort über deren Vermögensverhältnisse gewechselt. Erst als es sich darum handelte, den Heirathskontrakt aufzusetzen, kam die Sache zur Sprache. Der amerikanische Konsul, ein scharfer Geschäftsmann, stellte nach kurzer Unterredung mit Büchner und dessen Braut fest, wie die Sachen lagen: Edith besaß, wie gesagt, bare fünzigtausend Dollars – Büchner schuldete an Prati etwa dreitausend. Das Mißverhältniß war so groß, daß Büchner darüber eine gewisse Beschämung empfand und dem Konsul, der den Heirathskontrakt aufsetzen wollte, erröthend sagte, selbstverständlich werde das Vermögen seiner Frau deren Privateigenthum bleiben.

„Also keine Gütergemeinschaft?“ fragte der Konsul schnell.

„Nein, sicherlich nicht!“

Edith erhob dagegen zunächst lebhaften Einspruch. Der Konsul schwieg dazu und saß, die Augen geschlossen, anscheinend theilnahmlos da, während das junge Mädchen mit Entrüstung den Gedanken zurückwies, daß zwischen ihr und Büchner in Zukunft nicht Alles gemeinschaftlich sein sollte. Aber Frau Onslow hatte richtiges Verständniß für die Empfindungen ihres Günstlings und sagte ruhig und ernst: „Edith, Du mußt nachgeben. Was Herr Büchner vorschlägt, gereicht ihm zur Ehre und ist recht. Erschwere ihm nicht, seine Pflicht zu thun.“ Darauf wurde die Angelegenheit so geregelt, wie Büchner es gewünscht hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_486.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)